Vom Krähenjungen

  • von Sonja Kettenring
  • Roman
  • Edition W GmbH, Februar 2024  www.edition-w.de
  • gebunden
  • 224 Seiten
  • Format: 13 x 21  cm
  • 24,00 € (D), 24,70 € (A)
  • ISBN 978-3—949671-1-4

9783949671104 Vom Krähenjungen

T I E F K Ü H L G E F Ü H L E

Rezension von Ulrike Sokul ©

Dieser Roman hat eine unheimliche Lesesogwirkung, und zwar eine buchstäblich unheimliche.

In Moosbruck, einem kleinen Dorf in der Nähe Münchens, meiden alle den Waldsee, der im Winter niemals zufriert. Der Sage nach ist dieser See in einer Wintersturmnacht mit Gewitter und zahlreichen Blitzeinschlägen sowie nachfolgendem Starkregen plötzlich entstanden, und auf dem Grunde des Sees brenne immer noch das von den Blitzen ausgelöste Feuer.

Nur einer schwimmt furchtlos in diesem See, der sogenannte Krähenjunge, der Groß- neffe von Edgar, dem der Lechnerhof in der Nähe des Sees gehört. Der Krähenjunge heißt mit bürgerlichem Namen Samuel, und als Kind ist er nur gelegentlich zu Besuch im Dorf. Niemand will etwas mit dem Krähenjungen zu tun haben, alle haben Angst vor seinen dunklen, dunklen Augen mit dem Blick eines viel älteren Menschen und vor seinem Lächeln.

Sein Großvater hatte einst die dörfliche Bäckereiverkäuferin Anna (Edgars Schwester) vom Fleck weg geheiratet und mit nach München genommen. Anna bekam eine Tochter, und die Dörfler munkelten, daß dies dem Münchner gewiß nicht gefallen habe, denn er sei einer, der einen Sohn bevorzuge. Später bekam Annas Tochter Zwillinge: Raffael und Samuel.

Inzwischen ist Samuel Anfang Zwanzig, und er kehrt nach längerer Abwesenheit und dem Tode Edgars zurück ins Dorf und zieht im Lechnerhof ein. Die alten Frauen bekreuzigen sich und greifen nach dem Rosenkranz, wenn von ihm die Rede ist.

Karoline, alleinerziehende Mutter der fünfjährigen Emmi, arbeitet als Verkäuferin in der Dorfbäckerei und wird von ihrer Chefin eindringlich darauf hingewiesen, sich vom Krähenjungen fernzuhalten. Doch Samuel betritt die Bäckerei, verlangt zwei Rosinen-brötchen – und Karoline ist verloren. Seltsam ferngesteuerte wie auf vorbestimmten Bahnen festgelegte zwangswiederholungshafte Entwicklungen nehmen ihren tragischen und tödlichen Verlauf. Nur ein winziger Lichtschimmer öffnet sich ganz zum Schluß.

Dieser Roman wird aus unterschiedlichen Personenperspektiven erzählt. Puzzlestück für Puzzlestück setzt sich langsam ein ganzes Bild zusammen, bei dem indes bis zum Schluß ungesagte Leerstellen bleiben. Die Hauptfiguren kommen oft zu Wort und manche Personen nur einmal, so beispielsweise verschiedene ehemalige Mitschüler Samuels, die eine bestimmte Facette seines verschlossenen Wesens aus ihrem Erleben beschreiben. Stets geht dabei von Samuels Präsenz eine unerklärliche, dunkle, fast suchtauslösende Anziehungskraft und hörbare Stille aus.

Die Passagen, in denen der Krähenjunge selbst erzählt, sind im Buch mit einer Krähen-vignette markiert. Obwohl Samuel nur wenige Details klar und deutlich benennt und sich in kryptischen Andeutungen ergeht, erfährt man, daß er von seinem Großvater einem rigorosen Überlebenstraining unterzogen wurde.

Samuel kann in eiskaltem Wasser schwimmen, er kann jagen und Wild zerlegen, Hunger, Durst und Schmerzen aushalten. Der Großvater ist zwar inzwischen gestorben, wirkt aber nach wie vor wie ein böser Geist in ihm. Samuel sehnt sich zutiefst danach, von dieser verfluchten, großväterlichen Willensüberwältigung frei zu werden, ja, eigentlich möchte er aufhören zu sein. Doch die lieblose traumatische familiäre Verstrickung hält ihn fest in ihrem Bann. Egal, welche waghalsigen Risiken Samuel eingeht, stets überlebt er die lebensgefährlichen Situationen, in die er sich absichtlich begibt, um sich von diesem fremdbestimmten Leben und Leiden zu befreien.

Der Schreibstil der Autorin ist sehr atmosphärisch und eindringlich, der See und der Wald in dieser Geschichte sind gewissermaßen von menschlicher Bosheit vergiftet, ja, denaturiert. Es ist keine angenehme Atmosphäre, es gibt nur wenige Lichtblicke, und während der Lektüre wurde mir andauernd kalt.

Karoline und Samuel sowie einige Nebenfiguren sind Marionetten unausweichlicher Verstrickungen, und ihre Gefühlsskala kann ich nur als tiefgekühlt oder schockgefrostet beschreiben. Und auch die Dorfbewohner, die als Zuschauer der Tragödie fungieren, sind mir zu ängstlich, ohnmächtig, unterwürfig und zu willenlos. Alle Personen, die sich auf den Krähenjungen näher einlassen, werden in buchstäbliche Mitleidenschaft gezogen, und manche  finden – wenn auch von Samuel unbeabsichtigt – den Tod. Ich sage es ganz offen: Obwohl es fiktive Charaktere sind, hätte ich ihnen gerne eine systemische Familientherapie verordnet!

Emmi, mit ihrer Hellsichtigkeit und ihrer kindlichen Unbefangenheit, Dinge einfach an- und auszusprechen, ist eine der wenigen Lichtgestalten in diesem Buch. Die Erwachsenen verschweigen zu viel, doch das Verschweigen macht das Geschehene nicht ungeschehen, im Gegenteil, es evoziert unweigerlich eine beinahe archaische Reininszenierung, um endlich ans Licht zu kommen.

Obwohl mich die magische Anziehungskraft der dunklen menschlichen Seite und bös-williger charakterlicher Abgründe abschreckt, nahmen mich diese Schattenfiguren, Düsterwälder und vergifteten emotionalen Gewässer beim Lesen unwillkürlich gefangen. Die Sprache und die außergewöhnliche erzählerische Dramaturgie dieses Romans entfalten einen bemerkenswerten Lesemagnetismus, der noch lange nachhallt.   

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://westendverlag.de/Vom-Kraehenjungen/2060

Hier entlang zu einer weiteren Rezension aus der Feder des bloggenden Buchhändlers Hauke Harder: Leseschatz Sonja Kettenring Vom Krähenjungen

Die Autorin:

»Sonja Kettenring, 1978 in Heidelberg geboren, lebt im Kraichgau. Sie studierte Wirtschaftsinformatik, entwickelte Software und lernte, wie man Programmcode von überflüssigem Ballast befreit. Eine Fähigkeit, die sich auch auf das Schreiben von Geschichten positiv auswirkt. Geschichten schreibt sie mittlerweile viel lieber als Programme.«

Ein Teufel stirbt immer zuletzt

  • Der Donnerstagsmordclub
  • oder Ein Teufel stirbt immer zuletzt
  • 4. Band der MORDCLUB-Serie
  • von Richard Osman
  • Originaltitel: »The Last Devil To Die«
  • Aus dem Englischen von Sabine Roth
  • List Verlag, November 2023  www.ullstein.de
  • Klappenbroschur
  • 432 Seiten
  • 17,99 € (D), 18,5 € (A)
  • ISBN 978-3-471-36051-4

LEBEN  UND  STERBEN  LASSEN

Rezension von Ulrike Sokul ©

Wieder habe ich das nicht unbeträchtliche Vergnügen, Ihnen einen neuen Fall des Donnerstagsmordclubs leseschmackhaft zu machen. Für jene, die mit den Charakteren dieser Krimiserie noch nicht vertraut sind, folgt nun eine kurze Vorstellungsrunde: Die Mitglieder des Donnerstagsmordclubs leben in Coopers Chase, einer Seniorensiedlung in der Grafschaft Kent, und sie gehen einer spannenden und anspruchsvollen Freizeitbe-schäftigung nach, die den Reiz von Bridgespielen, Puzzlelegen und Teetrinken weit übersteigt – sie klären ungelöste Kriminalfälle auf.

Folgende Mitglieder gehören dem Club an: Die optimistische Joyce Meadowcroft, passio-nierte Kuchenbäckerin und ehemalige Krankenschwester, die strenge, mißtrauische Elizabeth Best, ehemals Geheimagentin, der lautstarke und handfest zupackende Ron Ritchie, ehemaliger Gewerkschaftsführer, auch als der „Rote Ron“ betitelt, sowie der elegante, feinsinnige Ibrahim Arif, ein Psychiater im Ruhestand, der gleichwohl nach wie vor das eine oder andere therapeutische Gespräch anbietet.

Als deutlich jüngerer Außendienstmitarbeiter und zuverlässiger Freund fungiert der fast lückenlos tätowierte Bogdan Jankowski, seines Zeichens polnischer Universalhand- werker, Schachspieler und Pünktlichkeitsfanatiker sowie zielsicher-waffenumgangs- kundiger Chauffeur.

Die vier rostig-rüstigen Privatermittler aus Coopers Chase haben diesmal sehr persön-liche Gründe, einen ganz bestimmten Mord aufzuklären. Denn ein guter Freund, der Antiquitätenhändler Kuldesh Shamar, wurde kaltblütig ermordet, und die offizielle Polizei ist mal wieder bei weitem nicht so findig, wie es dem Donnerstagmordclub wünschenswert erscheint.

Kurz nach den Weihnachtsfeiertagen hatte ein teuer gekleideter Mann Kuldeshs Anti-quitätengeschäft betreten und ihm für einen Fünfziger ein altes, häßliches Terrakotta- gefäß verkauft – mit der Maßgabe, dieses Gefäß bis zum nächsten Tag unter der Theke wohl zu verwahren und es dann einem eingeweihten Käufer für fünfhundert Pfund weiterzuverkaufen. Kuldesh wußte aus Erfahrung, daß in solchen Fällen Widerstand zwecklos bzw. lebensgefährlich wäre und spielte mit. Es war keine Frage für Kuldesh, daß dieses Gefäß vermutlich Heroin oder Kokain enthält.

Auch der Antiquitätenhandel bewegt sich manchmal am Rande der Legalität. „Idealismus auf der einen Seite, kriminelle Energie auf der anderen, das ist der Stoff, aus dem der Antiquitätenhandel ist.“ (Seite33)

Warum und von wem wurde Kuldesh erschossen? Und wo hat Kuldesh vor seinem Tod das verdammte Terracottakästchen unauffindbar raffiniert versteckt?

Hier ist Drogenhandelskompetenz gefragt, und der Psychiater Ibrahim nutzt seine wöch-entliche Therapiesitzung mit der Drogengroßhändlerin Connie Johnson, die vor einiger Zeit vom Donnerstagsmordclub ins Gefängnis manövriert wurde (siehe Band 2 Der Mann, der zweimal starb), um Erkundigungen und fachkundige Ratschläge einzuholen sowie um taktische Gerüchte in Umlauf zu bringen.

Die unkonventionellen Ermittlungen des Donnerstagsmordclubs führen schließlich vom Drogenschmuggelmilieu in die Kunstfälscherszene. Die Drogenganoven suchen den Inhalt des Kästchens und jemand anderes offenbar das Kästchen selbst.  

Diesmal ist Joyce die führende, ja, geradezu todesmutige Kraft bei den amateurdetek-tivischen Nachforschungen des Mordclubs. Denn Elizabeth zieht sich angesichts der rapide fortschreitenden Demenz ihres Mannes Stephen etwas zurück. Sie muß schwere Entscheidungen treffen und von der Liebe ihres Lebens Abschied nehmen. Gleichwohl trägt ihr Scharfsinn ebenfalls zur Aufklärung des Falles bei. Generell sind die Amateur-detektive der Polizei zwar nicht immer ermittlungstechnisch, so aber doch ermittlungs-psychologisch stets einige Schritte voraus.

Neben der komplexen kriminalistischen Handlung mit spannenden Klippenhänger-Szenenwechseln, ungewöhnlichen Querverbindungen, skurrilen Situationen, reichlich schwarzem Humor, altersweiser Selbstironie und sehr amüsanten filmreif-schlag-fertigen Dialogen ist das zwischenmenschliche Zusammenspiel der sympathisch-eigenwilligen Romanfiguren die Hauptstärke der MORDCLUB-Serie von Richard Osman. Die Beziehungsdynamik zwischen den Charakteren gibt viel Raum für einfühlsame Gedanken und Betrachtungen zu Leben und Tod, Vergänglichkeit und Trauer, Anfängen und Abschieden, Glück und Gnade, Verbundenheit und Mitgefühl sowie zum Trost tragfähiger Freundschaften und alltäglicher kleiner Freuden.

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.ullstein.de/werke/der-donnerstagsmordclub-oder-ein-teufel-stirbt-immer-zuletzt/paperback/9783471360514

Hier entlang zum ersten Band: Der Donnerstagsmordclub
Hier entlang zum zweiten Band:
Der Mann, der zweimal starb
Hier entlang zum  dritten Band: Der Donnerstagsmordclub und die verirrte Kugel

Der Autor:

»Richard Osman ist Autor, Produzent und Fernsehmoderator. Seine Serie über die vier scharfsinnigen und liebenswerten Ermittlerinnen und Ermittler des Donnerstagsmordclubs hat ihn über Nacht zum Aushängeschild des britischen Krimis und Humors gemacht. Für sein Debüt Der Donnerstagsmordclub wurde er bei den British Book Awards 2020 zum ›Autor des Jahres‹ gewählt. Er lebt mit Frau und Katze in London.«

Die lange Reise des alten Gnoms

  • Text und Illustrationen von Pirkko-Liisa Surojegin
  • Originaltitel: »Maahisen viimeinen matka«
  • Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat
  • Verlag Urachhaus, August 2022 www.urachhaus.com
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 26 x 21 cm
  • 24 Seiten
  • 17,00 €
  • ISBN 978-3-8251-5210-9
  • Bilderbuch ab 5 Jahren

Die lange Reise des alten Gnom
LICHTHEIMAT  DER  SEELE

Bilderbuchrezension von Ulrike Sokul ©

Der älteste der Wurzelgnome verabschiedet sich von seinen Mitgnomen und verkündet, daß er sich auf eine Reise begebe. Fragen nach dem Wohin dieser Reise beantwortet er nicht, er erinnert nur daran, daß die Gnome, alles was sie von ihm hinsichtlich der Waldfürsorge und eines harmonisch-friedlichen Lebens gelernt hätten, bitte beachten mögen.
Am nächsten Morgen macht sich der alte Gnom auf den Weg durch den Wald in Richtung der Berge. Der Wald riecht schon nach Winter. In einiger Entfernung wird der Gnom von einem Wolf begleitet. Am Abend erreicht er einen See und legt sich an dessen Ufer zum Schlafen nieder. Der Wurzelgnom träumt vom Sommer und von den Gnomen, die er verlassen hat.  
Über Nacht hat es geschneit, und der Gnom wird von einem großen Elch geweckt. Der Gnom ist verwundert und sorgt sich, wie er sein Reiseziel angesichts der dicken Schneedecke noch rechtzeitig erreichen könne. Doch der freundliche Elch bietet ihm sogleich an, ihn an „den Ort seiner Bestimmung“ zu bringen.
Die lange Reise des alten Gnom. Elch

Illustration von Pirkko-Liisa Surojegin © Verlag Urachhaus 2022

Also klettert der Gnom auf die Schaufeln des Elchs und läßt sich tragen. Bei einem bemoosten Stein hält der Elch an und verkündet, sie seien am Ziel. Der Gnom setzt sich auf den Stein und ist etwas verunsichert. Zuvor leitete ihn ein inneres, gewissermaßen wortloses Wissen, doch nun fühlt er sich müde und schwer, und er weiß nicht weiter.
Nach einer Warteweile erscheint ein zartflügeliges, lichtleuchtendes Wesen und setzt sich auf die Hand des Gnoms. Das Lichtwesen stellt sich mit heller Stimme als Licht- strahl vor und sagt ihm, daß es gekommen sei, um ihn ins Licht zu begleiten. Da wird es dem Gnom ganz leicht ums Herz, und er versteht jetzt, wohin seine Reise geht. Weitere Lichtwesen kommen und bahnen ihm einen „glitzernden Weg“; heiter und vertrauensvoll folgt der Gnom der Lichtspur.
Die lange Reise des alten Gnom. Elfe

Illustration von Pirkko-Liisa Surojegin © Verlag Urachhaus 2022

In diesem Bilderbuch wird der Kreislauf des Werdens und Vergehens auf feinfühlige und naturverbundene Weise erzählt. Sowohl die Worte als auch die Illustrationen verfügen über eine unaufdringliche naturmagisch-poetische Ausstrahlung, welche die Sterblichkeit aller Geschöpfe in ein größeres Leben einbettet. Hier erscheint der Tod als ein beinahe zärtlicher Wechsel der Daseinsform.
Für Kinder ist dies eine Darstellung und Deutung, welche Tod und Sterblichkeit auf leise, sanfte Weise thematisieren, ohne sie zu dramatisieren. So bietet dieses Bilder- buch gleichermaßen eine Einladung zum Gespräch wie zur tröstlichen Betrachtung.
Und vielleicht gibt es auch Kinder, die – so wie ich als Kleinkind – noch eine Erinnerung daran haben, daß sie als Lichtfunkenseele auf die Erde kamen. Dann wäre die Lektüre von „Die lange Reise des alten Gnoms“ eine willkommene Bestätigung solch inneren Wissens.

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.geistesleben.de/Lesen-was-die-Welt-erzaehlt/Bilderbuch/Die-lange-Reise-des-alten-Gnoms.html

Die Autorin & Illustratorin:

»Pirkko-Liisa Surojegin, geboren 1950 in Kuopio, Finnland, studierte Grafikdesign an der Kunst- und Designuniversität Helsinki und ist seit 1981 freiberufliche Illustratorin und Autorin. Für ihre stimmungsvollen, fein ausgearbeiteten Bilder, in Lehrbüchern, Bilder- und Märchenbüchern sowie dem Nationalepos ›Kalevala‹, ist sie in Finnland so berühmt wie beliebt.«

Die Übersetzerin:

»Elina Kritzokat, geboren 1971, ist eine deutsch-finnische Literaturübersetzerin. Sie studierte Literaturwissenschaft und übersetzt seit 2002 Belletristik, Kinder- und Jugend-literatur, Lyrik, Comics, Sachbücher, Theaterstücke und Filme aus dem Finnischen ins Deutsche. Elina Kritzokat lebt in Berlin. «

Querverweis:

Hier entlang zu einem weiteren naturmagischen Kinderbuch von Pirkko-Liisa Surojegin „Untu und das Geheimnis des Lichts“ Untu und das Geheimnis des Lichts
Und hier entlang zu einem weiteren Bilderbuch von Pirrko-Liisa Surojgin „Die tanzende Waldmaus“ Die tanzende Waldmaus

Der Mann, der zweimal starb

  • von Richard Osman
  • Originaltitel: »The Man Who Died Twice«
  • aus dem Englischen von Sabine Roth
  • Band 2 der MORDCLUB-Serie
  • List Verlag, Januar 2022 www.ullstein.de
  • Klappenbroschur
  • 448 Seiten
  • ISBN 9783471360132
  • 16,99 € (D), 17,50 € (A), 19,50 sFr.

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VON  EXEHEGATTEN  UND  EXAGENTEN

Oder: Diamonds are not always a girl‘s best friend

Rezension von Ulrike Sokul ©
Wer die vier Amateur-Detektive aus der luxuriösen Seniorenresidenz Coopers Chase (in der Grafschaft Kent, nahe der Stadt Fairhaven) noch nicht kennt, möge bitte meiner Rezension des ersten Falls „Der Donnerstagsmordclub“ einen aufmerksamen Lese- besuch abstatten: Der Donnerstagsmordclub
So, danke, daß Sie wieder da sind, nun gehe ich davon aus, daß Sie mit Joyce, Elizabeth, Ron und Ibrahim, den Mitgliedern des Donnerstagsmordclubs, und mit PC Donna und DCI Chris, den Vertretern der Polizei von Fairhaven, vertraut sind.
Ergänzend sollte ich jedoch noch Bogdan Jankowski erwähnen, polnischer Universal- handwerker und Schachspieler, der, wenn es sich nicht vermeiden läßt, auch souverän und zielsicher mit Waffen umgehen kann und der bereits seit dem ersten Band mit stiller, unbestechlicher Zurückhaltung sozusagen als Außendienstmitarbeiter des Donnerstagsmordclubs fungiert.
Nach den Aufregungen der vergangenen Mordfälle findet Joyce ihr Leben beinahe etwas langweilig, und sie erwägt die Anschaffung eines Hundes, was vom Donnerstags- mordclub kontrovers diskutiert wird. Ibrahim, der ehemalige Psychiater, rät von der Anschaffung eines Hundes ab, da die statistische Wahrscheinlichkeit, daß der Hund Joyce überlebt, bei einundfünfzig Prozent läge.
Die ehemalige Geheimagentin Elizabeth ist bei dieser Diskussion nicht ganz bei der Sache, da sie über eine rätselhafte Nachricht mit einer Einladung zu einem Besuch in einer der vielen Wohnungen von Coopers Chase nachdenkt, die heimlich unter ihrer Türe durchgeschoben wurde. Doch resolut und scharfsinnig, wie sie trotz ablenkender innerer Gedankengänge und geheimdienstlich-lebenserfahrener Rückblenden ist, kürzt sie die Diskussion damit ab, daß ein Hund eine freudige Bereicherung für alle wäre und Joyce ruhig einen Hund aus dem Tierheim retten solle.
Während der Mordclub das Für und Wider von Joyces‘ Hundeanschaffung erwägt, observieren Donna und Chris die neue Drogengroßhändlerin von Fairhaven, Connie Johnson, die kurz nach dem spurlosen Verschwinden der vorherigen Drogenge- schäftsbrüder aufgetaucht ist. Sie gehen der Frage nach, ob Connie Johnson nur die neue Drogenhändlerin ist oder auch die Mörderin ihrer Vorgänger. Mit dieser verdeckten Beobachtung hoffen sie, Beweismaterial zu finden.
Doch unversehens klopft Connie Johnson an ihr Autofenster, reicht ihnen freundlich lächelnd zwei Kaffeebecher und merkt an, daß sie ihrerseits die sie observierenden Polizisten observiert habe, übergibt noch einen Umschlag mit entsprechenden Fotos und erkundigt sich sehr nett nach der Marke von Donnas Lidschatten. Tja, soviel zum Thema unauffällige Beschattung.
Am nächsten Tag folgt Elizabeth der brieflichen Einladung und trifft auf ihren Exmann und Exkollegen Douglas Middlemiss, der sich in Coopers Chase eine konspirative Wohnung genommen hat. Denn er muß vorsichtshalber verschwinden und erwartet außerdem, daß Elizabeth – gemeinsam mit der bereits als Kellnerin für Coopers Chases‘ Speiselokal eingeschleusten jungen Agentin Poppy – auf ihn aufpaßt.
Douglas wird von Martin Lomax, einem Geldwäsche-Kaufman für internationale Ver-brechersyndikate, beschuldigt, einen Samtbeutel mit Rohdiamanten im Wert von 20 Millionen Pfund bei der geheimdienstlichen Durchsuchung seiner Villa entwendet zu haben. Es sei dazu erwähnt, daß für die Geldwäschevermittlung Pfandsachen in Form von wertvollen echten Gemälden, Erstausgaben der Canterbury Tales, chinesische Jade, Goldbarren usw. hinterlegt werden.
Die mörderische Kaskade sieht nun folgendermaßen aus: Die New Yorker Mafia, der die Diamanten gehören, wird Martin Lomax umbringen, wenn diese nicht innerhalb einer kurzen Frist zurückerstattet werden. Somit fühlt sich Martin Lomax zwangs- läufig genötigt, seinerseits Douglas mit dem Tod zu bedrohen, sollte er nicht schleunigst die Diamanten rausrücken.
Gegenüber Elizabeth gibt Douglas sogar zu, daß er die Diamanten eingesteckt hat, um sich seinen Ruhestand auf den Bermudas zu versüßen. Elizabeth willigt ein – unter der Bedingung, daß der Donnerstagsmordclub eingeweiht wird -, Douglas zu beschützen.
Wie erfolgreich dieses Beschützen ausgeht, werde ich nicht verraten. Es folgen ein komplexes Diamantenversteckspiel, weitere kryptische Botschaften in stillen Brief- kästen, Zahlenspielereien mit Schließfächern, die strategische Vortäuschung alters- bedingter Verwirrung und eine außergewöhnliche Zusammenarbeit von Geheimdienst und Polizei, bei der sich am Ende mehrere Verbrecher gegenseitig beseitigen.
Joyce entpuppt sich als scharfsinniger und nervenstärker, als man ihr auf den ersten Blick zutrauen würde, und sie genießt offensichtlich die Interaktion mit den Geheim-dienstmitarbeitern und die zunehmende Achtung, die Elizabeth ihr zollt.
Ron, Ibrahim und Bogdan operieren diesmal eher im Hintergrund, werten unter auf-merksamer und findiger Mitwirkung von Rons kleinem Enkel Aufzeichnungen von Überwachungskameras aus oder verkleiden sich als mafiöse Drogendealer – solche kleinen Dienstleistungen tragen indes auch zur Aufklärung bei.
Und welcher wohltätigen Organisation schließlich die 20 Millionen aus dem Verkauf der Rohdiamanten gespendet werden, dürfen Sie gerne selbst erlesen.
Der zweite Band der MORDCLUB-Serie ist ebenso humorvoll und warmherzig wie der erste Band, jedoch deutlich aufregender; was tut man als Schriftsteller nicht alles, um die aufkeimende Langeweile der liebenswerten alten Joyce zu vertreiben! Die Charak- tere sind inzwischen perfekt aufeinander eingespielt, die zwischenmenschlichen Ent- wicklungen sowohl beim älteren als auch beim jüngeren Romanpersonal weisen auf interessante neue Aussichten hin, die sich vielleicht im dritten Band konkretisieren werden. Bis dahin also – Abwarten und Teetrinken!

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/der-mann-der-zweimal-starb-die-mordclub-serie-2-9783471360132.html

Hier entlang zum ersten Band der MORDCLUB-Serie:
Der Donnerstagsmordclub

Der Autor:

»Richard Osman ist Autor, Fernsehmoderator und Produzent. Sein Debüt, „Der Donners-tagsmordclub“, war ein internationaler Riesenerfolg.  „Der Mann, der zweimal starb“  ist sein zweiter, gleichwohl erstbester Roman. Er lebt in London.«

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Sternflüstern

  • Die Geschichte eines Neuanfangs
  • von Paula Carlin
  • Roman
  • Diederichs Verlag, August 2021 www.diederichs-verlag.de
  • gebunden mit Schutzumschlag
  • 288 Seiten
  • Format: 12,5 x 20,0 cm
  • 18,00 € (D), 18,59 € (A), 25,90 sFr.
  • ISBN 978-3-424-35116-3

Sternflüstern

MOSAIKSTÜCKE UND LICHTBLICKE

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Irith arbeitet am Empfang eines kleinen Hotels in Berlin. Da sie über eine ausgeprägte künstlerische Ader verfügt, hat sie auch an der innenarchitektonischen Ausstattung der Hotelräume mitgewirkt. Gerald, der Inhaber und Direktor des Hotels, schätzt die kleinen Mosaiken und Collagen, die Irith aus allen möglichen Resten, Scherben und Naturfund-stücken gestaltet. Deshalb bittet er Irith, für die Wand der Hotelempfangshalle ein großes Mosaik zu kreieren. Dafür solle sie mit den von ihr bevorzugten Materialien arbeiten, außerdem mit den gesammelten Überbleibseln der Hotelgäste: Bonbon- papierchen, Eintrittskarten, Filmrollen, Knöpfe, Haarklammern, Schlüssel, Stadtplan- fetzen, Münzen usw…

Doch Irith ist noch von der schmerzlichen Trauer um den Verlust ihres langjährigen Freundes Lunis geschwächt und fühlt sich zudem der sehr großen Wandfläche nicht gewachsen. Lunis war ein Künstler, der filigrane, transparente Landschaften in Glas-objekte ritzte, und sie hatte ihn kennengelernt, als ihm auf seinem Handwerkermarkt-stand eine bunte Schale heruntergefallen war und er ihr spontan die Scherben schenkte. Damals entstand aus diesen Scherben ihr erstes Mosaik.

Die Beziehung zu Lunis wuchs – ausgehend von Freundschaft – in Liebe hinein. Dennoch lebten sie in räumlicher Distanz und stets nur phasenweise miteinander. Lunis weilte zumeist in seiner abgeschiedenen Waldhütte mit Wintergarten und Werkstatt, und Irith durfte ihn dort regelmäßig besuchen. Sein großes Bedürfnis nach Einsamkeit und Freiheit hatte er Irith von Anfang an deutlich gemacht, und auch seine weitgehende Verschwiegenheit über seine Vergangenheit mußte respektiert werden.

Irith fühlte sich trotz des nicht geteilten Alltags bei Lunis gut aufgehoben, er war Ent-decker, Freund, Ermutiger, Genießer des Einfachen, Horizontöffner, Liebhaber und musischer Mentor und regte sie zu mehr Eigenwilligkeit, künstlerischen Experimenten und unkonventionellem Selbstausdruck an. Solange er lebte, spielte die räumliche Ent-fernung keine Rolle. Irith und Lunis waren inspirativ verbunden, und für Irith war Lunis der vertraute Bezugsrahmen für ihre eigene Kreativität und beständige Aussicht auf Austausch und lange Nächte unter Sternenhimmel mit tiefen Gesprächen und Stern- flüstern.

Lunis‘ plötzlicher Tod und seine testamentarische Verfügung, daß Irith über die Dinge in seiner Waldhütte und Werkstatt verfügen möge, wie sie wolle, und der posthume Auf-trag, ein Päckchen an eine ihr unbekannte Frau namens Alix zu schicken, lösen einen Stillstand in Iriths Entscheidungsfähigkeit aus. Sie konzentriert sich auf die Arbeit im Hotel, fügt Tag an Tag an Tag und weicht der Bitte ihres Chefs wegen des Hotelfoyer-Mosaiks aus.

Auf dem Rückweg vom Hotel zu ihrer Wohnung verläßt Irith eines sommerhitzigen Abends einige Haltestellen früher den stickigen Bus und geht ein Stück zu Fuß. An einem schönen alten Haus, das von einem großen verwilderten Garten eingerahmt wird, meint sie Lunis‘ Stimme zu hören.

Sie sieht ein Verkaufsschild für das leerstehende Haus und schleicht sich heimlich in den verwunschenen Garten. Die Atmosphäre dort ist trotz einiger Verfallserscheinungen an-genehm friedlich, und auf dem ausgedörrten Rasen funkeln im Abendsonnenlicht einige bunte Glasscherben von der zerbrochenen Verglasung der Hausterrasse. Diese Glas-scherben erscheinen Irith wie ein ferner Gruß von Lunis, und sie packt sie vorsichtig ein.

Dieser Zufall ist ein erster Lichtblick des Neuanfangs – auch wenn Irith dies zunächst noch nicht erkennt. Der nächste Lichtblick steht zwei Wochen später leibhaftig vor Irith am Hoteltresen, fragt nach einem freien Zimmer und betrachtet außergewöhnlich lange Iriths Namenschild. Es ist eine zierliche junge Frau, namens Sophie, die einst auf einem Flohmarkt ein kleines Mosaik von Irith gekauft hat. Und da Lunis Irith stets dazu ange-halten hatte, ihre Werke zu signieren, freut sich Sophie nun über diese zufällige Begeg-nung, und auch Iriths Neugier ist geweckt, und sie reagiert aufgeschlossen auf das unverhoffte Kontaktangebot der jungen Frau.

Es stellt sich heraus, daß Sophie aus Holzresten und Holzabfällen, alten Fenster- und Türrahmen sowie Totholz Rahmen herstellt. Auch Iriths kleines Mosaik hat sie einge-rahmt, und Irith ist von der harmonischen Wirkung berührt und begeistert. So bietet sie Sophie an, gemeinsam mit ihr das große Mosaik für die Hotelempfangshalle zu kompo- nieren. Sophie ist sogleich Feuer und Flamme, und in Irith regt sich wieder die Freude der Inspiration und des gemeinsamen Gestaltens.

Im Garten des alten Hauses „organisieren“ sie genug herabgefallene Äste für die Ein-rahmung und viele Scherben von zerbrochenen Blumentöpfen und zersprungen Glas- bausteinen für die Darstellung der Stadtsilhouette, die ebenfalls Bestandteil des Mosaiks werden soll. 

Sophie befindet sich ebenso wie Irith an einem Wendepunkt ihres Lebens und muß sich neu finden und orientieren. Während der Vor- und Hauptarbeiten am Hotelmosaik freunden sich die beiden Frauen an. Das Mosaik entwickelt sich gut und ermutigt vom freudigen schöpferischen Schub nimmt Irith endlich Kontakt zu der unbekannten Frau auf, der sie Lunis‘ Paket schicken soll …

Man könnte an diesem Roman kritisieren, daß es zu viele beinahe märchenhafte, vorhersehbare  glückliche Fügungen gibt, aber meiner Einschätzung nach, sind solche Fügungen durchaus möglich.

„Sternflüstern“ bietet sich besonders für musische Menschen an sowie für Menschen, die einen zwischenmenschlichen Verlust verkraften müssen. Im Roman folgen nach der Schwere der Trauer das heilsame Loslassen und die dankbare Würdigung des Gewesen- en sowie der nicht zu unterschätzende Trost inniger, freundschaftlicher, ja, schicksal- hafter Verbundenheit. So können Leichtigkeit und Lebensfreude wiederkehren und sogar neue sternflüsternde Augenblicke.

Besonders bemerkenswert ist der zärtliche Blick, mit dem beispielsweise Irith die künst-lerischen Möglichkeiten weggeworfener Bruchstücke erkennt, wie sie Reste, Scherben und zusammenhanglose Überbleibsel in eine neue konstruktive und ästhetische Ordnung bringt. Die liebevoll-wertschätzende, detailreiche Betrachtung der Natur und die lebhafte Aufmerksamkeit, mit der sowohl Irith als auch Sophie die Farben, Formen, Konturen, Muster und Texturen der Dinge wahrnehmen, ist anregend und sinnlich, ebenso die einfühlsame Art, wie sie im verlassenen Haus den Lebensspuren des einstigen Besitzers nachspüren – das ist eine große Lesefreude und zeugt von weiser Lebensbejahung angesichts der Vergänglichkeit.

»Wir sind alle aus Teilen zusammengesetzt, die scheinbar nicht zusammenpassen und doch ein interessantes Bild ergeben. Bei den Menschen gilt das meist eher innerlich als äußerlich. Aber stell dir vor, man könnte es sehen!« (Seite 59)


Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:

https://www.penguinrandomhouse.de/Buch/Sternfluestern/Paula-Carlin/Diederichs/e589085.rhd

Die Autorin:

»Paula Carlin ist das Pseudonym der deutschen Spiegel-Bestsellerautorin Patricia Koelle. Sie wurde 1964 in Alabama/USA geboren und lebt seit 1965 in Berlin. Ihre größte Leidenschaft gilt dem Schreiben, in dem sie ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt.« https://paula-carlin.life/

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Die Mitternachtsbibliothek

  • von Matt Haig
  • Roman
  • Originaltitel: »The Midnight Library«
  • Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Hübner
  • Droemer Verlag, Februar 2021  www.droemer-knaur.de
  • gebunden
  • mit LESEBÄNDCHEN
  • 320 Seiten
  • 20,00 € (D), 20,60 € (A)
  • ISBN 978-3-426-28256-4

LEBENSWECHSEL / WECHSELLEBEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Nora Seed ist eine junge Frau mit vielen Talenten, sie ist klug, musikalisch und vielseitig interessiert, sie hat einen Universitätsabschluß in Philosophie und einen Kater namens Voltaire. Sie arbeitet bei „String Theory“, einem Gitarren- und Musikzubehörladen, und sie leidet an Depressionen, ihre beste Freundin ist nach Australien ausgewandert, und ihr Bruder ist von ihr enttäuscht, weil sie einst in seiner Band wegen ihrer Panik- attacken als Leadsängerin zurücktrat, weshalb ein verheißungsvoller Plattenvertrag nicht zustande kam. Außerdem hat sie vor einiger Zeit ihre eigene Hochzeit kurz vor der Trauung abgesagt. Nora bereut viele ihrer bisherigen Lebensentscheidungen, und ihre zwischenmenschlichen Kontakte sind recht reduziert.

Als sie ihre Arbeit bei „String Theory“ verliert, ihr einziger privater Klavierschüler wegen ihrer Unpünktlichkeit abspringt und dann auch noch ihr Kater stirbt, ist das Maß an Ver-lust, Sinnlosigkeit, Einsamkeit und Verzweiflung so übervoll, daß sich Nora mit einer Überdosis Tabletten umbringt.

Doch anstelle himmlischer Ruhe findet sie sich anschließend in der „Mitternachtsbiblio-thek“ wieder. Dort steht die Uhr stets auf Mitternacht, und die für Nora zuständige Bibliothekarin klärt sie freundlich darüber auf, daß sie sich in einem Zwischenreich zwischen Leben und Tod befinde und sie hier die Gelegenheit habe, Einblick in alter- native Nora-Seed-Lebensläufe zu bekommen.

Endlose Reihen von Büchern unterschiedlicher Dicke, in verschiedenen Abstufungen von Grün füllen die Regale der Bibliothek. Doch bevor sie ein anderes Leben „anprobieren“ darf, muß sie das graue und sehr schwere „Buch des Bereuens“ aufschlagen und lesen. Nora ist die alleinige Autorin dieses Buches, wie ihr die Bibliothekarin erläutert, und Nora ist erschüttert, all diese großen und kleinen, alten und jungen Reuegedanken und -Gefühle so buchstäblich zur Kenntnis nehmen zu müssen.

„Du hast so viele Leben, wie du Möglichkeiten hast. Es gibt Leben, in denen du andere Entscheidungen triffst. Und diese Entscheidungen führen zu anderen Resultaten. Hättest du nur eine Entscheidung anders getroffen, dann hättest du eine andere Lebensgeschichte gehabt. Und all diese Möglichkeiten existieren in der Mitternachts- bibliothek.“ (Seite 43)

Zunächst trotzt Nora noch herum, daß sie doch einfach nur sterben wolle, doch dann überwiegt eine leise Neugier, und sie bittet die Bibliothekarin, ihr das Lebensbuch zu geben, in dem sie ihre Hochzeit nicht abgesagt hat. Nora schlüpft in diese Lebensvaria-tion und muß feststellen, daß sie sich dort auch nicht wirklich glücklich fühlt, so kehrt sie nach wenigen Stunden enttäuscht in die Bibliothek zurück.

Unter behutsamer Anleitung der Bibliothekarin besucht sie einige weitere naheliegende Leben, in denen sie die Entscheidungen, die sie bisher stets bereut hatte, anders fällte. Doch egal, ob sie beispielsweise als erfolgreiche, berühmte Sängerin in der Band ihres Bruders auf der Bühne steht oder den bescheidenen Job im Tierheim ausübt anstelle der Arbeit bei „String Theory“, ob sie ihre Freundin nach Australien begleitet oder gar als Gletscherforscherin an einer spannenden Arktis-Expedition teilnimmt – sie merkt immer wieder, daß sie gar nicht ihren eigenen Wünschen folgt, sondern die Erwartungen ihrer Eltern, ihres Ehemanns, ihres Bruders oder ihrer besten Freundin erfüllt, während zugleich ihre Erwartung, mit dieser Wahl eine wesentlich bessere Lebensabzweigung genommen zu haben enttäuscht wird.

Ihre Vorstellung des Hätte-ich-doch-dies-oder-das-getan-oder-gelassen steht immer nur unter einem positiven Erwartungsvorurteil, das sich in der Realisation dann doch nicht ganz so vortrefflich entfaltet. Alle diese Leben enthalten neben Liebe, Glück, Freude, Dankbarkeit, Erfüllung, Freiheit, Ordnung und Verbundenheit auch Angst, Chaos, Ein- samkeit, Enttäuschung, Unzufriedenheit, Zwang, Schmerz und Trauer.

Nach und nach wagt sie sich an Lebensversionen heran, die nichts mehr mit dem Reue-katalog zu tun haben und viel weiter von ihrer alten Lebensentwicklung entfernt sind. In einer sehr gefährlichen Situation in einem dieser Leben spürt sie, daß sie doch noch einen Lebenswillen hat. Die Bibliothekarin nimmt dies erfreut zur Kenntnis und ermun- tert Nora zu weiteren Lebensanproben, da Nora dadurch mehr über sich und ihr Potenzial lernen kann.

„Der einzige Weg zu lernen ist zu leben.“ (Seite 100)

Nora erkennt, welche Lebenszeitverschwendung es ist, sich übermäßig mit dem „Was-gewesen-wäre-wenn“ zu beschäftigen und daß es konstruktiver ist, die guten Anteile des Jetzt wahrzunehmen und auch selbst etwas zu den guten Anteilen beizutragen. Ihr Selbstmitleid verwandelt sich nachhaltig in Selbstmitgefühl und Selbstakzeptanz, und nachdem Nora endlich begriffen hat, daß jedes Leben voller unendlicher Möglichkeiten ist und daß sie es sich von nun an wert sein will, die ihr wesensgemäßen Entscheidun- gen zu treffen, findet sie auch einen tragfähigen Weg zurück in ihr ursprüngliches Leben.

Matt Haig ist es mit diesem spannenden, gedanken- und schicksals- spielerischen Roman sehr anschaulich gelungen, die Thematisierung von Depression und Lebensangst mit der Idee multiverseller Leben zu verbin- den. Die sehr detailliert durchdachte, raffinierte Romankomposition bietet eine ebenso berührende wie faszinierende sowie gelegentlich amüsante philosophische, quantenphysikalische und zwischenmenschliche Inszenie- rung, die glaubwürdig von Lebensverneinung zu Lebensbejahung führt.

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.droemer-knaur.de/buch/matt-haig-die-mitternachtsbibliothek-9783426282564

 

Der Autor:

»Matt Haig, Jahrgang 1975, ist ein britischer Autor. Seine eigenen Erfahrungen mit Depressionen und Angststörungen sind auch stets ein zentrales Thema in seinen Büchern. Bei dtv sind von ihm zuletzt die Romane „Ich und die Menschen“ (2014)  und „Wie man die Zeit anhält“ (2018) sowie die Sachbücher „Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben“ (2016) und „Mach mal halblang“ (2019) erschienen. Matt Haig lebt mit seiner Familie in Brighton.«

Die Übersetzerin:

»Sabine Hübner übersetzt seit 1989 Sachbücher, Belletristik und Lyrik, u.a. von Mark Haddon, Michael Frayn und Edward St. Aubyn.«

Querverweis:

Hier entlang zu Matt Haigs nachdenklich-amüsantem Roman „Ich und die Menschen“, in dem uns die außerirdische Perspektive auf die Erde und die menschliche Zivilisation einen ganz besonderen Blick auf das Alltägliche verschafft: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/04/01/ich-und-die-menschen/
Hier entlang zu seinem Roman „Wie man die Zeit anhält“

Wie man die Zeit anhält


Und zu seinem autobiographischen Buch zum Thema Depression „Ziemlich gute Gründe am Leben zu bleiben“: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/06/14/ziemlich-gute-gruende-am-leben-zu-bleiben/

Noch ein Querverweis:

Das Thema biografischer Variationen wird auch in Laura Barnetts Roman „Drei mal wir“ anschaulich durchgespielt. Dieser Roman erzählt die Liebesgeschichte von Eva und Jim, ausgehend von ihrer ersten schicksalhaften Begegnung. Doch das, was sich aus dieser ersten Begegnung an Lebens- und Liebesabzweigungen entwickelt, erzählt die Autorin in drei unterschiedlichen Variationen. Diese drei Variationen werden durch drei unter- schiedliche Druckfarben von einander abgegrenzt, so daß man immer weiß welche Variante gerade leseaktuell ist. https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/04/28/drei-mal-wir/

 

 

 

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Füchse

  • Ein Portrait von Katrin Schumacher
  • Verlag Matthes & Seitz, 2020 http://www.matthes-seitz-berlin.de
  • NATURKUNDEN Nr. 60 www.naturkunden.de
  • Illustrationen: Falk Nordmann
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • 159 Seiten
  • Kleinoktav-Format: 12 x 18  cm
  • 20,00 € (D), 20,60 € (A)
  • ISBN 978-3-95757-855-6

F U C H S F A S Z I N A T I O N

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Katrin Schumacher umkreist den Fuchs, betrachtet ihn aus biologischer, literarischer, mythologischer und sozialer Sicht. So entsteht ein facettenreiches Bild, das den Fuchs nicht zähmt, sondern ihn in seiner natürlichen Wildheit respektiert und parallel dazu auch ein historisches und aktuelles Streiflicht menschlicher Projektionen auf den Fuchs wirft.

Bereits vor 15.000 Jahren wurden Füchse auf die Höhlenwände von Lascaux und Altamira gemalt und zahlreiche archäologische Fuchsknochenfunde weisen darauf hin, daß er auch als Opfertier für die Götter vewandt wurde.

Füchse sind Überlebenskünstler; sie sind sehr anpassungsfähig und finden als Nahrungsgeneralisten in fast allen Landschaftsgebieten Futter und Unterschlupf, was auch ihre weite Verbreitung erklärt sowie ihren Erfolg als Kulturfolger. Dabei ist zudem interessant, daß sich Stadtfüchse nicht mehr mit Landfüchsen paaren und Stadtfüchse weniger Scheu an den Tag legen.

Die sinnliche Wahrnehmungsspannbreite des Fuchses ist beeindruckend. „Ein Fuchs hört, wenn sich in anderthalb Kilometern Entfernung zwei Feldmäuse um einen Sonnen-blumensamen zanken, und er riecht detailliert die zwei Winter, die in dem alten Laub stecken, das vielleicht so alt ist wie er selbst.“ (Seite 29)

Der Fuchs lebt verborgen, und seine Finten und Raffinnessen, um Beute oder Jäger zu täuschen, sind legendär. Angeblich kann er sich totstellen, um sich gegebenenfalls bessere Flucht- oder Beutechancen zu verschaffen. Obwohl sich sein Fell in unseren Augen auffällig rötlich aus der Umgebung hervorhebt, bekommen wir ihn nur selten zu sehen.

Wieviele Füchse tatsächlich in Deutschland leben, ist nicht bekannt – sicher ist nur, daß pro Jagdsaison fast eine halbe Million Füchse getötet werden und daß im städtischen Raum etwa zehnmal mehr Füchse leben „als auf einer vergleichbaren Fläche im Wald“ (Seite 14). Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, daß die Bejagung der Füchse zu einer erhöhten Anzahl von Fuchsjungen führt. Und auch in Hinsicht auf das vorhandene Nahrungsangebot reguliert der Fuchs seine Populationsdichte bedarfsgerecht durch Vermehrung oder Verminderung der Anzahl von Jungtieren pro Wurf selbst.

Die Autorin wagt eine beachtlich differenzierte, kulturgeschichtliche Darstellung zum Thema Fuchsfellverarbeitung und zum Kürschner-Handwerk. „Jedes Pelztragen ist ein schamanischer Akt. Eine unheimliche und fadenscheinige Simulation der Unsterblich- keit, die davon erzählt, dass das Leben immer schon mit dem Tod infiziert ist.“ (Seite 88) Inzwischen werden Fuchsfelle sogar biologisch gegerbt und als nachhaltiger „Stoff“ vermarktet, sogar ressourcen-schonendes Pelzrecycling liegt im Trend.

Nach einem kurzen Abstecher zum japanischen Fuchsgeisterglauben, der dem Fuchs übernatürliche Gaben und märchenhafte Verwandlungsfähigkeiten zuschreibt, folgen wir den Spuren der Fabelfüchse von Aeosop, Jean de La Fontaine, Leonardo da Vinci, Gellert und Lessing.

Die Spur des Fuchses reicht weiter bis ins Kinderlied und Kinderbuch. Erscheint er im Lied „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ von Ernst Anschütz und in den Geschichten von Selma Lagerlöf (Nils Holgerssohn) und Carlo Collodi (Pinocchio) listig, hinterhältig, als böses Hindernis und zu besiegender Feind, so wandelt sich seine Rolle mit dem Erschei-nen des Buches „Der kleine Prinz“ von Saint-Exupéry. In diesem Buch wird der Fuchs als kluger, philosophischer Gesprächspartner imaginiert und in der gegenwärtigen Kinder-literatur setzt sich diese charmante, freundlich-sympathisierende Vorstellung nachhaltig fort.

Die Kurzportraits verschiedener Fuchsarten mit sehr attraktiven, beinahe foto- realistischen Illustrationen von Falk Nordmann stellen folgende Füchse lexikalisch vor: Rotfuchs, Fennek (Wüstenfuchs), Polarfuchs (Eisfuchs), Schwarzsilberfuchs, Löffelfuchs, Korsak, Insel-Graufuchs, Marderhund (Obstfuchs), Bengalfuchs und Kapfuchs.

ROTFUCHS Illustration © Falk Nordmann, Verlag Matthes & Seitz 2020


Katrin Schumacher stellt den Fuchs ebenso als biologisch definierbares Lebewesen dar wie als mythologische Figur und poetische Projektion. Wir nähern uns dem Fuchs – und doch bekommen wir ihn nie ganz zu fassen. Der elegant-mäandernde Schreibstil der Autorin folgt gleichsam dem ungreifbaren, seltsam changierenden Wesen des Fuchses.

Und zum Abschluß kann ich hier wieder meinen lobeshymnischen Refrain zur buch- gestalterischen Materie der Reihe NATURKUNDEN singen. So ist auch der Band „Füchse“ (NATURKUNDEN Nr. 60) aus schmeichelgriffigem Papier für Einband, Vorsatzblätter und Buchseiten hergestellt. Die Typographie ist satt und lesefreundlich, der Kopfschnitt und die Fadenheftung in einem fuchsigen rotbraunrostorangenen Ton farblich fein abge- stimmt mit der Farbgebung des Bucheinbandes, und die zahlreichen alten und neuen Illustrationen sind ebenso schön wie aussagekräftig.

Hier finden wir den harmonischen Einklang zwischen substanzieller innerer und äußerer Buchqualität, wie sie für die von Judith Schalansky herausgegebene Reihe NATURKUNDEN Standard ist. Da kommt Sammellust auf!

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/fuechse.html?lid=3

 

Die Autorin:

»Katrin Schumacher, 1974 in Lemgo geboren, ist Literaturwissenschaftlerin und Journalistin. Sie lebte in Bamberg, Antwerpen, Hamburg, ist derzeit in Halle/Saale zu Hause und Redaktionsleiterin beim MDR Kultur. «


 

Querverweis:

Ergänzend bietet sich das ausführlich fotografisch bebilderte Buch von Silje Elin Matnisdal und Leiv Magnus Grøtte „Ayla. Meine ungewöhnliche Freundschaft mit einem Fuchs“ an, das vom vergeblichen Versuch handelt, einen Fuchs zu zähmen.
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2019/10/17/ayla/

Zusätzlich nun noch eine kleine Auswahl von Kinderbüchern mit sympathischen Fuchsfiguren:

»Nur ein Tag«
von Martin Baltscheidt (Text) und Wiebke Rauers (Illustration)
Die Geschichte vom warmherzigen Wildschwein und vom feschen Fuchs, die eine kleine, lebensfrohe Eintagsfliege mit einer Notlüge über die kurze Dauer ihres Daseins hinweg-täuschen, führt an einem einzigen Tag durch ein ganzes Leben.
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/10/13/nur-ein-tag/

»Der Tod auf dem Apfelbaum«
von Katrin Schärer (Text & Illustration)
„Der Tod auf dem Apfelbaum“ ist ein Bilderbuch, das zu Herzen geht und tief berührt. Es ist von einer sanftmütigen Intensität und ruhigen Klarheit, die leise lächelnd dem natürlichen Kreislauf von Leben und Tod die Ehre gibt.
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/03/20/der-tod-auf-dem-apfelbaum/

»Kleiner Fuchs großer Himmel«
von Brigitte Werner (Text) und Claudia Burmeister (Illustration)
Das Bilderbuch „Kleiner Fuchs Großer Himmel“ ist erfüllt von einer tiefen, zärtlichen Lebenszugewandtheit und heiteren Demut. Mit dieser Flügelspannweite gelingt hier das Kunststück, die kleine Endlichkeit tröstlich mit der großen Unendlichkeit zu verbinden. So gehören wir dem Leben, ohne es zu besitzen. https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/11/23/kleiner-fuchs-grosser-himmel/

»Der kleine Prinz – Bilderbuch«
von Agnès de Lestrade
(Text & Illustration)
„Der kleine Prinz“ erlebt eine Form der bibliophilen Reinkarnation, die sich in unter- schiedlichen Nacherzählungen und/oder Fortsetzungen manifestiert. Die hier nun vorliegende Nacherzählung von Agnès de Lestrade wendet sich an Kinder, denen vorgelesen wird. Die Autorin hat Antoine de Saint-Exupérys Klassiker kindgerecht abgekürzt und vereinfacht, ohne dabei den weiten Herzenshorizont und die emotionale Vielschichtigkeit von Saint-Exupérys Vorlage zu vernachlässigen. https://leselebenszeichen.wordpress.com/2019/11/27/der-kleine-prinz-bilderbuch/


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Der Gesang der Flusskrebse

  • Roman
  • von Delia Owens
  • Originaltitel: »Where The Crawdads Sing«
  • Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt
  • von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • Verlag hanserblau, Juli 2019   http://www.hanser-literaturverlage.de
  • gebunden
  • mit Schutzumschlag und Lesebändchen
  • 464 Seiten
  • 22,00 € (D), 22,70 € (A)
  • ISBN 978-3-446-26419-9

MUTTER  NATUR

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

»Marschland ist ein Ort des Lichts, wo Gras in Wasser wächst und Wasser in den Himmel fließt.« (Seite 11)

Außenseitern wird gerne und allzuschnell Schuld zugeschoben. Als die Leiche von Chase Adams am Fuße des alten Feuerwachturms von Barkley Cove gefunden wird und keiner- lei Spuren zu finden sind, fällt der Verdacht auf Kya, das Marschmädchen. Denn wenn jemand Spuren verwischen und sich fluchterprobt gewissermaßen unsichtbar machen kann, dann ist das Kya.

Kya wächst im wilden Marschland von North Carolina auf.  Sie lebt mit ihrer liebevollen und musischen Mutter, ihrem trunksüchtigen und gewalttätigen Vater und vier älteren Geschwistern in einer zusammengezimmerten Holzhütte, die an einer von vielen einsa-men Lagunen der Marschlandschaft liegt. Die Menschen, die in der nahegelegenen Stadt Barkley Cove wohnen, betrachten alle Menschen, die in der Marsch gestrandet sind, als Gesindel – wahlweise je nach Hautfarbe als weißes oder schwarzes Gesindel. Die Geschichte beginnt in den 50iger Jahren, und die Rassentrennung ist noch aktuell.

Von ihrem Bruder Jodie lernt Kya viel über die Natur, die Gestirne und darüber, wie man seine Spuren verwischt, sich sicher in der Marschlandschaft versteckt und wie man ein Boot durch die unzähligen Wasserläufe und Buchten steuert.

Als Kya sechs Jahre jung ist, bereitet die Mutter, deren Gesicht deutliche Spuren eines vorhergehenden gewalttätigen Streits trägt, noch einmal ein Frühstück für alle Kinder. Danach verläßt sie mit einem kleinen blauen Koffer das Haus, ohne sich zu verabschie- den. Kya schaut ihr ungläubig nach und hofft  auf das sonst übliche Winken; aber dies- mal schaut die Mutter nicht zurück, und sie wird auch nie mehr zurückkehren.

Nach und nach verlassen nun die älteren Geschwister ebenfalls das mutterlose Zuhau- se, um der Gewalttätigkeit des Vaters zu entkommen. So bleibt Kya allein zurück und er-nährt sich von Griesbrei und von Gemüse aus dem Garten. Der Vater ist häufig tagelang abwesend, kommt meist schlecht gelaunt zurück, schlägt Kya jedoch nicht und gibt ihr kleine Geldbeträge, mit denen sie in der Stadt ihre bescheidenen Einkäufe bezahlt.

Er trinkt deutlich weniger Alkohol und macht regelmäßige Bootsausfahrten mit ihr, bei denen sie gemeinsam angeln. Während dieser friedlichen Ausflüge plaudert der Vater ein bißchen aus der Familiengeschichte, und einmal nennt er Kya sogar freundlich Schätzchen. Dies ist mehr väterliche Zuwendung, als sie jemals zuvor erlebt hat.

Da Kya im schulpflichtigen Alter ist, wird sie aufgefordert, die Schule in Barkely Cove zu besuchen. Sie kommt barfuß in die Schule und wird von den anderen Schülern wegen ihrer Andersartigkeit, ihrer abgerissenen Kleidung und ihrer sozialen Unsicherheit aus- gelacht. Dies genügt Kya, um fortan mit der Schule garnichts und mit den Menschen aus der Stadt so wenig wie nur möglich zu tun zu haben. Den Nachforschungen der Schulin- spektion entkommt sie spielend, da ihre wachen Sinne und ihre überlegene Kenntnis der Marschlandschaft ihr stets ein sicheres Versteck bieten. Irgendwann gibt die Schul- behörde einfach auf, das wilde Kind einfangen zu lassen. So wird sie von den Bewohnern der Stadt schließlich nur noch „das Marschmädchen“ genannt.

In einer Bucht, in der Nähe der Siedlung für die schwarze Bevölkerung des Marsch- landes, gibt es eine Bootstankstelle mit einem kleinen Allerlei-Laden, der von dem freundlichen Jumpin‘ geführt wird. Dorthin fährt Kya regelmäßig mit dem Boot, tankt und kauft ein.

Als Kya zehn Jahre alt ist, kehrt der Vater eines Tages nicht mehr zurück. Kya überlegt, wie sie zu Geld kommen könnte, und beginnt damit, frühmorgens Muscheln zu sam- meln. Jumpin‘ kauft ihr die Muscheln ab und merkt nach einer Weile, daß Kya nun ganz alleine ist. Er bespricht sich mit seiner Frau Mabel, und diese organisiert über den Kirchenbasar Kleidung und Schuhe. Mabel und Jumpin‘ gelingt es, Kya zu beschenken, ohne sie zu beschämen. Mabel gibt Kya außerdem ganz pragmatisch verschiedene Gemüsesamen und erklärt ihr, wie sie diese in ihrem Garten nutzen kann.

Abgesehen von der Zuwendung von Jumpin‘ und Mabel, die als mitfühlende, aber den-noch räumlich entfernte Ansprechpartner für sie da sind, findet Kya Geborgenheit und Zuverlässigkeit in der Natur. Sie lebt in sinnlich-körperlicher, innerer und äußerer Nähe und Verbundenheit zur Natur. Kya sammelt Federn, Muscheln, Insekten und Pflanzen, sie beobachtet sehr fein und genau und etikettiert ihre Funde mit kleinen natura- listischen Zeichnungen des Fundorts, da sie nicht schreiben kann.

Im zarten Alter von vierzehn Jahren, bei einer ihrer alltäglichen Expeditionen ins Marschland, begegnet ihr Tate. Tate ist der Sohn eines örtlichen Krabbenfischers, einige wenige Jahre älter als Kya, und ebenfalls sehr interessiert an der Natur. Behutsam, ja, geradezu poetisch, nähert sich der sensible Junge dem scheuen Marschmädchen, und er gewinnt nach und nach ihr Vertrauen. Von Tate lernt Kya lesen und schreiben, er schenkt ihr Bücher, und gemeinsam erkunden sie die ersten Regungen jugendlichen Liebeserwachens. Kya blüht auf, ihr zuvor instinktiver Zugang zur Natur wird nun er- gänzt um naturwissenschaftliche Kenntnisse. Endlich hat sie selbständigen Zugang zu Wissen, erfährt Zugehörigkeit und Zärtlichkeit. Daß Kya sich inzwischen selbst zu einer Schönheit entwickelt hat, ist ihr indes nicht bewußt.  

Tate will Biologie studieren, und dafür ist ein Ortswechsel unvermeidlich. Er verspricht Kya, zu einem bestimmten verabredeten Zeitpunkt zurückzukehren. Doch wieder wartet Kya vergeblich auf die Rückkehr eines geliebten Menschen. Denn Tate geht auf dem College gänzlich in seinen wissenschaftlichen Studien und den Versuchungen des Stadtlebens auf und weiß, daß die menschenscheue Kya ihm niemals in diese Welt folgen würde.

Kya trauert, schmiegt sich dann wieder an die Natur an, füttert ihre Möwen, wiegt sich in Meereswellen und entfaltet ihr zeichnerisches Talent.

Chase Adams, der Frauenheld von Barkley Cove, bekommt Wind von Kyas Schönheit, was seinen Jagdtrieb weckt. Doch Kya ist keineswegs leicht zu erobern, und er übt sich – entgegen seiner Gewohnheit – in Geduld und verspricht Kya sogar die Ehe. Doch auch Chase Adams bricht sein Versprechen und heiratet eine andere Frau.

Kya zieht sich in ihre erprobte Einsamkeit zurück und meistert tapfer ihren Lebens- alltag. Sie verfeinert ihr Wissen durch eifrige Lektüre (der Weg in die Stadtbibliothek gelingt ihr inzwischen), vergrößert und systematisiert ihre Sammlung von Marsch- fundstücken, und sie zeichnet und aquarelliert unermüdlich. Sie sagt den Silbermöwen und dem Strand Gedichte auf und fügt sich harmonisch in die natürlichen Rhythmen.

In der Nähe von Barkely Cove wird eine wissenschaftliche Station zur Erforschung der Marsch-Ökologie eingerichtet, und Tate plant dort zu arbeiten. Er wagt einen Besuch bei Kya, der zwar zu einer lebhaften Aussprache führt, aber zunächst keine Aussicht auf eine Annäherung bietet. Allerdings erlaubt Kya, daß Tate einige ihrer Zeichnungen mitnimmt, um sie einem Verleger zu zeigen.

Einige Wochen nach dem Tode von Chase Adams wird Kya des Mordes an Chase Adams verdächtigt, angeklagt und vor das örtliche Geschworenengericht gestellt. Die Wahrheit über Chase Adams‘ Tod hat viele sichtbare und unsichtbare sowie widersprüchliche Facetten, die während der Gerichtsverhandlung ausführlich betrachtet werden. Zum Glück hat Kya einen engagierten Anwalt und unter den Geschworenen mehr Sympathisanten, als sie vermutet hätte …

Die Autorin Delia Owens wechselt erzählerisch zwischen den Phasen der Ermittlung zu Chase Adams‘ Tod und der biographischen Entwicklung Kyas. So entsteht von Kapitel zu Kapitel eine dramatisch wachsende Spannung zwischen Kleinstadtmilieustudie und Psychogramm.

„Der Gesang der Flusskrebse“ ist ein bemerkenswerter, sehr atmosphä- rischer Roman voll natürlicher Sinnlichkeit, elementarer Kraft und tiefer Gefühle. Die Einsamkeit des verlassenen Kindes ist so greifbar, daß man beim Lesen am liebsten mit der Hand zwischen die Zeilen greifen möchte, um die kleine Kya zu trösten. Wie oft kann ein verletztes Herz das tödliche Risiko eingehen, sich wieder auf Nähe einzulassen? Nun, dieser Roman mutet uns ebensosehr die schmerzlichen wie die schönen Gezeiten des Herzens ungeschminkt zu, und er verschafft uns die Bekanntschaft mit einer außergewöhnlich charakterstarken und bewundernswert eigen-willigen Figur, die die wortlose Sprache der Natur versteht wie sonst kaum ein menschliches Wesen.

 

»Sie lächelte zum ersten Mal. Seine Augen waren dieselben wie früher. Gesichter verän-derten sich durch den Tribut, den das Leben fordert, aber Augen bleiben ein Fenster zu dem, was war, und sie konnte ihn darin sehen.« (Seite 292)


Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/der-gesang-der-flusskrebse/978-3-446-26419-9/

 

Die Autorin:

»Delia Owens, geboren in Georgia, erforschte über zwanzig Jahre als Zoologin in verschiedenen afrikanischen Ländern Elefanten, Löwen und Hyänen. Vor kurzem ist sie nach North Carolina gezogen, an den Schauplatz ihres Romandebuts, wo sie als Kind mit ihren Eltern die Sommerurlaube verlebte.«  http://www.deliaowens.com

Die Übersetzer:

»Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, beide Jahrgang 1955, übersetzen seit vielen Jahren englische und amerikanische Literatur von Autoren wie Harper Lee, Dave Eggers, Jodi Picoult und Zadie Smith.«

 

Es gibt zwei Hörbuchausgaben, eine gekürzte und eine ungekürzte, beide gesprochen von Luise Helm und beide im Verlag HÖRBUCH HAMBURG erschienen.

Hier entlang zur gekürzten Hörbuchfassung:
https://www.hoerbuch-hamburg.de/hoerbuecher/owens-der-gesang-der-flusskrebse-4981/
Hier entlang zum ungekürzten Hörbuch nebst feiner HÖRPROBE:
https://www.hoerbuch-hamburg.de/hoerbuecher/owens-der-gesang-der-flusskrebse-5108/

 

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Gesang der Fledermäuse

  • Roman
  • von Olga Tokarczuk
  • Originaltitel: »Prowadź swój pług przez kości umarłych«
  • aus dem Polnischen von Doreen Daume
  • Kampa Verlag 2019 www.kampaverlag.ch
  • gebunden
  • 320 Seiten
  • 24,00 € (D), 24,70 € (A), 32,50 sFr.
  • ISBN 978-3-311-10022-5

RÜCKLÄUFIGER   MERKUR

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Janina Duszejo lebt in einer kleinen Siedlung auf einem extrem windigen Hochplateau, nahe der polnisch-tschechischen Grenze. Die meisten Häuser dienen nur als Sommer-residenz betuchter Städter, da der Winter in dieser Einöde sehr lang, sehr, sehr schnee-reich und sehr, sehr, sehr kalt ist. Nur Janina, ihr akkurater Nachbar Magota und ihr brutaler Nachbar Big Foot bleiben auch über den Winter dort.

Janina war einst Brückenbauingenieurin. Krankheitsbedingt wechselte sie in den Lehr- beruf und unterrichtete Englisch als Fremdsprache, was ihr durchaus Freude machte. Inzwischen hütet sie in der Wintersaison die verlassenen Häuser der abwesenden Nach-barn und entfernt bei ihren regelmäßigen Rundgängen durch den Wald heimlich die Drahtschlingenfallen, die ihr Nachbar Bigfoot zum Wildern auslegt.

Sie pflegt freundschaftlichen Kontakt mit Dyzio, einem ehemaligen Englischschüler, dem sie bei seinen Übersetzungen von William-Blake-Texten ins Polnische hilft. Einmal pro Woche macht sich Dyzio auf den im Winter mühsamen Weg von der Stadt zum Hoch- plateau, Janina kocht etwas Leckeres, sie befassen sich mit der Übersetzung und unterhalten sich angeregt.

Immer wieder wird deutlich, wie sehr Janina unter dem achtlosen Umgang der Men- schen mit der Natur und den Tieren leidet; dabei changiert ihre Betroffenheit zwischen weiß-glühendem Zorn und dunkler Trauer. Sie verfügt über einen ganzheitlichen Blick auf das Leben und eine durchdringende Menschenkenntnis, die durch die ernsthafte Beschäftigung mit Astrologie eine faszinierende Ergänzung findet.

Eines Nachts wird Janina von ihrem Nachbarn Magota aus dem Schlaf gerissen, da er die Leiche von Big Foot gefunden hat. Der Tote liegt auf seinem schmuddeligen Küchenbo-den, erstickt an einem Rehknochen, der ihm im Halse stecken geblieben ist. Zwar hegte Janina alles andere als Sympathie für den tierquälerischen Nachbarn und empfindet dabei seine Todesart sogar als ausgleichende Gerechtigkeit, dennoch hat sie zugleich ein allgemein menschliches Mitgefühl mit seiner Sterblichkeit.

Die Polizei bewertet den Tod von Big Foot als Unfall, und Janinas Auffassung, daß er auf gewundenen Wegen an der Rache der gequälten Tiere gestorben sei, wird nur verächt- lich belächelt. Daß sie außerdem astrologische Berechnungen zum Todeszeitpunkt und zur Todesart anführt, macht ihre Betrachtungsweise für die Polizei erst recht unglaub- würdig. Nun, Janina läßt sich davon nicht entmutigen, sie recherchiert einfach weiter.

Wenig später gibt es einen weiteren Toten, an dessen Fundort sich auffällig zahlreiche Rehspuren im Schnee befinden. Außerdem trägt der Tote sehr viel Bargeld bei sich, was aus Polizeiperspektive Vermutungen auf mögliche mafiöse Verbindungen nahelegt. Janina bleibt indes stur bei ihrer Theorie ausgleichenden Naturrechts und findet Parallelen zum Tod von Big Foot. Tapfer folgt sie Spuren, die gewöhnliche Menschen nicht wahrnehmen …

Die Sprache der Autorin ist niveauvoll und facettenreich und wird durch das astrologische Vokabular sinnvoll ergänzt und bereichert. Für Leser, die allerdings nicht mit der Systematik und Symbolik der Astrologie sowie mit den dazugehörigen psychologischen Archetypen vertraut sind, könnten die Textpassagen mit den Horoskopbeschreibungen willkürlich und unver-ständlich wirken.

Auf jedes Kapitel wird mit einem William-Blake-Zitat eingestimmt. Obwohl sich die Handlung über ein ganzes Jahr erstreckt und der Wechsel der Jahreszeiten die landschaftliche Kulisse verändert und begrünt, wirken die Szenerien stets wie Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit einigen Tupfern beleben- den Rots, also ähnlich, wie der Kampa-Verlag die Titelbildgrafik gestaltet hat. Zwar gibt es den literarischen Begriff  „In-Schwarz-Weiß-geschrieben“ nicht, aber hier erscheint er mir angebracht.

Dieser außergewöhnliche Roman verbindet kriminalistische Spannung mit philosophischen Betrachtungen zur Stellung des Menschen in Natur und Ge- sellschaft. Einerseits finden wir hier schmerzhaft-glasklare Psychogramme einiger recht unangenehmer Zeitgenossen, andererseits auch einen feinen, schelmischen Humor sowie eine anrührende Zärtlichkeit gegenüber Tieren und tiefe Demut vor der Natur.

 

»Jede unserer Taten, in winzige Vibrationen der Photonen verwandelt, fliegt letztlich in den Kosmos, wie ein Film, und die Planeten werden sie bis ans Ende der Tage ansehen.« (Seite 54)

»Die Tiere sagen etwas über das Land. Die  Beziehung zu den Tieren verrät, wie es um das Land bestellt ist. Wenn sich die Menschen den Tieren gegenüber bestialisch ver-halten, dann hilft ihnen keine Demokratie und auch sonst nichts.« (Seite 120)

»Die Welt ist ein großes Netz, eine Ganzheit, und es gibt nichts, was nicht dazugehört. Auch das allerkleinste Stückchen Welt ist mit anderen verbunden, durch den kompli-zierten Kosmos der Korrespondenz, der mit dem normalen Verstand nicht leicht zu ergründen ist.« (Seite 71)

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://kampaverlag.ch/der-gesang-der-fledermaeuse/

 

Die Autorin:

»Olga Tokarczuk,  1962 im polnischen Sulechóv geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Sie zählt zu den bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen über-setzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für die „Jakobsbücher“, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, ausgezeichnet und 2018 mit dem Jan-Michalsky-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für „Unrast“ (im Frühjahr 2019 im Kampa Verlag erschienen) für den sie auch 2019 wieder nominiert war: Ihr Roman „Der Gesang der Fledermäuse“ stand auf der Shortlist. 2019 wurde Olga Tokarczuk mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet. Zum Schreiben zieht sich Olga Tokarczuk in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.«

 

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Die Schneeschwester

  • Eine Weihnachtsgeschichte in 24 Kapiteln
  • von Maja Lunde
  • Originaltitel: »Snøsøsteren«
  • aus dem Norwegischen von Paul Berf
  • Buchvorlage:  btb Verlag
  • Hörbuch Oktober 2018 der Hörverlag  www.hoerverlag.de
  • vollständige Lesung
  • Produktion: der Hörverlag 2018
  • Regie: Caroline Neven Du Mont
  • gelesen von Axel Milberg
  • Laufzeit: ca. 3 Stunden und 40 Minuten
  • 3 CDs
  • 14,99 € (D), 16,90 € (A), 21,90 sFr.
  • ISBN 978-3-8445-3246-3
  • Kinderbuch ab 10 Jahren aufwärts bis 100 Jahren

DIESSEITS  VON  WEIHNACHTEN

Hörbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

„Die Schneeschwester“ ist eine außergewöhnliche Weihnachtsgeschichte, die das Herz zum Schmelzen bringt und die Daseinsdankbarkeit wachküßt. Dieses Hörbuch ist advents-kalendermäßig in 24 Kapitel eingeteilt, bietet jedoch keine leichte Süßkost, sondern tiefberührende, gefühlsechte, ernste und heitere, schmerzliche und freudige Lebensgeschmacksvielfalt.

Julian ist ein Weihnachtskind, denn er kam am Heiligen Abend zur Welt, und da in Norwegen Weihnachten Jul heißt, trägt er den Namen Julian. Seine kleine Schwester heißt nach dieser familiären Namenstradition Augusta und seine große Schwester Juni. Julian liebt Weihnachten und das ganze stimmungsvoll-gemütliche und kulinarische Zubehör: Kaminfeuerwärme, Kerzenlicht, Pfefferkuchen, Räucherwerk, Sternchen-dekoration, Zimt, Schnee, Tannenbaum, Musik, Gesang, Geschenke und Kakao sowie das geborgene und heitere familiäre Miteinander.

Dieses Jahr wird Julian zehn Jahre alt – ein runder Geburtstag und Heilig Abend! Dies könnte eigentlich ein Anlaß für besonders viel Vorfreude sein. Doch im Sommer ist Julians große Schwester gestorben, und die Familie befindet sich in Trauererstarrung. Alle Lebensäußerungen sind gedämpft, und manchmal hat Julian den Eindruck, daß seine Eltern nur noch leblose Kopien sind, die zwar den Alltag ordentlich regeln, aber nicht wirklich da sind. In einer Woche ist nun Weihnachten, aber die häusliche Situation wirkt, als fiele das Fest dieses Jahr aus. Noch nicht einmal der Adventskerzenhalter ist bisher aufgestellt worden.

Bezüglich des großen Verlustes herrscht familiäre Sprachlosigkeit, und auch mit seinem besten Freund kann Julian nicht über das sprechen, was ihm auf dem Herzen liegt. Dabei hatten sie sich früher immer endlos viel zu sagen gehabt.

Julian dreht seine Schwimmrunden im Hallenbad. Beim Schwimmen muß er sich ganz auf seinen Atemrhythmus und die Bewegungsabläufe konzentrieren, was eine willkommene Ablenkung von den betrüblichen Gedanken und Gefühlen ist, die ihn seit Junis Tod begleiten und belasten.

Während einer Schwimmpause sieht er ein Mädchen mit rotem Mantel, das mit leuch-tenden grün-grauen Augen von draußen durch die Glaswand in die Schwimmhalle hineinschaut. Nach diesem überraschenden Blickkontakt winkt sie ihm zu, und Julian winkt spontan zurück. Daraufhin schenkt ihm das unbekannte Mädchen ein solch strahlend-offenes Lächeln, daß er das Lächeln einfach erwidern muß.

Als er nach dem Schwimmen die Halle verläßt, wartet das Mädchen am Eingang auf ihn. Sie empfängt ihn überschwenglich, stellt sich als Hedvig Hansen vor, redet wie ein Wasserfall auf ihn ein und schwärmt ihm von der Schönheit Weihnachtens vor. Sie lädt Julian in ihr Elternhaus, die Villa Mistel, ein. Dort ist schon alles weihnachtsfestlich ge-schmückt und so warmherzig eingerichtet, daß sich Julian sehr wohlfühlt. Hedvig kocht Kakao für sie, und so beginnt eine wunderbare Freundschaft, die in Julian endlich wieder zarte Fünkchen von Freude hervorruft.

Mit Hedvig kann Julian sogar über seine verstorbene Schwester reden. Hedvig scheut das schmerzliche Thema nicht und reagiert sehr einfühlsam auf alles, was Julian ihr erzählt. Ihr Mitgefühl und ihre lebensfrohe Zugewandtheit bekommen ihm gut, und die Kinder verbringen eine anregende Zeit miteinander.

Julian wundert sich gelegentlich über altmodische Worte, die Hedvig benutzt, und trotz all der verspielten Heiterkeit und eloquenten Munterkeit hat auch Hedvig ihre Verletz- lichkeiten und verschwiegenen Geheimnisse; beispielsweise kann sie nicht schwimmen. Dies gibt Julian die Gelegenheit, ihr Schwimmunterricht zu geben und dabei die Erfahrung zu machen, wie schön es sein kann, jemandem zu helfen.

Bestärkt durch die intensive Freundschaftserfahrung und Hedvigs ansteckende Lebens-lust, fühlt sich Julian dazu ermutigt, die Gefühlserstarrung seiner Eltern in Frage zu stellen und zu überwinden. Außerdem ist seine Herzensbildung inzwischen so ausge-prägt, daß er alleine schon seiner kleinen Schwester zuliebe unbedingt dafür sorgen will, daß die vertraute familiäre Weihnachtstradition fortgesetzt wird. Das ist nicht leicht und bedarf mehrerer zunächst vergeblicher Anläufe, aber schließlich gelingt es ihm, indem er seine Eltern auf sehr kreative Weise mit seiner liebevollen Erinnerung an seine Schwester Juni überwältigt.

Julian entschlüsselt nach und nach auch Hedvigs Geheimnis. Die Loslaßübung, bei der er am Ende Hedvig liebevoll unterstützt, wird auch für ihn eine tiefe, ja, transformierende Erfahrung, die sein Leben bereichert. Hier wird das Leben bejaht, ohne den Tod zu verneinen.

Das subtil übersinnliche Element, welches mit der Figur von Hedvig verknüpft ist, wird von der Autorin virtuos von Anfang an in zahlreichen Anspielungen angedeutet, die sich indes erst in der Leserückblende voll und ganz erschließen.

Maja Lunde schreibt sehr nahe und glaubwürdig am kindlichen Herzen entlang, ihre Sprache ist empfindsam, anschaulich und sehr zärtlich, die Charaktere sind lebhaft und ausstrahlungsstark und verfügen über eine reichhaltige emotionale Bandbreite. Sehr positiv aufgefallen ist mir zudem, daß die Autorin dem Unerklärlichen unausgesproch- enen Raum zwischen den Zeilen läßt.

Die Liebe zum Leben überwindet die Schwerkraft der Trauer – von nichts weniger handelt dieses bemerkenswerte Buch. Angesichts des Todes das Leben zu verneinen ist ebenso unheilsam und unsinnig wie angesichts des Lebens den Tod zu verneinen. Schmerzlichen Gefühlen sollte ebenso Ausdruck gegeben werden dürfen wie schönen Erinnerungen und der Dankbarkeit für das Gewesene. Diese Lektion begreift Julian durch die Begegnung mit Hedvig früher als seine Eltern.

Ja, diese Geschichte wird Sie zum Weinen bringen – und dennoch trösten. „Die Schnee- schwester“ gehört zu der kostbaren Sorte Kinderbuch, für die man niemals zu alt ist.

Axel Milberg liest „Die Schneeschwester“ in einem warmherzigen basso continuo, mit unaufdringlichen Gefühlsausschlägen und einfühlsamen figur- und situationsbezogenen Nuancen. Man könnte einwenden, daß eine erwachsene Stimme für den kindlichen Ich-Erzähler zu alt sei, aber in meinen Ohren klingt der Sprecher sehr wahrhaftig.

Zum Ausklang lasse ich gerne Hedvigs poetisches Bild der Freude zu Wort kommen:

„Es ist, als würde das Herz auf Schlittschuhen stehen
 und sich in Pirouetten drehen und drehen,
 bis mir ganz schwindelig wird – wunderbar schwindelig.“

 

Hier entlang zum Hörbuch und zur HÖRPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.randomhouse.de/Hoerbuch/Die-Schneeschwester/Maja-Lunde/der-Hoerverlag/e553153.rhd

 

Die Autorin:

»Maja Lunde wurde 1975 in Oslo geboren, wo sie auch heute noch mit ihrer Familie lebt. Ihr Roman „Die Geschichte der Bienen“ wurde mit dem norwegischen Buchhändlerpreis ausgezeichnet, in 30 Länder verkauft und sorgte auch international für Furore. Das Buch stand monatelang auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste und war der meistverkaufte Roman des Jahres 2017. Im Frühjahr 2018 erschien mit „Die Geschichte des Wassers“ der zweite Teil ihres literarischen Klima-Quartetts, das sich mit den Folgen menschlichen Handelns für die Natur beschäftigt.«

Der Übersetzer:

»Paul Berf, geboren 1963 in Frechen bei Köln, lebt nach seinem Skandinavistikstudium als freier Übersetzer in Köln. Er übertrug u. a. Henning Mankell, Kjell Westö, Aris Fioretos und Selma Lagerlöf ins Deutsche. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.«

Der Sprecher:

»Axel Milberg war bis 1997 Mitglied des Ensembles der Münchner Kammerspiele und arbeitete mit Regisseuren wie Dieter Dorn, Thomas Langhoff oder Peter Zadek. Mitte der 90er-Jahre wandte sich der wandelbare Schauspieler verstärkt Film und Fernsehen zu. Seither war er in zahlreichen erfolgreichen Produktionen zu sehen, z. B. in „Jahrestage“ (2000), „The International“ (2009), „Ludwig II.“ (2012), „Hannah Arendt“ (2012). Seit 2003 ist Axel Milberg außerdem in seiner Heimatstadt Kiel als „Tatort“-Kommissar Klaus Borowski auf Verbrecherjagd.«

 

Die BUCHAUSGABE ist im btb-Verlag erschienen
Die Schneeschwester
von Maja Lunde
aus dem Norwegischen von Paul Berf
durchgehend farbig illustriert von Lisa Aisato
gebunden
mit Schutzumschlag
Format: 21,5 x 24,3 cm
200 Seiten
15,00 € (D), 15,50 € (A), 21,50 sFr.
ISBN 978-3-442-75827-2
Kinderbuch ab 10 Jahren aufwärts bis 100 Jahren
Hier entlang zur BUCHAUSGABE und LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.randomhouse.de/Buch/Die-Schneeschwester/Maja-Lunde/btb-Hardcover/e552755.rhd

 

 

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