Wenn du erzählst, erblüht die Wüste

  • Roman
  • von Rafik Schami
  • Hanser Verlag, August 2023 www.hanser-literaturverlag.de
  • gebunden mit Schutzumschlag
  • 480 Seiten
  • 26,00 € (D), 26,80 (A)
  • ISBN 978-3-446-27746-5

Wenn du erzählst, erblüht die Wüste
G E S C H I C H T E N M E D I Z I N

Rezension von Ulrike Sokul ©

In seinem neuen Roman „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“ setzt Rafik Schami der Tradition des orientalischen mündlichen Erzählens ein vielschichtiges, farbenfrohes und würdigendes Denkmal.

König Salih, Herrscher des Landes Sitt Hudud, sucht nach einem Heilmittel für die Schwermut seiner einzigen Tochter Jasmin. Die in Aussicht gestellte fürstliche Belohnung lockt zahleiche alte und junge Glücksritter an, aber niemandem gelingt die Aufheiterung der Prinzessin.

Karam, ein Hakawati (Kaffeehauserzähler), der aus dem Nachbarland aus politischer Haft geflohen ist und in Sitt Hudud bei seiner Tante Zuflucht gefunden hat, wird beim König vorstellig und unterbreitet ihm einen eigenwilligen Vorschlag.

Er wolle die Prinzessin durch Geschichtenerzählen heilen, doch er möchte nicht der einzige Erzähler sein; sondern alle Menschen, die eine Geschichte zu erzählen haben, sollen zu Wort kommen. Seine Funktion sei es, für die Erzählabende ein Thema vorzu-geben, eine einleitende Geschichte zu erzählen und anschließend andere Erzählwillige mit einer kurzen Anmoderation ihre Geschichte erzählen zu lassen.

Der König und die Prinzessin stimmen Karams Anregung zu und stellen für dieses Vorhaben den Festsaal des königlichen Palastes zur Verfügung.

„Karam glaubte fest daran, wenn man anderen Glück bringt, bleibt etwas Glück am Überbringer haften.“ (Seite 28)

In den folgenden zehn Nächten erscheinen viele Zuhör- und Erzählwillige im Festsaal und offerieren ein weites Spektrum erzählerischer Kunst. Zu den Themenkreisen Mut und Feigheit, Geiz, Neid und Gier, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Freundschaft und Feindschaft, Aberglaube und Vernunft, Liebe und Weisheit usw. wird sowohl inhaltlich als auch stilistisch abwechslungsreicher Erzählstoff geboten. Es gibt klassische Märchen, Fabeln, überlieferte Familienerinnerungen und Anekdoten.

Zwischen den Geschichten bleibt ein assoziativ-verknüpfender Spielraum für lebhafte und oft amüsante Dialoge zwischen Karam und den verschiedenen Erzählerinnen und Erzählern – das Publikum wird gewissermaßen interaktiv mit einbezogen. Mal wird kurz und konzentriert erzählt, mal umherschweifend ausführlich, mal gibt es großen App- laus, mal nur verhaltenen, es wird gejubelt, gelacht und gemurrt – doch stets darf jeder ununterbrochen ausreden und seine Geschichte vollenden.

Die ebenso lebensnahen wie märchenhaften Geschichten illustrieren einen viel- stimmigen Chor menschlicher Stärken und Schwächen. In den spannenden Erzählungen setzen sich früher oder später Dankbarkeit, Demut, Freiheit und Liebe gegen Gleich- gültigkeit, Arroganz, Unterdrückung und Feindschaft durch. Warmherzigkeit, Groß- zügigkeit, Humor, Weisheit und genüßliche Lebensbejahung sind die durchgehenden Wertekoordinaten, die hier anschaulich dargestellt und angeregt werden

Während der Lektüre empfiehlt es sich, zumindest guten Kaffee oder Tee nebst einigen orientalischen Knabbereien und Delikatessen zur Hand zu haben. Denn in den Zwischen-räumen des Erzählens und der Fortführung der Rahmenhandlung wird sehr köstlich geschmaust, und die Speisen und Spezereien werden so sinnlich beschrieben, daß mir mehr als einmal der Mund wäßrig wurde. 

Rafik Schami erweist sich mit „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“ erneut als wunder-barer, leseliebenswerter Übersetzer orientalischer Erzählkunst ins Deutsche. Mit seiner wohlgeformten und feingewürzten Sprache berührt und weitet er wieder und wieder ganz unmittelbar des geneigten Lesers Herz.

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/rafik-schami-wenn-du-erzaehlst-erblueht-die-wueste-9783446277465-t-3984
Hier entlang zur ungekürzten Hörbuchausgabe:
https://www.sprechendebuecher.de/hoerbuecher/wenn-du-erzaehlst-erblueht-die-wueste-9783987360633/

Der Autor:

»Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren und lebt seit 1971 in Deutschland. Sein umfang-reiches Werk wurde in 33 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so u.a. mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Preis „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis und der Carl-Zuckmayer-Medaille. Im Hanser Kinder- und Jugendbuch erschien u.a. Das ist kein Papagei (illustriert von Wolf Erlbruch, 1994), Die Sehnsucht der Schwalbe (2000), Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm (2003, illustriert von Ole Könnecke), Der Kameltreiber von Heidelberg (2006, illustriert von Henrike Wilson), Das Herz der Puppe (2012, illustriert von Kathrin Schärer), Meister Marios Geschichte (2013, illustriert von Anja Maria Eisen), Elisa oder Die Nacht der Wünsche (2019, illustriert von Gerda Raidt); im Erwachsenenprogramm des Verlages Die dunkle Seite der Liebe (Roman, 2004), Das Geheimnis des Kalligraphen (Roman, 2008), Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte (2011), Sophia oder Der Anfang aller Geschichten (Roman, 2015), Die geheime Mission des Kardinals (Roman, 2019), Mein Sternzeichen ist der Regenbogen (2021) und Wenn du erzählst, erblüht die Wüste (Roman, 2023).«

Querverweis:

Hereinspaziert in mein Lieblingsbuch von Rafik Schami: „Der Erzähler der Nacht“Erzähler der Nacht
Hier entlang zu: „Das große Rafik Schami Buch“ Das große Rafik Schami Buch
Und hier klopft „Das Herz der Puppe“, ein Buch voller Alltag und Wunder, spielerischem Tiefsinn und poetischer Phantasie, das von Rafik Schamis lebendigem Kinderherzen zeugt. Ich lege es Lesern von acht bis achtundachtzig Jahren ans Herz: Das Herz der Puppe
Hier entlang zu Rafik Schamis Kinderbuch „Meister Marios Geschichte“, in der sich Marionetten als Freiheitskämpfer entpuppen: Meister Marios Geschichte
Und hier entlang zu Rafik Schamis berühmtem Bilderbuch „Der Wunderkasten“,

das von der Zauberkunst handelt, mit Worten zu malen und Kinder zu lehren, mit dem Herzen zu sehen: Der Wunderkasten

Ein Teufel stirbt immer zuletzt

  • Der Donnerstagsmordclub
  • oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt
  • 4. Band der MORDCLUB-Serie
  • von Richard Osman
  • Originaltitel: »The Last Devil To Die«
  • Aus dem Englischen von Sabine Roth
  • List Verlag, November 2023  www.ullstein.de
  • Klappenbroschur
  • 432 Seiten
  • 17,99 € (D), 18,5 € (A)
  • ISBN 978-3-471-36051-4

LEBEN  UND  STERBEN  LASSEN

Rezension von Ulrike Sokul ©

Wieder habe ich das nicht unbeträchtliche Vergnügen, Ihnen einen neuen Fall des Donnerstagsmordclubs leseschmackhaft zu machen. Für jene, die mit den Charakteren dieser Krimiserie noch nicht vertraut sind, folgt nun eine kurze Vorstellungsrunde: Die Mitglieder des Donnerstagsmordclubs leben in Coopers Chase, einer Seniorensiedlung in der Grafschaft Kent, und sie gehen einer spannenden und anspruchsvollen Freizeitbe-schäftigung nach, die den Reiz von Bridgespielen, Puzzlelegen und Teetrinken weit übersteigt – sie klären ungelöste Kriminalfälle auf.

Folgende Mitglieder gehören dem Club an: Die optimistische Joyce Meadowcroft, passio-nierte Kuchenbäckerin und ehemalige Krankenschwester, die strenge, mißtrauische Elizabeth Best, ehemals Geheimagentin, der lautstarke und handfest zupackende Ron Ritchie, ehemaliger Gewerkschaftsführer, auch als der „Rote Ron“ betitelt, sowie der elegante, feinsinnige Ibrahim Arif, ein Psychiater im Ruhestand, der gleichwohl nach wie vor das eine oder andere therapeutische Gespräch anbietet.

Als deutlich jüngerer Außendienstmitarbeiter und zuverlässiger Freund fungiert der fast lückenlos tätowierte Bogdan Jankowski, seines Zeichens polnischer Universalhand- werker, Schachspieler und Pünktlichkeitsfanatiker sowie zielsicher-waffenumgangs- kundiger Chauffeur.

Die vier rostig-rüstigen Privatermittler aus Coopers Chase haben diesmal sehr persön-liche Gründe, einen ganz bestimmten Mord aufzuklären. Denn ein guter Freund, der Antiquitätenhändler Kuldesh Shamar, wurde kaltblütig ermordet, und die offizielle Polizei ist mal wieder bei weitem nicht so findig, wie es dem Donnerstagmordclub wünschenswert erscheint.

Kurz nach den Weihnachtsfeiertagen hatte ein teuer gekleideter Mann Kuldeshs Anti-quitätengeschäft betreten und ihm für einen Fünfziger ein altes, häßliches Terrakotta- gefäß verkauft – mit der Maßgabe, dieses Gefäß bis zum nächsten Tag unter der Theke wohl zu verwahren und es dann einem eingeweihten Käufer für fünfhundert Pfund weiterzuverkaufen. Kuldesh wußte aus Erfahrung, daß in solchen Fällen Widerstand zwecklos bzw. lebensgefährlich wäre und spielte mit. Es war keine Frage für Kuldesh, daß dieses Gefäß vermutlich Heroin oder Kokain enthält.

Auch der Antiquitätenhandel bewegt sich manchmal am Rande der Legalität. „Idealismus auf der einen Seite, kriminelle Energie auf der anderen, das ist der Stoff, aus dem der Antiquitätenhandel ist.“ (Seite33)

Warum und von wem wurde Kuldesh erschossen? Und wo hat Kuldesh vor seinem Tod das verdammte Terracottakästchen unauffindbar raffiniert versteckt?

Hier ist Drogenhandelskompetenz gefragt, und der Psychiater Ibrahim nutzt seine wöch-entliche Therapiesitzung mit der Drogengroßhändlerin Connie Johnson, die vor einiger Zeit vom Donnerstagsmordclub ins Gefängnis manövriert wurde (siehe Band 2 Der Mann, der zweimal starb), um Erkundigungen und fachkundige Ratschläge einzuholen sowie um taktische Gerüchte in Umlauf zu bringen.

Die unkonventionellen Ermittlungen des Donnerstagsmordclubs führen schließlich vom Drogenschmuggelmilieu in die Kunstfälscherszene. Die Drogenganoven suchen den Inhalt des Kästchens und jemand anderes offenbar das Kästchen selbst.  

Diesmal ist Joyce die führende, ja, geradezu todesmutige Kraft bei den amateurdetek-tivischen Nachforschungen des Mordclubs. Denn Elizabeth zieht sich angesichts der rapide fortschreitenden Demenz ihres Mannes Stephen etwas zurück. Sie muß schwere Entscheidungen treffen und von der Liebe ihres Lebens Abschied nehmen. Gleichwohl trägt ihr Scharfsinn ebenfalls zur Aufklärung des Falles bei. Generell sind die Amateur-detektive der Polizei zwar nicht immer ermittlungstechnisch, so aber doch ermittlungs-psychologisch stets einige Schritte voraus.

Neben der komplexen kriminalistischen Handlung mit spannenden Klippenhänger-Szenenwechseln, ungewöhnlichen Querverbindungen, skurrilen Situationen, reichlich schwarzem Humor, altersweiser Selbstironie und sehr amüsanten filmreif-schlag-fertigen Dialogen ist das zwischenmenschliche Zusammenspiel der sympathisch-eigenwilligen Romanfiguren die Hauptstärke der MORDCLUB-Serie von Richard Osman. Die Beziehungsdynamik zwischen den Charakteren gibt viel Raum für einfühlsame Gedanken und Betrachtungen zu Leben und Tod, Vergänglichkeit und Trauer, Anfängen und Abschieden, Glück und Gnade, Verbundenheit und Mitgefühl sowie zum Trost tragfähiger Freundschaften und alltäglicher kleiner Freuden.

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.ullstein.de/werke/der-donnerstagsmordclub-oder-ein-teufel-stirbt-immer-zuletzt/paperback/9783471360514

Hier entlang zum ersten Band: Der Donnerstagsmordclub
Hier entlang zum zweiten Band:
Der Mann, der zweimal starb
Hier entlang zum  dritten Band: Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel

Der Autor:

»Richard Osman ist Autor, Produzent und Fernsehmoderator. Seine Serie über die vier scharfsinnigen und liebenswerten Ermittlerinnen und Ermittler des Donnerstagsmordclubs hat ihn über Nacht zum Aushängeschild des britischen Krimis und Humors gemacht. Für sein Debüt Der Donnerstagsmordclub wurde er bei den British Book Awards 2020 zum ›Autor des Jahres‹ gewählt. Er lebt mit Frau und Katze in London.«

Kummer aller Art

  • von Mariana Leky
  • DUMONT Verlag, Juli 2022 www.dumont-buchverlag.de
  • gebunden
  • mit LESEBÄNDCHEN
  • 176 Seiten
  • Format: 20 x 12 cm
  • 22,00 € (D)
  • ISBN 978-3-8321-8216-8

Kummer aller Art

LUSTWANDELN  IM  NEUROSENVORGARTEN

Rezension von Ulrike Sokul ©

Mariana Leky, die empfindsame Meisterin zwischenmenschlicher Wahrnehmung, zeigt in der Kolumnensammlung „Kummer aller Art“ wieder ihre schriftstellerische Gabe, den traurigen, beängstigenden, neurotischen und seltsamen Aspekten des mensch- lichen Daseins eine heitere Saite hinzuzugesellen. Sie findet immer wieder feinnervige Formulierungen und sinnliche Sprachbilder, welche den alltäglichen Kümmernissen und Unannehmlichkeiten etwas von ihrer Schwere nehmen und sie mit einer gütigen und großzügigen Portion Humor erhellen.
So reiht sich in losem Zusammenhang und mit wiederkehrendem Personal Episode an Episode, in denen es nacheinander um Schlaflosigkeit, Konfliktscheu, Entscheidungs-schwierigkeiten, Platzangst, Flugangst, Liebeskummer, Abschiedsschmerz, Höflichkeit, Fern- und Nahfreundschaften, Geheimnisse, Kränchenfimmel, unerklärliche körper- liche Symptome, Seelenverwandtschaftstreffen, neue Lieben, alte Lieben, Mahnungen, Meditation, Vergänglichkeit, Warteschlangenverhaltenstherapie, gelungene und mißlungene Geburtstagsüberraschungen, das befremdliche Zeitalter der Pubertät, unsägliche Wandtattoos, innere Stimmen, Zwangsrituale, die befreiende Klärung widersprüchlicher Gefühle, Selbstliebe, bedingungslose Liebe, mittlere Liebe und Hundeliebe geht. Und sogar ein schmerzlich vermißter Briefkasten wird gewürdigt:
„Als ich ankam, war der Briefkasten verschwunden – und nichts deutete darauf hin, dass er jemals da gewesen war. Ich weiß nicht, ob es einen Begriff für den Moment der Verwirrung gibt, wenn etwas seit Jahrzehnten fest Installiertes plötzlich weg ist; für diesen Moment, in dem man an der Wirklichkeit zweifelt und denkt: »Das kann doch nicht sein«, für diesen kurzen verstörenden Wackelkontakt mit der Realität.“ (Seite 123)
Für diese mikrotherapeutischen Bonsai-Psychogramme schöpft die Autorin aus dem Fundus ihres gelebten und aktuellen Lebens, ihrer Kindheitserinnerungen, verwandt-schaftlicher und freundschaftlicher Begegnungen sowie ihrer unmittelbaren Nachbar-schaft. Da Mariana Leky einer Familie mit mehreren Psychoanalytikern entstammt, hat sie vermutlich schon früh eine ebenso therapeutische wie selbstironisch-selbstreflektierte Perspektive entwickelt.
In den kurzen Geschichten, die sie uns erzählt, zeigt sich eine ebenso feinfühlige wie kluge Betrachtungsweise, viel menschenkenntnisreiche Milde und ein ausgeprägter Sinn für freiwillige und unfreiwillige Situationskomik.
So kann ich diesem „Kummer aller Art“  guten Lesegewissens eine tröstliche, amüsante Besinnlichkeit und sehr originelle sprachdramaturgische Tiefenschärfe attestieren, welche die Lektüre zu einem ganz besonderen Vergnügen machen.

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.dumont-buchverlag.de/buch/leky-kummer-aller-art-9783832182168/

Hier entlang zu einer weiteren, ausführlicheren und sehr lesewissens- werten Rezension auf dem Blog KOMMUNIKATIVES LESEN von Alexander Carmele: Mariana Leky Kummer aller Art

Die Autorin:

»Mariana Leky studierte nach einer Buchhandelslehre Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Sie lebt in Berlin und Köln. Bei DuMont erschienen der Erzählband ›Liebesperlen‹ (2001), die Romane ›Erste Hilfe‹ (2004), ›Die Herrenausstatterin‹ (2010) sowie ›Bis der Arzt kommt.‹ (2013). 2017 veröffentlichte sie den SPIEGEL-Bestsellerroman ›Was man von hier aus sehen kann‹, der in über zwanzig Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt wurde.«

Querverweis:

Hier entlang zu meiner entzückten Rezension von Mariana Lekys Roman „Was man von hier aus sehen kann“: Was man von hier aus sehen kann
Hier entlang zur Taschenbuchausgabe und Leseprobe von „Was man von hier aus sehen kann“ auf der DUMONT-Verlagswebseite: https://www.dumont-buchverlag.de/buch/tb-leky-was-man-von-hier-aus-sehen-kann-9783832164577/

REJOICE

  • Die letzte Entscheidung
  • von Steven Erikson
  • Roman
  • Originaltitel: »Rejoice«
  • Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Decker
  • Deutsche Erstausgabe
  • Piper Verlag, November 2019, http://www.piper-science-fiction.de
  • Klappenbroschur
  • 520 Seiten
  • 18,00 € (D), 18,50 € (A)
  • ISBN 978-3-492-70558-5

REJOICE

NACHHILFE  IN  VERNUNFT

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Entspannen Sie sich, öffnen Sie Ihren Lesehorizont dem weisen Einfluß interstellarer Zivilisationen, deren ethische und technische Entwicklung der unseren um Lichtjahre voraus ist. Hier wird kein Sternenkriegerszenario entworfen, sondern eine freundlich-lenkende Rettung vor der Zerstörung unseres Planeten und die Gestaltung einer attraktiven Postmangel-Gesellschaft.

Die außerirdischen Spezies, die ein Interesse daran haben, die Biosphäre der Erde zu bewahren und zu regenerieren, entsenden ein Raumschiff mit einer KI, die das gesamte Sonnensystem sensorisch überwacht und auf der Erde eine Flächenpräsenz installiert. Dies bleibt der Menschheit zunächst noch verborgen, bis am hellichten Tage die Science-Fiction-Autorin Samantha Fox von einem Lichtstrahl, der aus einem offensichtlichen Ufo kommt, vom Bürgersteig gepflückt wird.

Samantha wurde von den Außerirdischen als Botschafterin ausgewählt, um der Mensch-heit eine Kooperation mit der außerirdischen Macht schmackhaft zu machen. Während die KI, die den passenden Namen Adam trägt, Samantha über die friedlichen Absichten und ihre besondere Rolle im geplanten gesellschaftlichen Paradigmenwechsel informiert, wird die Flächenpräsenz aktiviert.

Dieses Kraftfeld verhindert nun jede Form der Gewaltausübung, Waffen funktionieren nicht und Schläge, Stiche, Tritte usw. werden sofort aufgehalten, ja, selbst drängelndes Autofahrerdominanzverhalten wird buchstäblich ausgebremst. Außerdem entstehen große Exklusionsräume, die von Menschen nicht mehr betreten werden können, und zwar hauptsächlich dort, wo sich noch weiträumige und weitgehend menschenleere Natur befindet. Weltweit taucht bei technischen Firmen eine Datei auf, die den Bauplan für die Konstruktion einer emissionsfreien, regenerativen, skalierbaren Energiequelle enthält, die sich den natürlichen Elektromagnetismus des Planeten „ausleiht“ – mit dem ausdrücklichen Vermerk „Patentieren verboten.“

Im weiteren Verlauf der Geschichte erlesen wir das Geschehen aus sehr, sehr vielen verschiedenen Figurenperspektiven, die mit wahlweise anrührenden oder entlarvenden Psychogrammen ausgestattet sind. Soldaten können nicht mehr kämpfen, ein Waffen-händler wird arbeitslos, eine israelische Soldatin weint gemeinsam mit einem jungen Palästinenser, eine mißhandelte Ehefrau muß sich erst daran gewöhnen, daß sie nicht mehr geschlagen wird, amerikanische, kanadische, chinesische und russische Staats- chefs diskutieren mehr oder weniger konstruktiv mit ihren Ministern, Beratern und Wissenschaftlern, Blogger und Verschwörungstheoretiker stellen Vermutungen an, Ingenieure folgen der außerirdischen Bauanleitung und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus …

Milliardäre und Medienkonzernbesitzer reagieren mit der gewohnten egosphärischen Überheblichkeit und bedienen sich der vertrauten Manipulationsmethoden, die jedoch nicht mehr funktionieren, da die Flächenpräsenz die Unterdrückung und Verzerrung von Information und Wissen nicht mehr zuläßt. Die absolute Vergeblichkeit dieser Macht-spielchen im Kontext einer wahrlich rational überlegenen „Aufsichtsinstanz“, die mediale Transparenz garantiert, eröffnet bei der Lektüre die Aussicht auf einen erfri- schend freidenkerischen Horizont und offenen Diskurs, in dem propagandistischer Kampagnenjournalismus nicht mehr funktioniert. 

Die unterschiedlichen menschlichen Erlebnis- und Bewertungsperspektiven wechseln sich erzählerisch ab mit den lebhaften technisch-aufklärenden und gesellschafts- kritischen Gesprächen zwischen Adam und Samantha. Hier verbindet der Autor scharfe Kritik an Konzernkapitalismus, Natur- und Menschenausbeutung, Politik, Partikular- interessen, Geheimhaltungen und menschliche Schwächen mit der Hoffnung auf ein gänzlich neues menschliches Selbstverständnis.

»Kapitalismus gründet sich auf die selektive Umsetzung der Freiheit einiger weniger zulasten aller anderen.« (Seite 223)

»Sobald Konzerne das Recht gewannen, Menschen  gleichgestellt zu werden, war der Normalbürger entrechtet, denn das Gesetz wurde zum offiziellen Kontrollsystem, mit dem Konzerninteressen vor seine Interessen gestellt werden. Konzerne behandeln Bürger als Wirtschaftseinheiten. Damit nehmen sie ihnen ihre essenzielle Menschlich-keit. Es gibt nichts Inhumaneres als ein Konzern und seine Interessen. [… ] Glücklicherweise ist mein Interventionsprotokoll darauf ausgerichtet, die Menschheit wie auch das planetare Biom über die antiquierten, konzernbasierten Wirtschafts- systeme zu erheben. « (Seite 316)

Das Spektrum der menschlichen Reaktionen auf die außerirdische Intervention reicht von Entspannung angesichts des gewaltfreien Zustands bis hin zu Ängsten vor Ver- sklavung, Befürchtungen vor einem finanzwirtschaftlichen Zusammenbruch und schwierigen psychischen Neuorientierungen und Identitätskrisen besonders bei Menschen, die zuvor viel Gewalt und Macht ausgeübt oder erlitten haben.  

»Das mag jetzt für viele Menschen eine Überraschung sein, […] aber die Annahme, dass eine außerirdische Zivilisation daran interessiert sein könnte, die künstliche Hierarchie zu bestätigen, die Ihre Spezies sich selbst auferlegt hat, ist unweigerlich das Erste, das einer Neujustierung bedarf.« (Seite 33)

Auch wenn die außerirdische Intervention ihre Absicht zunächst durch die erziehe- rischen und beschützenden Eingriffe der Flächenpräsenz durchsetzt, so soll die Menschheit sich dennoch bewußt entscheiden, ob sie diesen neuen Weg freiwillig beschreiten will. Wenn die Menschen den notwendigen lebensstilistischen Para-digmenwechsel begrüßen und gegenüber den großzügigen außerirdischen Unter- stützungs- und Wissensangeboten aufgeschlossen sind, werden sie selbstbestimmte Mitgestalter einer anderen Welt als die bisherige.

»Je eher Ihre Spezies ihr kollektives Selbstverständnis findet, umso besser wird es offensichtlich sein.« (Seite 403)

Dieser faszinierende Roman ist komplex und eignet sich besser als Langstreckenlektüre, damit sozusagen die geistige Flächenpräsenz des Lesers nicht allzu oft unterbrochen wird. Der vielschichtige Aufbau der Szenarien und Figurenperspektiven nebst einge- fügter fiktiver Zeitungsartikel, Mail-Korrespondenzen, Blogbeiträge und Interviews bietet eine Multiperspektive, die Lesekonzentration beansprucht.

Neben der Thematisierung einer lebenswerten oder tödlichen Zukunft der Erde und der Menschheit kommen viele biologische, historische, soziologische, psychologische, spirituelle und religiöse Aspekte des Menschseins zur Sprache.

Steven Eriksons weiträumig durchdachter Science-Fiction-Roman spielt mit visionären technischen Möglichkeiten von pazifistischer KI, medizinischen Nanosuiten bis hin zu Terraforming. Dabei ist er ebenso gesellschaftskritisch wie unterhaltsam sowie auf philosophisch-reflektierende Art spannend.

Einige köstliche Prisen Humor finden sich u.a. hinsichtlich einer gewissen Genreselbst-ironie. So erfährt Samantha von Adam, daß sie wegen ihrer mehr humanistisch als technisch orientierten Science-Fiction-Romane als besonders geeignete Person für die Anfangsphasen eines Erstkontaktes betrachtet wird und deshalb für diese Mission aus-gewählt wurde. Beiläufig läßt Adam sie dann noch wissen, daß sie intergalaktisch gesehen mehrere Milliarden außerirdischer Leser hat. Wenn das kein Hoffnungs- schimmer für die Menschheit ist …

»Die menschliche Fantasie ist eine äußerst wertvolle Währung.« (Seite 179)

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.piper.de/buecher/rejoice-isbn-978-3-492-70558-5
Inzwischen gibt es nur noch die elektronische Ausgabe zu 9,99 €:
https://www.piper.de/buecher/rejoice-isbn-978-3-492-99477-4-ebook

Eine ergänzende Buchbesprechung von Thursdaynext, die mich zu diesem Roman geführt hat, findet sich auf dem Bücherblog „Feiner reiner Buchstoff“: https://feinerreinerbuchstoff.blog/2019/11/12/rejoice-ideas-for-future-not-only-for-fridays/

Der Autor:

»Steven Erikson ist Archäologe und Anthropologe. Mit seiner international gefeierten Reihe um „Das Spiel der Götter“ etablierte er sich als eine der wichtigsten Stimmen der phantastischen Literatur. Der Autor lebt in Kanada.«

Leselebenszeichen-Datenschutzerklärung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/datenschutzerklaerung/

Sturmvögel

  • von Manuela Golz
  • Roman
  • DUMONT Verlag, Mai 2021 www.dumont-buchverlag.de
  • gebunden
  • mit LESEBÄNDCHEN
  • 336 Seiten
  • 22,00 € (D)
  • ISBN 978-3-8321-8137-6

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H E R Z E N S G R Ö S S E

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Gleich zu Beginn des Romans lernen wir die Hauptfigur Emmy als charakterstarke, gütige und lebensreife Frau kennen. Auf Veranlassung ihrer besorgten ältesten Tochter absolviert sie im Anschluß an einige Voruntersuchungen einen Besuch bei einem bekannten Herzspezialisten. Dieser Dr. »Grünschnabel« begrüßt Emmy nicht, schaut nur auf seinen Bildschirm, fachsimpelt von Sinusbradykardie und Pacemaker, und erst nach Emmys energischer Aufforderung, ihr bitte in einfachen Worten zu erläutern, was ihr denn fehle, schaut er sie an und bemüht sich um eine verständliche medizinische Erklärung.

Der Arzt erläutert, daß Emmys Herz zu langsam schlage und daß ein Herzschrittmacher ihr Herz sozusagen wieder flotter machen könne. Emmys Antwort sagt so viel über ihr Wesen und ihre Lebenseinstellung aus, daß ich sie nachfolgend gerne zitiere:

»Junger Mann, woran soll ich denn sterben, wenn mein Herz nicht einfach stehen- bleiben darf? Ich bin fast siebenundachtzig Jahre alt und hatte ein gutes Leben. So wie alle Menschen mit Höhen und Tiefen, aber insgesamt doch ein wirklich gutes. Ich habe das Gefühl, am Ende eines langen Weges wohlbehalten angekommen zu sein. Was will ich denn noch?« (Seite 16)

Durch Emmys Erinnerungsrückblenden erlesen wir diesen bisherigen Lebenslauf. Sie wird 1907 auf einer Nordseeinsel geboren. Ihre Eltern lieben sie, der Vater fördert den Wissensdrang seiner ältesten Tochter und läßt sie sogar zur Schule gehen, da er der Mei-nung ist, daß Bildung die Menschen mündig mache. Die Familie kommt über die Runden, aber eine Schiefertafel mit Schwämmchen ist nicht finanzierbar. Um die Begeisterung des Kindes für Buchstaben und Zahlen nicht zu enttäuschen, lassen die einfallsreichen Eltern Emmy alternativ auf einem Stück festgeklopften Sandbodens ihre Schreib- übungen machen.

Der rege Geist und die kommunikative Direktheit des Kindes sprengen die engen Regeln des dörflichen Daseins. Der Erste Weltkrieg zwingt den Vater an die Front. Die Mutter erkrankt und stirbt mit 34 Jahren. Emmy meistert mit den Geschwisterkindern den Haushalt und die kleine karge Landwirtschaft. Doch als auch der Vater stirbt, werden die Kinder getrennt. Emmy, die schon 14 Jahre alt ist, wird als Dienstmädchen in einen vornehmen Haushalt nach Berlin vermittelt.

Emmy ist zunächst untröstlich, wird jedoch von der Köchin des Hauses freundlich und fürsorglich behandelt und in ihre Aufgaben eingewiesen. Das Großstadtleben im Berlin der Zwanziger-Jahre lacht Emmy gewissermaßen an, und sie fügt sich aufgeschlossen in ihr neues Soziotop.

Sie verliebt sich, heiratet, bekommt drei Kinder, verkraftet schmerzlich auch den Zweiten Weltkrieg, pflegt eine innige, lebenslange Freundschaft mit ihrer ersten Hebamme, und als ihre eigenen Kinder erwachsen sind, nimmt sie ein Pflegekind, zu dem sie eine tiefe Wahlverwandtschaft spürt, bei sich auf. Sie arbeitet als Küchenfrau in einer Kantine und führt in finanzieller Hinsicht ein bescheidenes Leben. Es ist jedoch eine zufriedene Bescheidenheit, denn Emmy schätzt zwischenmenschliche Verbunden- heit, alltägliche Freuden und einfache Genüsse, die gerne auch in kulinarischer Form erscheinen dürfen.

Es gibt allerdings ein altes Familiengeheimnis, das sie noch in Ordnung bringen will. Dies tut sie auf gewohnt pragmatische und sehr überraschende Weise …

Die Autorin stellt die Stimmung und den Zeitgeist der unterschiedlichen Erzählzeit- räume sehr atmosphärisch und detailreich sinnlich-abschmeckbar dar. Die Charak- terportraits der mit Emmy verbundenen Menschen sind von lebhafter Anschaulichkeit und psychogrammatischer Präzision. Es gibt eine Menge filmreifer Szenen und ebenso anrührende wie amüsante, heiter-schlagfertige Dialoge.

Emmy ist eine Persönlichkeit, die Schicksalshärten erleidet, jedoch selbst nicht ver- härtet, sondern sich ihr offenes Herz, ihre selbstbewußte Eigenwilligkeit und ihren Humor bewahrt. Tapfer bleibt sie sich selbst treu und verankert ihre Fähigkeit dazu in der unbedingten Liebe, die sie in der Kindheit von ihren Eltern erfahren hat.

»Auf einmal hatte Emmy den Pfeifengeruch ihres Vaters in der Nase. Hatte ihn vor Augen, sein Lächeln, und hörte seine Stimme sagen: Vergiss nie, dass du von uns sehnsüchtig erwartet und immer geliebt worden bist. Diese Liebe, das tiefe Gefühl, erwünscht gewesen zu sein, trug sie durch schwere Zeiten. Wenn sie nur an ihre Eltern dachte, fühlte sie sich gewärmt.« (Seite 242)

Emmy ist ein bemerkenswert authentischer Charakter, der sofort Sympathie weckt. Sie ist eine Person, mit der man gerne befreundet wäre oder vielleicht sogar verwandt. Der Roman ihres Lebens ist eine einfühlsame biographische Würdigung und zugleich ein glaubwürdiges persönliches Panorama deutscher Geschichte.

 

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.dumont-buchverlag.de/buch/golz-sturmvoegel-9783832181376/

Die Autorin:

»Manuela Golz, geboren 1965, studierte Germanistik, Erziehungswissenschaften und Psychologie. Sie lebt in Berlin und arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Psychotherapeutin. 2006 debütierte sie mit ›Ferien bei den Hottentotten‹ als Autorin. Ihr neuer Roman ›Sturmvögel‹ ist vom Leben ihrer Großmutter Emmy inspiriert.«

 

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Giesbert und der Gluckerbach

  • Text und Illustration von Daniela Drescher
  • Band 3 mit Giesbert dem Regenrinnenwicht
  • Verlag Urachhaus, Juni 2020  www.urachhaus.com
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 17 x 24 cm
  • 96 Seiten
  • durchgehend farbig illustriert
  • 18,00 € (D), 18,50 (A)
  • ISBN 978-3-8251-5248-2
  • Kinderbuch ab 5 Jahren

NEUES  VOM  REGENRINNENWICHT

Kinderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Giesbert der Regenrinnenwicht, der bei der Autorin und Illustratorin Daniela Drescher im Garten und in der Regentonne lebt, hat wieder einige neue Erfahrungen gemacht, die uns Daniela Drescher nun lebhaft erzählt und ermalt.

So hat Giesbert sogar den Garten zum ersten Mal verlassen, weil er einer Entenmutter mit ihren Küken zum nahegelegenen (nur für Menschenfüße nahegelegen, für Wichtel-füße ist es schon eine ganz ordentliche Wegstrecke) Gluckerbach gefolgt ist. Während die Entenmutter noch nach einer flachen Stelle sucht, um den Schwimmunterricht mit den Küken zu beginnen, fällt ein Küken plötzlich in den Bach und wird von der Strömung mitgerissen. Giesbert springt sofort hinterher – immerhin ist Wasser sein Element -, um das Küken zu retten. Doch das Fließgewässer ist auch für Giesbert eine Herausforde-rung, und es gelingt ihm erst nach einer ganzen Weile, sich gemeinsam mit dem Küken und mit Hilfe eines überragenden Astes aus der Strömung zu ziehen.

Auf dem Weg nach Hause treffen sie einen freundlichen Biber, der sie zu einem leckeren Brunnenkresse-Frühstück in seinen Biberbau einlädt. Nun sind die Beiden gestärkt und gehen frohen Mutes weiter. Sie begegnen einem Eisvogel, einem Frosch, einer Ringel-natter und einer Wasseramsel, und sie bewundern eine Gruppe Libellen, die übers Wasser tanzen; aber der Weg zum heimischen Garten wird Giesbert doch recht lang.

Zum Glück naht da schon Giesberts Freund, der alte Kater Munz, der sich auf die Suche nach Giesbert gemacht hatte, da er nicht wie sonst üblich zum Frühstück erschienen war. Giesbert und das Küken steigen auf den Rücken des Katers. So kommen sie deutlich schneller voran und werden zu Hause freudig empfangen.

Illustration von Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2020

Im heimischen Garten kümmern sich neben Giesbert allerlei Krautwichte und Wichte- linen und Elfen um das Gedeihen der Pflanzen. Giesbert inspiziert alltäglich die Beete, plaudert hier und da und dort mit der Wichtelnachbarschaft und mit allerlei Tieren. Mal braucht ein Gartenschläfer zauberhafte Unterstützung beim Nestbau, mal lernt er eine verirrte Schild kröte kennen und mal hilft er einem Igel beim Laubsammeln für sein Winternest.

Illustration von Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2020

Manchmal braucht Giesbert Hilfe von der Autorin. Bei Bauchweh bittet er sie nämlich, ihm einen Fencheltee zu kochen. Daniela Drescher näht ihm sogar noch ein sanft wärmendes Kirschkernkissen – bei solcher Pflege wird der Wicht schnell wieder gesund und munter. Und einen kleinen Reim gibt es als Nebenwirkung ebenfalls:

»Tut dir mal das Bäuchlein weh,
trinke etwas Fencheltee.

Und rumpelt es in deinem Bauch,
hilft ein Kirschkernkissen auch.«

(Seite 75)

Illustration von Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2020

Illustration von Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2020

In einer sommerlichen Sternschnuppennacht zeigt sich Giesberts glückliche Genüg- samkeit. Nach der zweiten Sternschnuppe fällt ihm gar kein Wunsch mehr für sich selbst ein, und so sammelt er bei den Gartentieren Wünsche und schickt bei den nachfolgenden Sternschnuppensichtungen freudig diese Wünsche ins Weltall.

Illustration von Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2020

Als kleine Zugabe für kindliche Giesbert-Kenner beantwortet die Autorin im Anschluß an die Geschichten noch drei häufig gestellte Kinderfragen zu Giesbert. Wir erfahren, ob Giesbert überhaupt Haare unter seinem Hut hat, von welcher Pflanze sein Blätterhut ist und ob er wirklich bei Daniela Drescher wohnt.

Ich bin zwar schon erwachsen, gleichwohl hoffe ich, daß Giesbert noch lange bei Daniela Drescher verweilt und natürlich-märchenhaften Stoff für weitere Geschichten liefert.

Giesbert ist ein sehr sympathisches Wesen, er ist naturverbunden, mitfühlend, lebens- bejahend, entdeckungsfreudig, verspielt, hilfsbereit, heiter und zugewandt, ja, einfach unwiderstehlich wichtelig.

Daniela Drescher erzählt feinsinnig, vielschichtig und warmherzig, mit augenzwinkerndem Humor. Die Episoden haben eine übersichtliche Länge, sie sind durchgehend farbig illustriert – oft ganzseitig – und begleiten das schelmische Lese- und Vorlesevergnügen mit atmosphärischen Bühnen- bildern. Die Illustrationen sind botanisch und zoologisch ebenso präzise wie märchenhaft-stimmungsvoll.

Daniela Drescher gelingt es wieder und wieder, in Wort und Bild Alltäg- liches und Natürliches ins poetische Licht zu rücken und konstruktiv-kommunikatives Miteinander gefühlsecht darzustellen – so werden die kindliche Phantasie bereichert, Herzensbildung gefördert und magische Naturverbundenheit sanft vermittelt.

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.urachhaus.de/Lesen-was-die-Welt-erzaehlt/Daniela-Drescher/Giesbert-und-der-Gluckerbach.html

Hier entlang zum ersten Band: „Giesbert in der Regentonne“: Giesbert in der Regentonne
und zum zweiten Band: „Giesbert hört das Gras wachsen“: Giesbert hört das Gras wachsen
und zum vierten Band: „Giesbert und die Gackerhühner“ Giesbert und die Gackerhühner

Die Autorin & Illustratorin:

»Daniela Drescher, geboren 1966, ist eine international gefeierte Illustratorin und Autorin. Ihre Bilderbücher und illustrierten Kinderbücher bestechen durch einen Stil, der Kinder wie Erwachsene weltweit anspricht. In ihren mittlerweile über 40 Büchern ver-mittelt sie ihren jungen Lesern einen unmittelbaren Zugang zur Natur sowie zu sozialen Themen. Darüber hinaus setzt sie sich regelmäßig für Naturschutzorganisationen ein. «

Illustration von Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2020

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Mord in Sunset Hall

  • von Leonie Swann
  • Hörbuch
  • gekürzte Lesung
  • Sprecherin:  Anna Thalbach
  • Buchvorlage: GOLDMANN Verlag
  • Produktion: der Hörverlag, Mai 2020   www.hoerverlag.de
  • 1 mp3-CD
  • in Pappklappschuber
  • Laufzeit: ca. 9 Stunden, 31 Minuten
  • 20,00 € (D), 20,60 € (A), 28,90 sFr.
  • ISBN 978-3-8445-3734-5

GEBRECHEN  UND  VERBRECHEN

Hörbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Agnes Sharp hat in „Sunset Hall“, ihrem Elternhaus, eine unkonventionelle Senioren-WG gegründet. Sie und ihre Mitbewohnerinnen und -Bewohner sind sich darin einig, so lange und so gut wie möglich selbstbestimmt zu leben und, wenn es sich nicht mehr gut lebt, auch selbstbestimmt zu sterben. Im Dorf gelten sie als senile Hippie-WG und bieten Stoff für anrüchige Spekulationen, die zwar völlig unbegründet sind, aber manche Nachbarn auf dem Lande sind einfach etwas kleinkariert und spießig.

Die alten Leutchen haben zwar allerlei Verschleißerscheinungen und Gebrechen, sind gleichwohl recht rege und munter und gleichen ihre körperlichen Schwächen raffiniert mit Lebenserfahrung, Charakterstärke, Gelassenheit und buchstäblicher Weitsicht aus. Alle würzen zudem ihr Persönlichkeitsprofil mit einigen sympathischen Prisen Skurrilität.

Agnes etwa hat Probleme mit der Hüfte und mit gelegentlichen Ohrgeräuschen. Sie ist gut organisiert und hat für die WG eine entsprechende Hausordnung (Rauchen und Enkelkinder sind in Sunset Hall streng verboten) eingeführt. In ihrem aktiven Berufs- leben arbeitete sie bei der Kriminalpolizei und hat – wie sie wiederholt erwähnt –  „Monster gejagt“. 

Die beiden männlichen Mitbewohner sind Kavaliere der alten Schule: Der disziplinierte Marschall erledigt Internetbestellungen und –Recherchen,  hat jedoch zunehmend Schwierigkeiten mit dem Kurzzeitgedächtnis. Der stets ebenso charmante wie würde- volle Winston sitzt im Rollstuhl. Er war beim Geheimdienst Spezialist für Geheimcodes und verteilt nun sorgfältig die jeweiligen Tablettenrationen an alle WG-Mitglieder.

Edwina ist die Beweglichste von allen, sie übt täglich Yoga, begibt sich auch im Tageslauf immer wieder spontan in Yogastellungen und spricht bevorzugt mit dem WG-Haustier, der kaltblütigen Schildkröte Hettie. Sie wirkt naiv und verträumt, ja, geradezu verspielt, aber man sollte sie nicht unterschätzen, immerhin hat auch sie beim Geheimdienst gearbeitet.

Lillith ist die Gartenfee der WG und kümmert sich sowohl um den Garten als auch um die Topfpflanzen in Sunset Hall.

Die blinde Bernadette hat ebenfalls bei der Kriminalpolizei gearbeitet. Sie trägt fast permanent eine dunkle Sonnenbrille, die ihr eine mafiöse Ausstrahlung verleiht, was durch ihre schonungslos sarkastischen Bemerkungen noch unterstrichen wird.

Die fabelhafte, mondäne Charlie – stets einem Gin-Tonic zugeneigt – ist erst kürzlich zusammen mit ihren Wolfshund namens Brexit eingezogen.

Als nun Mitbewohnerin Lillith erschossen im Gartenschuppen liegt und kurz darauf auch noch eine Nachbarin (Mildred) aus dem nahegelegenen Herrenhaus ebenfalls erschossen aufgefunden wird, beginnen Agnes und ihre WG-Genossen heimlich selber zu ermitteln. Tatsächlich wissen sie ein klein wenig mehr, als sie gegenüber der Polizei zugeben dürfen …

Bei Agnes werden durch den Mord an Mildred unwillkommene, schmerzliche Erinnerun-gen wach. Sie hatte einst eine Zwillingsschwester, Alice, die als Kind verstorben war. Nach Alice‘ Tod hatte sich Agnes mit den Zwillingsgeschwistern (Isabel und Mildred) aus dem Herrenhaus eng angefreundet, bis sich als Erwachsene ihre unterschiedlichen lebensläufigen Wege trennten.

Agnes entschließt sich nun, nach jahrzehntelanger Kontaktpause der überlebenden Zwillingsschwester Isabel einen Kondolenzbesuch abzustatten. Isabel empfängt Agnes freundlich, die beiden sprechen sich ein wenig aus, und Isabel bittet Agnes schließlich sogar, mit ihren Mitbewohnern zur Beerdigung zu kommen, da wegen Mildreds Unbe-liebtheit im Dorf die Gefahr bestünde, daß sonst nur das Hauspersonal mitkäme.

Beerdigungen von Mordopfern eignen sich durchaus für eine ergiebige kriminalistisch-psychologische Spurenlese, aber ebenso der Besuch des wöchentlichen Kaffee-und-Kuchen-Plauderkränzchens, das der Dorfpfarrer organisiert. Und so gehen die Senioren mehr oder weniger auffällig einer vielfältigen, umtriebigen Spurensuche nach.

Agnes bewegt sich zunehmend zwischen changierenden Zeitebenen und verläuft sich in Kindheitserinnerungen. Aus ihren biographischen Rückblenden erfahren wir von einem Mord, der nie aufgeklärt wurde und der einen langen Schatten über Agnes‘ und Alice‘ Kindheit warf.

Während die WG mit vereinten Kräften und der Rekrutierung eines jungen, geheimen „Außendienstagenten“ langsame Ermittlungsfortschritte macht, kommt es zu allerlei Komplikationen, u.a. wird der kleine Enkelsohn des Marschalls wegen einer Ehekrise beim Opa abgeladen und entgegen der Hausordnung in Sunset Hall einquartiert.

Eine weitere Komplikation ergibt sich daraus, daß die Polizei, nachdem ein drittes Mord-opfer zu beklagen ist, ausgerechnet Agnes verdächtigt, da sie mit der betreffenden Person vor Jahren in einen handfesten Streit geraten war, bei dem sie eine Torte und ein Streichmesser nach ihr geworfen hatte.

Agnes hat sich derweil im Zuge der Mordermittlungen heimlich ins örtliche Luxus-Seniorenheim eingeschummelt, um eine vermutliche Zeugin zu befragen. Bei diesem Ausflug macht Agnes bittere Erfahrungen mit fürsorglicher Entmündigung und medikamentöser Ruhigstellung, und sie kann nur sehr knapp wieder entkommen.

Die Lage ist ernst, bietet aber auch viel Raum für Situationskomik und schwarzen Humor. Mal fehlt die Lesebrille, mal das Gebiß, hakende Hüften, ein trödelnder Treppenlift und ungelenke Gelenke erschweren die Beweglichkeit, Hörfehler und Gedächtnislücken führen zu dramatischen Mißverständnissen, falsch verknüpften Fäden und unstimmigen Mordmotiven.

Doch trotz Zipperlein, Langsamkeit, Selbstzweifeln und Verwirrung löst Agnes schließlich erfolgreich den Fall. Die Wohngemeinschaft geht gestärkt aus der Krise hervor, und der Besuch von Enkelkindern ist in Sunset Hall inzwischen nicht nur gestattet, sondern sogar ausdrücklich erwünscht.

Leonie Swanns Romankomposition ist abwechslungsreich, komplex, spannend und vielschichtig. Das Alter und die Verletzlichkeit, die das Altern, das Schwinden von körperlichen Fähigkeiten und die Wehmut über unabänderlich Vergangenes mit sich bringen, werden einfühlsam und respektvoll thematisiert. Alle Personen werden von der Autorin lebhaft und anschaulich dargestellt. Das zwischenmenschliche Zusammenspiel, die unterschiedlichen Charakterperspektiven und schrägen Eigenwilligkeiten sind ebenso anrührend wie amüsant.

Dieses Hörbuch wird von Anna Thalbach bemerkenswert vielstimmig und ausgesprochen überzeugend geleseschauspielert. Es gelingt ihr mit bewundernswert vielsaitigem Nuancenreichtum, jedem Charakter eine wiedererkennbare eigene Note und Klangfarbe zu verleihen.

 

Hier entlang zum HÖRBUCH und zur HÖRPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.randomhouse.de/Hoerbuch-MP3/Mord-in-Sunset-Hall/Leonie-Swann/der-Hoerverlag/e568800.rhd

Hier entlang zur BUCHAUSGABE und LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.randomhouse.de/Buch/Mord-in-Sunset-Hall/Leonie-Swann/Goldmann/e562236.rhd

Mord in Sunset  Hall
von Leonie Swann
Kriminalroman
GOLDMANN Verlag Mai 2020
gebunden mit Schutzumschlag
448 Seiten
Format: 13,5 x 21,5 cm
20,00 € (D), 20,60 € (A), 28,90 sFr.
ISBN: 978-3-442-31556-7

 

Die Autorin:

»Leonie Swann wurde 1975 in der Nähe von München geboren. Sie studierte Philosophie, Psychologie und Englische Literaturwissenschaft in München und Berlin. Mit ihren ersten beiden Romanen „Glennkill“ und „Garou“ gelang ihr auf Anhieb ein sensationeller Erfolg: Beide Bücher standen monatelang ganz oben auf den Bestsellerlisten und wurden bisher in 25 Sprachen übersetzt. Leonie Swann lebt heute umzingelt von Efeu und Blauregen in England.«

Die Sprecherin:

»Anna Thalbach ist 1973 in Ost-Berlin geboren und international bekannt als Künstlerin von Film, Fernsehen und Theater. Als Hörbuchsprecherin und Interpretatorin gefragt, wurden ihre Leistungen mehrfach ausgezeichnet, unter anderem zweimal mit dem Deutschen Hörbuchpreis.«

Querverweis:

Hier entlang zum vorhergehenden Krimi von Leonie Swann, in dem ein sprechender Graupapagei einige entscheidende Worte mit redet: „Gray“ https://leselebenszeichen.wordpress.com/2017/10/09/gray/

 

 

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Über den Umgang mit Menschen

  • von Adolph Freiherr Knigge
  • Hörbuch
  • gekürzte Lesung
  • gelesen von Christoph Maria Herbst
  • mit Musik von Carl Philipp Emanuel Bach (1714 – 1788)
  • Pianist: Christoph Grund
  • Buchvorlage: »Über den Umgang mit Menschen«
  • von Adolph Freiherr Knigge
  • Der Audio Verlag   Februar 2019 www.der-audio-verlag.de
  • 2 CDs in Pappklappschuber
  • Laufzeit: 2 Stunden, 36 Minuten
  • 14,99 € (D), 16,90 € (A), 21,50 sFr.
  • ISBN 978-3-7424-0998-0

PHILANTHROPISCHE  AUFKLÄRUNG

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Dem höchst empfehlenswerten Buche „Über den Umgang mit Menschen“ des Freiherrn Knigge, das sich nunmehr schon seit 231 Jahren auf dem Buchmarkte behauptet, wird man nur gerecht, wenn man es von seinem Rufe als noble Benimmfibel befreit. Gewiß spielen Manieren eine gewisse Rolle, indes weisen Knigges Anregungen und Betrachtun-gen weit über oberflächliche, leere Formen und Konventionen hinaus und plädieren für einen allgemein harmonisch-freundlichen, rücksichtsvollen und toleranten zwischen-menschlichen Umgang. Ja, erstaunlich zeitgemäß für uns Gegenwärtige fordert er auch für die Tiere eine mitfühlende Behandlung, die angesichts des Autors zukunftsweisen- der Einfühlsamkeit mit der leidenden, wehrlosen Kreatur und seiner deutlichen Kritik diesbezüglicher menschlicher Grausamkeit überrascht und erfreut.

„Über den Umgang mit Menschen“ enthält trefflich menschenkenntnisreiche Psycho-gramme und Behandlungsempfehlungen verschiedener Wesensarten – so sei mit dem Herrschsüchtigen, Ehrgeizigen und Eitlen anders umzugehen als mit dem Empfindlichen, Eigensinnigen, Dummen oder mißtrauisch-verschlossenen Menschen.
 
Ebenso wie der rechte Umgang mit anderen Menschen sind der „Umgang mit sich selbst“ und eine gute selbstreflektierte Beziehung zur eigenen Person wichtig: „Respektiere Dich selbst, wenn Du willst, daß andere Dich respektieren sollen.“

Des Autors kluge Erörterungen zum „Umgange unter Eheleuten“ geben nicht nur ein-leuchtende und durchaus noch aktuelle Empfehlungen zum gemeinsamen, alltäglichen und verträglichen Miteinander, sondern auch Hinweise zum Verhalten angesichts außerehelicher Versuchungen. So betont Knigge zu Recht, daß eine Ehe mehr Freude, Glück und Erfüllung bereite, wenn sie eine Verbindung gegenseitiger Hochachtung, harmonischer Neigungen und wechselseitiger Seelenbedürfnisse ist.

Seine Betrachtungen und Hinweise führen sodann weiter zum Umgange mit Verliebten, Freunden, Frauenzimmern, Gästen und sogar Feinden. Im Anschluß an die privaten Gefilde widmet sich Knigge schließlich dem Umgange mit verschiedenen sozialen Menschengattungen.

Dabei übt er strengen Tadel an dünkelhaftem Hochmut, lebensweltfremder Arroganz, verwöhnter Selbstgefälligkeit und egozentrischer Geltungssucht von Fürsten, Vorneh- men, Reichen und Hofleuten und zweifelt an ihrer politischen und moralischen Kompe- tenz. Seine Auflistung der Fehler höherer Stände nebst zahlreicher anschaulicher Beispiele ihrer Untugenden ist erstaunlich freimütig und erklärt, daß sich der Freiherr Knigge in den damaligen aristokratischen Kreisen nicht gerade beliebt gemacht hat. 

Für das Verhalten gegenüber Menschen von „niederem Stande“ (z.B. Hausangestellten und Dienern) fordert er Achtung, Höflichkeit, angemessene Würdigung ihrer Leistungen und auch Fürsorge und Schutz im Notfalle und keinesfalls Herablassung und Gleich- gültigkeit.

Freiherr Knigges Buch „Über den Umgang mit Menschen“ erschien im Jahre 1788 (ein Jahr vor der Französischen Revolution), und es enthält zutiefst aufklärerische, gesell-schaftskritische, dem Adel angeborene Herrschaftsrechte sehr deutlich absprechende und für eine bürgerlich-republikanische Verfassung plädierende Ansichten.

„Über den Umgang mit Menschen“ ist Knigges berühmtestes Werk; doch die aufklärer-ische Substanz wurde in späteren Auflagen verfälscht oder ausgespart, so daß der Name Knigge inzwischen synonym für alle möglichen (und unmöglichen) Benimm- und Manie- renanleitungen und Stilfibeln eingesetzt wird. Wer sich hingegen das inzwischen wieder unzensierte Werk zu Gemüte führt, wird zweifellos erkennen, daß „Über den Umgang mit Menschen“ in vieler – wenn auch nicht jeder – Hinsicht ein lebensphilosophisches Werk von zeitloser Gültigkeit und Güte ist.

Der Autor übt Nachsicht mit kleinen menschlichen Schwächen, ohne ihnen indes über Gebühr nachzugeben. Er illustriert, daß die Vertretung eigener Interessen nicht unbe-dingt rücksichtslos sein muß und daß Tugenden wie Verschwiegenheit, Wahrhaftigkeit, Würde, Fingerspitzengefühl, freundlicher Humor, natürliche Freude, Großzügigkeit und eine edle Gesinnung für jeden Menschen anzustreben seien. Seine Aufforderung zu echter Herzensbildung, vernünftiger Selbstvervollkommnung, geistiger Aufgeschlossen-heit und höflichem Respekt zielt auf allgemeine Achtsamkeit zum Wohle des Ganzen. „Jedes Gute muß nach seiner Wirkung für die Welt beurteilt werden.“

Freiherr Knigges Werk ist sowohl inhaltlich als auch stilistisch wertvoll und bemerkens-wert. Des Autors Ausdrucksweise ist fein und kultiviert, ohne abgehoben zu sein, dabei ebenso geistreich wie einfühlsam, und seine zwischenmenschlichen Charakterisierun- gen zeugen von großem Menschenkenntnisreichtum. Alleine Knigges kleine Schrift- steller-Typologie, die im Kapitel „Über den Umgang mit Gelehrten und Künstlern“ Platz nimmt, gibt von seiner amüsant-anschaulichen Charakterisierungskunst Zeugnis.

So kreist der Zirkel seiner Gedanken mit solch hohem Geistesschwung und weitem Radius, daß die kleinste Kleinigkeit und größte Größe zwischenmenschlichen Mitein- anders ausgewogen zu Wort kommen.

Es ist ein anregender, ja, geradezu spannender Genuß, dem wohlformulierten, kom-plexen Satzbau zu lauschen. Die lobenswert-vielsaitigen stimmlichen und emotionalen Nuancen, mit denen Christoph Maria Herbst uns Knigges Ausführungen ins Ohr kompli-mentiert, tragen nicht unwesentlich zu diesem Hörvergnügen bei und verleihen den Worten des Autors lebhaften Atem.

Einer kleinen kritischen Anmerkung zur nachlässigen Wahl des Bildhintergrundes der inneren CD-Hülle kann ich mich indes nicht enthalten. Eine elegante Ballszenerie wäre zwar durchaus angemessen, gleichwohl sollte doch diese Szene historisch zum Erster-scheinungsjahr von Knigges Buch passen. Die Illustration, welche hier eingesetzt wurde, „spielt“ ungefähr im Jahre 1920/30. Dies ist, halten zu Gnaden, gute 130 -140 Jahre zeitversetzt.

Hingegen fügen sich die feinen musikalischen Intermezzi (Carl Philipp Emanuel Bach, gespielt vom Pianisten Christoph Grund) harmonisch und der Lebensepoche Knigges gemäß zwischen die Textpassagen. Auch die augenzwinkernde Verkleidung des Sprechers Christoph Maria Herbst als Freiherr Knigge ist für die Titelbildgestaltung des Hörbuches ein sehr gelungener Blickfang.

Zum Ausklang möge nun der Autor das letzte Wort haben:

„Sei lieber das kleinste Lämpchen,
das einen dunklen Winkel mit eigenem Lichte erleuchtet,
als ein großer Mond einer fremden Sonne oder gar Trabant eines Planeten!“

Hier entlang zum Hörbuch und zur HÖRPROBE auf der Verlagswebseite:
Über den Umgang mit Menschen

Der Autor:

Adolph Freiherr Knigge kam am 16. Oktober 1752 auf dem väterlichen Gut Bredenbeck bei Hannover zur Welt und verließ dieselbige am 6. Mai 1796 in Bremen im Alter von nur 43 Jahren. Falls Sie sich fragen, wo denn das blaublütige „von“ geblieben sei, so kann ich Ihnen versichern, daß der Herr Knigge seinen Adelstitel höchstselbst abgelegt hatte.
Der „freie Herr Knigge“, wie er sich selbst zu nennen pflegte, war ein erfolgreicher und bekannter Schriftsteller von Theaterstücken und Romanen sowie von pädagogischen, politischen und satirischen Texten. Darüber hinaus übersetzte er die »Bekenntnisse« von Rousseau ins Deutsche.

Der Sprecher:

»Christoph Maria Herbst, 1966 in Wuppertal geboren, arbeitete als Bankkaufmann, bevor er sich der Schauspielerei widmete.
Doch schon während seiner Bankausbildung engagierte sich Christoph Maria Herbst in der Theaterszene in Wuppertal. Bekannt wurde er später vor allem durch seine Rollen in Filmen wie Michael Herbigs »(T)Raumschiff Surprise – Periode 1«, in der Edgar-Wallace-Parodie »Der WiXXer« und der Fortsetzung »Neues vom WiXXer«. Sein komödiantisches Talent stellte er weiterhin in der Rolle des »Stromberg« in der gleichnamigen Fernseh-serie unter Beweis. Für diese ist er mehrfach ausgezeichnet worden, u. a. mit dem Adolf-Grimme-Preis und dem Deutschen Comedypreis.
Für DAV hat Christoph Maria Herbst schon mehrere Hörbücher gelesen, u. a. den packenden Thriller »Still« von Zoran Drvenkar, das Hörbuch »Kängt ein Guru« sowie die lustigen Lesungen der Sprüche der Website SMSvonGesternNacht.de.«

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Zwischen zwei Sternen

  • von Becky Chambers
  • Roman
  • Originaltitel: »A Closed and Common Orbit«
  • Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karin Will
  • Wayfarer-Universum Band 2
  • Fischer TOR Verlag   Februar 2018  www.tor-online.de
  • Taschenbuch
  • 464 Seiten
  • 9,99 € (D), 10,30 € (A)
  • ISBN 978-3-596-03569-4

INTERGALAKTISCH

Buchbesprechung  von Ulrike Sokul ©

Wie ich in der Besprechung des ersten Bandes aus dem Wayfarer-Universum schon an- gekündigt hatte, gewährt uns der zweite Band einen ausführlichen Blick in das Leben der Technikerin Pepper. Doch zuvor bedarf es eines kurzen Rückblicks zum Ausgang des ersten Bandes.

Die Wayfarer ist ein Tunneler-Schiff und bohrt im Auftrag der GU (Galaktische Union) an bestimmten Koordinaten stabilisierte Wurmlöcher ins All. Bei der letzten Bohrung wurde die Wayfarer von einem Raumschiff der kriegerischen Toremi mit einer Strahlen- dosis beschossen, wodurch es zu einem katastrophalen Kaskadenversagen kam, in dessen Folge die empfindungsfähige KI des Raumschiffs kollabierte. Das Wurmloch konnte nicht stabilisiert werden, und es gelang den vereinten Kräften der Crew nur knapp, das beschädigte Schiff aus der Gefahrenzone zu manövrieren.

In all den Jahren der Zusammenarbeit ist die KI der Besatzung ans Herz gewachsen, sie wird von allen liebevoll mit dem Spitznamen „Lovey“ angesprochen, und der Comptech Jenks ist sogar in die KI verliebt. Jenks hatte vor dem letzten Bohrauftrag seine alte Freundin Pepper gebeten, ein Bodykit für Lovey zu beschaffen, um sie eines Tages vom Schiff in einen mobilen Körper zu transferieren.

Der Neustart der KI-Systeme birgt die Gefahr, daß die alte „Lovey“ mit ihrer im Aus-tausch mit der Crew geformten Persönlichkeit gelöscht wird und nur das jungfräuliche Startprogramm einer Schiffs-KI übrig bleibt. Genau dies geschieht, doch da Jenks die vage Hoffnung hegt, daß die alte Lovey in der neuen Lovey datenspeichermäßig wieder-erwacht, bittet er Pepper, die neue Lovey  im Bodykit mitzunehmen und sich um sie zu kümmern. Das ist zwar illegal, denn die Gesetze der GU verbieten sogenannte „Mime-tische KI-Gehäuse“, aber Pepper kümmert das wenig, und sie reist mit der KI auf den neutralen Planeten Port Coriol, wo sie einen Schrott- und Reparaturladen betreibt.

Die KI sucht sich den neuen Namen Sidra aus und kämpft sich durch den reduzierten Wahrnehmungshorizont eines „menschlichen“ Körpers. Als multitaskingfähige Schiffs-KI wurde sie darauf programmiert, stets alles über diverse Kameras rundum im Überblick zu behalten, jede Bewegung und jede Veränderung zu registrieren und auszuwerten, was angesichts der räumlichen Unbegrenztheit und der unendlichen Detailfülle eines mulitispeziär besiedelten Planeten und des organisch-eingeschränkten Blickwinkels einer menschlichen Körperkonstruktion eine kognitive Herausforderung darstellt.

Pepper steht Sidra hilfreich zur Seite, und sie findet auch nach und nach technische Lösungen für Sidras Anpassungsschwierigkeiten. Besonders gefährlich und kniffelig ist ein internes Protokoll, daß es Sidra unmöglich macht, zu lügen oder direkte Handlungs- aufforderungen zu übergehen.

Als Sidra fragt, warum Pepper das Risiko eingehe, eine KI bei sich zu Hause aufzuneh-men, antwortet Pepper, daß sie etwas gutzumachen habe, denn sie sei von einer KI großgezogen worden.

In Rückblenden erfahren wir nun von Peppers Lebenslauf. Pepper wurde auf dem Plane-ten Aganon geboren bzw. gezüchtet. Auf Aganon befindet sich die letzte Kolonie der Bewegung „Bessere Menschheit“, die wegen ihrer extremen klassengesellschaftlichen Orientierung aus der GU ausgeschlossen wurde. Die Verbesserer manipulieren die Gene entsprechend der gesellschaftlichen Rolle und der Arbeit, die ein Mensch später ausfüllen soll. Menschen, die für niedere Arbeiten als Arbeitssklaven gezüchtet werden, bekommen nur zwei Genmanipulationen: Sie haben keine Körperbehaarung und sie sind unfruchtbar.

Damals hieß Pepper Jane 23, sie war eine von vielen Janes einer Generation, die in einer riesigen Fabrik Schrott säubern und wiederverwertbare Teile aussortieren. Erzogen und bewacht werden die Janes von maschinellen Müttern ohne Gesicht, sie lernen nur die Sachverhalte und Wörter, die für ihre Arbeitsaufgaben gebraucht werden. Jedes Jahr bekommen sie etwas anspruchsvollere Schrottaufgaben und ziehen in einen anderen Teil der Fabrik um.

Jede Jane hat eine dauerhafte Schlafpartnerin, da die „Mütter“ der Ansicht sind, daß diese Form der Nestwärme und zwischenmenschlichen Nähe für die Janes gesundheits-förderlich sei. Jane 23 teilt sich mit Jane 64 das Bett, und die beiden verstehen sich gut und haben einander wirklich gern.

Jane 23 findet Gefallen an ihrer Arbeit, sie ist aufgeweckt und tüftelt sich gerne durch schwierige Schrotteile, wofür sie von den Müttern gelobt wird. Als Jane zehn Jahre alt ist, kommt es zu einer Explosion, bei der einige Janes sterben und viele verletzt werden. Jane 23 erblickt durch die aufgerissene Fabrikwand zum ersten Mal den blauen Himmel und die unendliche Schrotthaldenlandschaft außerhalb der Fabrik. Dies macht einen solch nachhaltigen Eindruck auf sie, daß sie nach einigen Tagen heimlich nächtens gemeinsam mit Jane 64 in die Fabrikhalle zurückgeht, um Jane 64 den blauen Himmel zu zeigen.

Diesmal ist der Himmel zwar nicht blau, sondern schwarz, aber dafür voller silbrig funkelnder Lichter und Monde, was Jane 23 nicht minder fasziniert, und sie traut sich einige Meter nach draußen, während Jane 64 noch zögert. Jane 23 geht noch etwas weiter, bis eine Mutter auftaucht, Jane 64 festhält und Jane 23 befiehlt, sofort zurück-zukommen. Jane 23 schwankt kurz zwischen ihrer Anhänglichkeit an Jane 64 und ihrem Freiheitsdrang, und als Jane 64 ihr zuruft „Lauf!“, da läuft sie und läuft und läuft, und sie wird nicht verfolgt.

Nach einer Weile wird Jane 23 jedoch von wilden Hunden gejagt und ist fast am Ende ihrer Kräfte, nur reiner Überlebenswille hält ihre Beine in Bewegung. Plötzlich hört sie eine Stimme, die ihr zuruft, sie solle zu ihr laufen, sie könne sie beschützen. Jane sieht ein altes Shuttle aufleuchten und eine geöffnete Tür. Sie erreicht das Shuttle, die Tür schließt sich hinter ihr und die Hunde bleiben draußen.

Das Shuttle verfügt über Solarzellen, und deshalb hat es ausreichend Energie, um die schiffseigene KI sowie einige Bord-Funktionen aktiv zu halten. Die KI hat den Namen Eule und kümmert sich fortan um Janes Schutz und Bildung. Es gibt noch brauchbare Vorräte, Medikamente, Kleidung, Werkzeuge, ein Wasserfiltersystem usw.

Eules einfühlsame Erziehung eröffnet Jane neue Horizonte, sie erfährt von anderen Planeten, Spezies und Gesellschaftsformen, sie lernt lesen und schreiben, und ihr Wort-schatz erweitert sich beträchtlich. Denn in der Fabrik gab es nur gutes und schlechtes Benehmen, falsch und richtig sowie mechanisch-technisch-physikalische Adjektive, jedoch keine differenzierten Gefühlsausdrücke. Wieviel Welterschließung und Selbster-kenntnis in Worten liegt, wird bei Janes Wortschatzwachstum sehr anschaulich und anrührend deutlich.

Jane bringt technisches Grundwissen mit und unerschöpfliche Wißbegier, und sie beginnt kleinere Reparaturen am Shuttle vorzunehmen. Die unendliche Schrotthalde hat den Vorteil, daß genügend Ersatzteile und brauchbare Materialien zur Verfügung stehen, und den Nachteil, daß dort außer einem eßbaren Pilz keine Nahrungsmittel wachsen. Außerdem muß Jane aus einiger Entfernung Wasser herbeiholen, was wegen der wilden Hunde gefährlich ist. Mit Eules Hilfe baut sich Jane eine Waffe und kann sich erfolgreich gegen die Hundeangriffe verteidigen.

Eule ermutigt Jane, das Shuttle zu reparieren, damit sie den Planeten verlassen und den Einflußbereich der GU erreichen können. Es dauert neun Jahre, bis Jane das Shuttle soweit in Stand gesetzt hat, daß man damit fliegen kann. Treibstoff organisiert sie von einem in größerer Entfernung befindlichen Frachtdrohnenlandeplatz, wo der Schrott abgeladen wird. Dort findet sie in Laurian, einem Wachmann, einen unerwarteten Ver-bündeten. Laurian war eigentlich für eine Führungskraftrolle gezüchtet worden, wegen seines Stotterns wurde er dann jedoch aussortiert und zum Wachdienst versetzt.

Jane, Laurian und Eule gelingt die Flucht, und sie werden von der GU aufgenommen. Das Shuttle, inklusive der integrierten KI, wird allerdings beschlagnahmt, da es gegen diverse Raumflugsicherheitsvorschriften verstößt – Bürokratie ist wahrlich universell.

Auf dem Planeten Port Coriol beginnen Jane und Laurian miteinander ein neues Leben. Jane nennt sich fortan wegen ihrer Begeisterung für Gewürze Pepper und Laurian nennt sich Blue. Pepper arbeitet weiter als Schrott- und Reparatur-Technikerin, und Blue wird Maler.

Niemals gibt Pepper die Suche nach dem Verbleib des alten Shuttles auf, weil die Ki-Eule für sie gleichsam ein Familienmitglied ist. Eines Tages erhält sie die Information, daß ihr altes Shuttle in einem „Museum für interstellare Migration“ gestrandet sei …

Die Rückblenden in Janes/Peppers Kindheit und Jugend wechseln sich ab mit den Erfah-rungen Sidras auf Port Coriol. Das ergibt interessante Perspektivwechsel. Jane wird von der KI-Eule in Hinsicht auf das Leben mit Menschen und anderen Spezies geschult, u.a. durch das Erlernen der Sprache Klip, der gemeinsamen Sprache aller GU-Mitglieder, und durch kosmopolitischen Biologie- und Geschichtsunterricht.

Umgekehrt bemüht sich Pepper, die KI-Sidra mit dem wirklichen Leben und echten zwischenmenschlichen Interaktionen vertraut zu machen. Theoretisches Wissen ist kein Problem für Sidra, sie kann sich benötigtes neues Sachwissen oder Sprachkenntnisse einfach herunterladen und integrieren, aber unmittelbare Kontakte mit Menschen und anderen Spezies und körperliche Gefühlsreaktionen und echte Sinneserfahrungen sind anfangs eine große – teilweise aber auch angenehme – Herausforderung für Sidra.

Auch der zweite Wayfarer-Band wartet mit detailverliebt-einfallsreicher, zukunfts- musikalischer Technik und komplexer, intergalaktischer Gesellschaftsordnung sowie vielfältigen, teilweise buchstäblich kunterbunten Spezies auf. Faszinierend-unkonven- tionelle, interspeziäre, dreigeschlechtliche Variationen familiären Zusammenlebens spielen eine inspirierende Nebenrolle. Spannung und Humor kommen dabei auch diesmal nicht zu kurz.

Durch die beiden sehr ausgereiften Hauptfiguren Jane/Pepper und Sidra werden mit lebhafter Anschaulichkeit ethische, philosophische und sozialkritische Betrachtungen rund um Genmanipulation, künstliche und organische Intelligenz, Freiheit und Unfrei- heit, Bildung und Bindung sowie Lebenssinn und Bestimmung inszeniert.

„Bei den Sternen“: Davon will ich noch viel mehr lesen. Band drei der Wayfarer-Serie ist schon in greifbarer Sichtweite …

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite: https://www.fischerverlage.de/buch/becky_chambers_zwischen_zwei_sternen/9783596035694

Hier entlang zu einer weiteren begeisterten Rezension auf dem Buch-Blog „Feiner reiner Buchstoff“: https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2018/02/12/flowerpower-goes-scifi-die-zweite/

Hier entlang zum ersten Band: Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten
Zum dritten Band: Unter uns die Nacht
Zum vierten Band: Die Galaxie und das Licht darin

Die Autorin:

»Becky Chambers ist als Tochter einer Astrobiologin und eines Luft- und Raumfahrttechnikers in Kalifornien aufgewachsen. Die Zeit zum Schreiben ihres ersten Romans hat sie sich durch eine Kickstarter-Kampagne finanziert. Das Buch wurde prompt zu einem Überraschungserfolg.«

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Giesbert hört das Gras wachsen

  • Band 2 vom Giesbert, dem Regenrinnenwicht
  • Text und Illustration von Daniela Drescher
  • Verlag Urachhaus, August 2018  www.urachhaus.com
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • 104 Seiten
  • Format: 17 x 24 cm
  • 18,00 € (D)
  • ISBN 978-3-8251-5174-4
  • Kinderbuch ab 5 Jahren

LIEBENSWERTER  GARTENGESELLE

Kinderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Das Wiederlesen mit dem Regenrinnen-Wicht Giesbert ist die reine Freude und beglückt mit schelmischem Humor, Naturverbundenheit und lebhaftem Miteinandersein.

Falls Sie Giesbert noch nicht kennen, nehmen Sie doch erst einmal eine Leseabzweigung zu meiner Besprechung des ersten Bandes: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/11/10/giesbert-in-der-regentonne/

Giesbert lebt nun schon eine ganze Weile im Hause der Autorin und Illustratorin Daniela Drescher. In der warmen Jahreszeit wohnt er im Garten und planscht in seiner Regen-tonne, in der kalten Jahreszeit wohnt er im Haus und planscht in der Badewanne.

Er ist ein freundlicher und hilfsbereiter kleiner Naturgeist, der voller Lebensfreude und Entdeckerlust ist und dankbar die Annehmlichkeiten jeden Tages wahrnimmt, auf seiner Gartenschaukel schaukelt, fröhliche Melodien auf seiner Holunderholzflöte spielt und gelegentlich, z.B. nach dem Kosten frisch gekochter Himbeermarmelade oder einer philosophischen Begegnung mit einem Raben, ein kleines Gedicht reimt.

Illustration Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2018

In dreizehn Episoden nehmen wir Leseanteil an Giesberts Alltag, seinen konstruktiven Problemlösungen, seiner Fähigkeit, einfache Freuden wertzuschätzen, und seinem freundschaftlichen Miteinander mit benachbarten Wichteln, Pflanzen und Tieren.

Illustration Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2018

Allerdings kann er auch mal wütend werden, z.B. wenn ein frecher Ziegenbock störrisch seine Regentonne attackiert. Giesberts Wut äußert sich dann darin, daß er einen roten Kopf bekommt und Wasser zum Überlaufen bringt. Im Falle des unnachgiebigen Ziegen-bocks entsteht sogar eine kleine Regenwolke, die exakt auf den Ziegenbock abregnet, und das wirkt ungemein abschreckend.

Illustration Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2018

Giesbert lernt einen klugen Raben kennen, der seine Frage, warum der Himmel blau sei, damit beantwortet, daß Blau die Lieblingsfarbe der Vögel sei. Ein verirrter Wolf bekommt von Giesbert astronomische Wegweisung in den Norden, ein eigenbrötle- rischer, staubiger Eckenwicht wird mit Hilfe von Haferkeksen zu etwas mehr Umgänglichkeit bestochen.

Als Giesbert eines blühenden Frühlingsmorgens eine tote Amsel findet, wird sie von ihm und zwei Mitwichteln würdevoll beerdigt. Giesbert wird vom Kätzchen Ilvi nach einem Sturm aus dem Baum, in den der Wind ihn geweht hat, gerettet. Und am schönsten ist die spontane Geburtstagsfeier für Giesbert, der eigentlich garnicht weiß, wann er Geburtstag hat und wie alt er ist.

„Giesbert hört das Gras wachsen“ bietet auch praktische Anregungen zur Beschäftigung in und mit der Natur. So erklärt er der Autorin fachwichtelmännisch, wie man einen Lausche-Tag verbringt: Man schließe die Augen, sehe sich die Welt mit den Ohren an und sammle die Geräusche, die man dabei hört.

Die Erzählkapitel haben einen vorleseangenehmen Textumfang von vier bis acht Seiten, und sie werden von zahlreichen, teilweise ganzseitigen Bildern harmonisch begleitet.

Daniela Dreschers atmosphärisch-naturverbundenen, botanisch und zoologisch ebenso präzise wie verspielten Illustrationen verzaubern kleine und große Betrachter auf den ersten Blick.

Giesberts lebensfröhliches Wesen und Wirken, sprechende Tiere, farben- frohe, wildwüchsige Vegetation und knollennasig-knuffige Pflanzen- und Hausgeister-Wichtel sowie gelegentlich augenzwinkernde metafiktive Kommentare der Autorin vermitteln ein warmherziges und schelmisches Lese- und Vorlesevergnügen mit behutsam-beiläufigen, naturmagischen Anregungen und Andeutungen, welche die kindliche Vorstellungskraft lebhaft bereichern. So werden Märchen wahr.

Zum Ausklang noch ein Gedicht von Giesbert:

»Warum ist der Rabe schlau?
Und warum ist der Himmel blau?

Wieso können Wale singen
und das Meer zum Schwingen bringen?

Woher weiß das Spinnenkind,
wie Netze gut zu spinnen sind?

Wie viel Duft ist in der Blüte?
So viele Fragen – meine Güte!

Ist die Welt nicht irgendwie
voller Wunder und Magie?«

Daniela Drescher ©
(Seite 45)

Illustration Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2018

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE und zum anschaulichen Buchtrailer auf der Verlagswebseite: https://www.urachhaus.de/Lesen-was-die-Welt-erzaehlt/Kinderbuch/Giesbert-hoert-das-Gras-wachsen.html

Hier entlang zum ersten Giesbert-Band „Giesbert in der Regentonne“: Giesbert in der Regentonne
Hier entlang zum dritten Giesbert-Band „Giesbert und der Gluckerbach“: Giesbert und der Gluckerbach
Hier entlang zum vierten Giesbert-Band: Giesbert und die Gackerhühner“ Giesbert und die Gackerhühner

Die Autorin und Illustratorin:

»Daniela Drescher, geboren 1966 in München, ist durch ihre Illustrationen inzwischen weltweit bekannt. Von den USA über ganz Europa bis China sind ihre Bücher in den Kinderzimmern zu Hause – eine Künstlerin, die ihr Spektrum immer wieder erweitert und sich neu erfindet. Daniela Drescher gestaltet die Kinderseite im Lebensmagazin a tempo. Sie ist verheiratet und hat vier Kinder.« http://www.danieladrescher.de

Querverweis:

Hier entlang zu Daniela Dreschers erstem und ebenfalls sehr lesens- und sehenswertem Erzählbuch „Abenteuer mit Ungeheuer“: Abenteuer mit Ungeheuer
Eine romantisch-poetisch gestimmte und gelungene Symbiose aus Abenteuerlust, Naturverbundenheit und Märchen.

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