Das Lied des Stars

  • Text und Illustration von Octavie Wolters
  • Originaltitel:»Het lied van de spreeuw«
  • Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart
  • Verlag Freies Geistesleben, Februar 2023 www.geistesleben.com
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 33,7 x 24,2 cm
  • 32 Seiten
  • 20,00 € (D), 20,600 € (A)
  • ISBN 978-3-7725-3117-0
  • Bilderbuch ab 5 Jahren und darüber hinaus für jedes weitere Alter

Das Lied des Stars Titelbild 2
N A T U R G E S A N G

Bilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Das Bilderbuch „Das Lied des Stars“ beginnt mit dem Flug eines Stars und seiner Perspektive auf das Land. Er ist von Freude erfüllt über die vielfältige Schönheit der Landschaftsformen, Elemente und Naturerscheinungen, und er beschließt, ein Lied über seine Wahrnehmungen zu singen – und zwar „ein Lied, wie schön alles ist, wenn man so hinschaut wie ich“.

Er trifft verschiedene Tiere und erzählt ihnen von seinem  Vorhaben. Jedes Tier erinnert ihn an weitere Naturschönheiten, die er ebenfalls in sein Lied aufnehmen solle. Der Specht erwähnt die Bäume, die Eule die vielfarbige Dunkelheit der Nacht, der Eisvogel spricht vom Wasser, das Rotkehlchen von den Blüten und ihren Stimmen, die anderen Stare schwärmen vom Einssein im Schwarm usw.

Das Lied des Stars Innenabbildung mit Eule

Illustration von Octavie Wolters © Verlag Freies Geistesleben 2023

Schließlich fügt der Star seine eigenen Empfindungen und die Anregungen der anderen Mitgeschöpfe zu einem Lied zusammen und singt dieses Lied – auch für uns, wenn wir lauschen wollen oder vielleicht sogar mitsingen.

Dieses Bilderbuch besingt in Wort und Bild die Natur und das Leben. Octavie Wolters‘ Text ist leise und doch eindringlich. Mit wenigen naturpoetischen Zeilen erzeugt sie eine Stimmung zärtlicher Naturbetrachtung und dankbarer Würdigung. Ihre kunstvollen Linoldruck-Illustrationen heben durch die grafischen Schwarz-weiß-Kontraste die Formschönheit der einzelnen Tiere und Pflanzen besonders hervor.

Das Lied des Stars Innenabbildung

Illustration von Octavie Wolters © Verlag Freies Geistesleben 2023

„Das Lied des Stars“ ist ein meditatives Bilderbuch, das poetisch-naturverbundene Kinder ansprechen wird, aber es ist auch eine Lese- und Betrachtungseinladung für Erwachsene, die sich gerne auf die lebendige Schönheit der Natur zurückbesinnen mögen.

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.geistesleben.de/Buecher-die-mitwachsen/Bilderbuch/Das-Lied-des-Stars.html
Und hier bekommen wir ein kleinen sehenswerten Einblick in Octavie Wolters Handwerkskunst: https://www.youtube.com/watch?v=8Un6Bqx7oxc

Die Autorin und Illustration:

»Octavie Wolters wurde 1977 in Sint Odiliënberg in der niederländischen Provinz Limburg geboren und studierte Rechtswissenschaften, Niederländische Sprache und Literatur. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin (ihr Romandebüt ›Voorland‹ erschien 2016) arbeitet sie als bildende Künstlerin und liebt hierbei den Linol- und Holzschnitt und das Illustrieren von Natureindrücken. Ihr Buch ›Het lied van de spreeuw‹ / ›Das Lied des Stars‹ stand auf der Longlist des World Illustration Award 2022, gewann einen Silbernen Pinsel und war für den Jan Wolkers-Preis 2022 für das beste Naturbuch der Niederlande nominiert. www.octaviewolters.nl«

Die Übersetzerin:

»Eva Schweikart absolvierte eine Übersetzerausbildung und arbeitete zunächst etliche Jahre im Lektorat eines Verlages, bevor sie sich 1997 als Literaturübersetzerin aus dem Niederländischen und Englischen selbstständig machte. Seither hat sie über 100 Bücher aus den Bereichen Belletristik, Kinder- und Jugendliteratur sowie Sachbuch übersetzt. 2010 war sie mit ›Chatroom-Falle‹ (Loewe-Verlag) zum Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, für ihre Übersetzung von ›Emilia und der Junge aus dem Meer‹ (Thienemann Verlag) erhielt sie 2019 den Christoph Martin Wieland-Übersetzerpreis. Eva Schweikart lebt in Hannover. www.eva-schweikart.de «

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Mein WABI SABI Garten

  • respektvoll gestalten, achtsam genießen
  • von Annette Lepple
  • Ulmer Verlag, Januar 2020 www.ulmer.de
  • Flexbroschur
  • Fadenheftung
  • 144 Seiten
  • 165 Farbfotos
  • 25,00 €
  • ISBN 978-3-8186-0943-6

Mein WABI SABI Garten

LEBENSPHILOSOPHISCHE  GARTENMEDITATION

Rezension von Ulrike Sokul ©

Annette Lepple beginnt ihren Gartenratgeber mit einer Einführung in das ästhetische Konzept des WABI SABI. Der Begriff WABI SABI 侘寂 stammt aus dem Japanischen und wurzelt im Zen-Buddhismus.

Die nachfolgend zitierten Prinzipien des WABI SABI (»Alles ist vergänglich. Nichts ist jemals fertig. Nichts ist vollkommen.« Seite 12) bedingen eine entspannte, gelassene Vorstellung von Schönheit, die das Unvollkommene, natürlich Schlichte, Einfache, Flüchtige, ja, sogar den Verfall wertschätzt.

Übertragen auf die Gestaltung des Gartens bedeutet dies, demütig und dankbar von der natürlichen Harmonie der Natur zu lernen, geschehen zu lassen und nur maßvoll und achtsam sowie mit nachhaltigen, ökologischen Methoden einzugreifen.

Dazu gehört beispielsweise die Verwendung von Naturmaterialien wie Tontöpfen, die gerne Patina ansetzen dürfen, oder von Gestaltungselementen aus Natursteinen und Totholz, die, bewachsen mit Flechten und Moosen, einerseits natürliche und veränder- liche Schönheit repräsentieren und andererseits einen Mikrolebensraum für zahlreiche Mitlebewesen bieten.

Zur WABI-SABI-Ästhetik gehört auch die Wertschätzung kunsthandwerklich herge- stellten dekorativen und funktionellen Zubehörs sowie die Weiternutzung oder Umfunktionierung alter, verwitterter Gegenstände – wobei Gegenstände selbstver- ständlich nur eine sehr bescheidene und vereinzelte Nebenrolle spielen, die Hauptrolle spielt Mutter Natur.

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Foto von Annette Lepple © Ulmer Verlag 2020

Ein WABI-SABI-Garten ist das Gegenteil eines sterilen, akribisch aufgeräumten, natur-entfremdeten Folien-Kies-Gartens, aber er ist auch kein verwilderter Garten. Die Natur wird durchaus kultiviert, aber eben nicht gewaltsam unterdrückt, sondern der WABI-SABI-Gärtner kooperiert, ja, kommuniziert mit der Natur. Dies vereinfacht viele Pflege-maßnahmen. So läßt sich z.B. durch Mulchen und standortgemäße Pflanzen der Auf- wand fürs Gießen reduzieren. Da keine Perfektion angestrebt wird, ist es in Ordnung, daß der Garten niemals fertig ist, sondern stets im Werden begriffen. Weniger Kontrollzwang im Garten führt als wünschenswerte Nebenwirkung zu mehr gartengenießerischer Muße und befriedigender Naturverbundenheit.  

»Im Idealfall entwickelt sich ein guter Garten langsam mit einem selbst.«

Im WABI-SABI-Garten wird es begrüßt, wenn sich Pflanzen selbst ihren Standort aus-suchen und nur wenn sie zu viel Raum einnehmen oder andere erwünschte Pflanzen bedrängen, werden sie reduziert oder entfernt. Der Zauber des Zufalls choreografiert ein veränderliches Erscheinungsbild des Gartens und gibt anmutigen, natürlichen Pflanzenkompositionen Raum.

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Foto von Annette Lepple © Ulmer Verlag 2020

Die Veränderlichkeit des pflanzlichen Erscheinungsbildes im Wechsel der Jahreszeiten wird beachtet und gewürdigt. Also bleiben z.B. Samenstände über den Winter stehen, zeigen ihre eigene Schönheit der Vergänglichkeit und stellen eine ökologisch wertvolle Überwinterungsmöglichkeit für Insekten und eine Futtervorratskammer für Vögel zur Verfügung. Mit WABI-SABI verbinden sich ökologisch-nachhaltige gärtnerische Methoden mit natureinfühlsamen gestalterischen und strukturellen Elementen.  

Die Autorin thematisiert u.a. unterschiedliche Möglichkeiten, den Garten mit Wasser (Teich, Brunnen, Wasserspiel, Minikübelteich, Wasserfall) zu bereichern, Lebens- und Nisträume für Tiere zu schaffen, aus Bambus, alten Ästen, Schwemmholz oder Weiden-ruten Zäune und Rankhilfen zu basteln, Gartenwege mit Rindenmulch, Kies oder Natur-steinplatten zu belegen und Trockenmauern zu installieren.

Passende Pflanzenlisten und bebilderte Einzelportraits von Blumen, Stauden, Sträuchern, Gräsern und Bäumen zeigen ein weites Gestaltungsspektrum.

Zahlreiche sehr schöne Fotos von Gartenszenerien vermitteln einen anschaulichen und inspirierenden Eindruck des meditativen und naturpoetischen Erscheinungsbildes des WABI-SABI-Gartenstils.

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.ulmer.de/usd-6279691/mein-wabi-sabi-garten-.html

Die Autorin:

»Annette Lepple studierte Gartendesign in London und hat sich als Fotografin, Journalistin und Autorin einen Namen gemacht. Sie lebt in der Schweiz und in Frankreich, wo sie unter erschwerten klimatischen Bedingungen zauberhafte Gärten gestaltet. Nachhaltiges und genussvolles Gärtnern ist ihr ein großes Anliegen.« Sehenswerte Einblicke in Annette Lepples eigenes Gartenparadies gewährt ihre Webseite: http://www.personaleden.wordpress.com

Der Klang der Wälder

  • von Natsu Miyashita
  • Roman
  • Originaltitel: »Hitsuji to Hagane no Mori«
  • Aus dem Japanischen von Sabine Mangold
  • Insel Verlag 2022 www.insel-verlag.de
  • Taschenbuch
  • 238 Seiten
  • 11,00 € (D), 11,40 € (A)
  • ISBN 978-3-458-68217-2

Der Klang der Wälder

K L A N G S P U R E N

Rezension von Ulrike Sokul ©

Eine zufällige Begegnung führt den Schüler Tomura kurz vor dem Schulabschluß zu seiner Bestimmung. Ein Lehrer bittet ihn, stellvertretend den Klavierstimmer in der Schule zu empfangen und ihn zum Schulklavier, das in der Turnhalle steht, zu begleiten.

Tomura führt also Herrn Itadori, den Klavierstimmer des örtlichen Musikinstrumenten-händlers, in die Turnhalle. Während der Klavierstimmer einige Töne anschlägt, wird Tomura unmittelbar von diesen Klängen ergriffen und erinnert sich an seine Kindheit, an sein heimatliches Bergdorf und an die ausgedehnten Wälder, ja, er riecht sogar plötzlich den Wald.

Fasziniert beobachtet er die sorgfältige Arbeit des Klavierstimmers, die Werkzeuge und die Prüfung der Töne. Itadori erklärt ihm bereitwillig einige Details zum Aufbau eines Klaviers, er spricht von Tasten, Saiten und Hämmern, die mit Filzköpfen ausgestattet sind, sowie über Holzarten. Zum Abschied gibt ihm Itadori seine Visitenkarte und lädt ihn dazu ein, ihn im Klaviergeschäft zu besuchen.

Tomura folgt dieser Einladung und fragt Itadori bei dieser Gelegenheit spontan, ob er ihn als Lehrling annehmen würde. Freundlich weist er Tomura auf eine Fachschule für Klavierstimmer hin, die er zunächst absolvieren solle. Dann sähe man weiter.

Entschlossen und diszipliniert läßt sich Tomura auf dieses zweijährige, durchaus an-strengende Studium ein und wird tatsächlich als Lehrling eingestellt. Praktische Erfahrung erwirbt Tomura nun durch das tägliche Stimmen der Klaviere und Flügel, die sich im Ladenlokal befinden. Außerdem begleitet er die älteren und erfahrenen Klavierstimmer bei Hausbesuchen. Zwar darf er nur selten mit Itadori zusammen- arbeiten, aber Itadori bleibt gewissermaßen sein Leitstern und Vorbild.

So sammelt Tomura vielsaitige handwerkliche und zwischenmenschliche Erfahrungen. Er erlebt helle und dunkle Augenblicke, Selbstzweifel und Unsicherheit hinsichtlich seiner Fähigkeiten, aber ebenso Ermutigung und eine langsam wachsende Verfeinerung seines handwerklichen Könnens – und beiläufig auch seiner persönlichen Gestimmtheit.

In regelmäßigen Abständen stimmt Tomura das Klavier eines jungen Mädchens namens Kazune. Er schätzt ihr Klavierspiel ganz besonders und freut sich immer, wenn er ihrem Spiel lauschen darf. Als Kazune sich entschließt, Profi-Pianistin zu werden, bemüht sich Tomura stärker darum, den Klang des Klaviers auf Kazunes Spielweise und auf ihr Wesen abzustimmen. Dies vertieft sein Verständnis für das Klavierstimmen weit über das rein Handwerklich-Technische hinaus, und es beflügelt ihn, freudig und dankbar seinen Betrag zur Schönheit der Musik zu leisten.

Neben der Entwicklung und Reifung von Tomuras Charakter und der Entfaltung seiner Fähigkeiten erliest man in diesem Roman viel Wissenswertes über Theorie und Technik des Klavierstimmens. Anfänglich ist sich Tomura unsicher, ob er dem richtigen beruf-lichen Weg folgt. Doch Schritt für Schritt und buchstäblich Klaviertaste für Klaviertaste klärt sich der Weg, öffnet sich der Horizont. Tomura findet im Dienst für die Musik und im wohlgestimmten Klavier nicht nur die Schönheit des Klangs, sondern die Klänge evozieren die Schönheit und Verbundenheit der Welt, der Wälder, der Jahreszeiten – der Klang atmet und verleiht dem Leben poetischen Sinn.

Natsu Miyashitas Sprache ertönt auf sehr klare, leise, ruhige, sanftmütige Weise und schwingt gleichsam in harmonischer Resonanz mit der Romanhandlung.

»Nach und nach war mir klar geworden, dass Musik kein Wettbewerb sein sollte. Und das gilt erst recht für Klavierstimmer. Da hat Konkurrenzdenken schon gar nichts zu suchen. Wenn man nach etwas strebt, dann sollte es kein Platz auf einer Rangliste sein, sondern ein Zustand der Seele.« (Seite 152)

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.suhrkamp.de/buch/natsu-miyashita-der-klang-der-waelder-t-9783458682172

Die Autorin:

»Natsu Miyashita wurde 1967 in der japanischen Präfektur Fukui geboren. Sie liest für ihr Leben gern und spielt Klavier, seit sie klein war. Für „Der Klang der Wälder“ erhielt sie den renommierten japanischen Buchhändlerpreis. Der Roman war in Japan ein Millionen-bestseller und wurde 2018 von Kojiro Hashimoto verfilmt.«

Die Übersetzerin:

»Sabine Mangold, geboren 1957, hat mehrere Jahre in Japan als Dozentin gearbeitet und zahlreiche literarische Werke aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen. 2019 wurde sie mit dem Preis der Japan Foundation ausgezeichnet. Mangold lebt in Berlin.«

Der perfekte Kreis

  • Roman
  • von Benjamin Myers
  • Originaltitel: »The Perfect Golden Circle«
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • DUMONT Verlag, September 2021 www.dumont-buchverlag.de
  • gebunden mit Lesebändchen
  • 224 Seiten
  • 22,00 € (D)
  • ISBN 978-3-8321-8151-1

Der perfekt Kreis 9783832181581

HOFFNUNG  SÄEN

Rezension von Ulrike Sokul ©

Die beiden Freunde Calvert und Redbone gehen einem unkonventionellen Hobby nach, wobei das Wort Hobby zu banal und bescheiden ist für die Leidenschaft, mit der die beiden im Sommer 1989 still und heimlich auf großen Getreidefeldern in Südengland hochkomplexe und sehr ästhetische Kornkreise erschaffen.

Redbone entwirft die Kornkreismuster, und Calvert findet die dazu passenden Felder. Redbone ist ein rebellischer, künstlerischer und verträumter Charakter, der gelegent-lichem Drogenkonsum nicht abgeneigt ist. Calvert ist ein ehemaliger Soldat der SAS (Special Air Service). Er ist sehr diszipliniert, gut organisiert und trägt ständig eine Sonnenbrille. Beide sind freiheitsliebend, naturverbunden und empfinden eine tiefe, ja beinahe mythische Wertschätzung für ihre heimatlichen Landschaften. Beide sind durch Geschehnisse in der Vergangenheit traumatisiert und verabscheuen die Zerstörungen, die die Zivilisation und achtlose Menschen anrichten.

Ihre Einsätze folgen einem strengen Kodex, den sie sich selbst auferlegt haben. Dieser Kodex beinhaltet praktische Verhaltensregeln und Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich der Planung und Ausführung der Kornkreise, absolute Verschwiegenheit und das Streben nach Schönheit.

Wenn Redbones Visionen zu einem neuen Entwurf ausgereift sind und Calvert die passende „Leinwand“ ausfindig gemacht hat, wird der Entwurf über Nacht in das vorge-sehene Getreidefeld „gezeichnet“. Mit Hilfe von Brettern, Pfosten und Seilen übertragen sie die geometrischen Muster in das Kornfeld. Dabei achten sie darauf, die Halme mit den Brettern nur flach zu drücken und sie nicht zu brechen.

Es versteht sich von selbst, daß sie sehr vorsichtig sein müssen, um nicht entdeckt zu werden, zumal mit Fortschreiten des Sommers und der wachsenden Anzahl ihrer ge-lungenen Kornkreise das mediale Echo größer wird ebenso wie die Menge der selbster-nannten Experten, die das Phänomen der Kornkreise erklären und entschlüsseln wollen.

Calvert und Redbone amüsieren sich über die Zeitungsartikel und Medienberichte, die ihre Werke dokumentieren, fotografieren und interpretieren, und sie freuen sich über ihren anonymen Ruhm. Doch für die beiden Freunde ist das hingebungsvolle Erschaffen der Kornkreise im wesentlichen eine Therapie, die sowohl ihrer persönlichen Heilung dient als auch der Initiation eines kollektiven Erstaunens angesichts solch großer geometrischer Schönheit und wachsender Perfektion.

Manchmal werden sie bei ihrem Vorhaben gestört und müssen improvisieren, um die unwillkommenen Zeugen abzulenken, was zu ebenso spannenden wie amüsanten Szenen führt.    

Wenn sie die Kornkreise erschaffen, arbeiten sie in aufeinander abgestimmten Bewe-gungsabläufen und eingebettet in einen größeren Atem – sie werden Teil der unzähligen geschichtlichen Schichten der Landschaft, spüren eine Verbindung zu den Ahnen und zu früheren Leben und empfinden sich als Teil der kosmischen Choreografie.

»Für einige längere Momente ist das Land ein unentwickeltes Foto, und die Zeit hat keine Bedeutung, und sowohl Redbone als auch Calvert spüren, dass sie Teil einer langen Ahnenreihe von Männern und Frauen sind, die über Tausende Jahre hinweg in verzück-tem Staunen auf just diesen Feldern gestanden haben, betört und fasziniert von der Magie des Nachthimmels, und die Kleinheit ihres Lebens und die Kostbarkeit ihres Heimatplaneten wird ihnen immer bewusster.« (Seite 176)

Von Kapitel zu Kapitel begleiten wir Redbone und Calvert bei der Planung und Durch-führung ihrer Kornkreismission. Aus ihren freundschaftlichen Gesprächen ergeben sich kurze Einblicke in ihre Vergangenheit und ihre eigenwilligen Persönlichkeiten. Mehr passiert in diesem Roman nicht und doch erzeugen Calvert und Redbones Kartografie der Schönheit und ihre Naturverehrung Anteilnahme und Interesse.

Gleichwohl bleiben die beiden Charaktere skizzenhaft und man kommt ihnen nicht wirklich nahe, da man nur biografische Schnipsel von ihnen erhascht. Dies wiederum fügt sich jedoch harmonisch in ihre Art von Kunst, die das rein Persönliche transzendiert und auf eine wortlose, archetypische Lebenstiefe und zeitlose Verbundenheit hinweist.

„Die Kunst ist die Beherrschung des Schmerzes durch die Schönheit.“ Dieses Zitat von Edgar Degas ließe sich gut als Motto für diesen Roman und für die Handlungsmotivation der beiden Hauptcharaktere verwenden.

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.dumont-buchverlag.de/buch/myers-der-perfekte-kreis-9783832181581/

 

Die Hörbuchausgabe ist bei DAV erschienen.  

  • ungekürzte Lesung von Sebastian Rudolph
  • 1 Mp3-CD
  • 22,00 €
  • ISBN 978-3-7424-2129-6
  • Hier entlang zur Hörbuchausgabe beim DAV Verlag:
    Der perfekte Kreis HÖRBUCH

 

Der Autor:

»Benjamin Myers, geboren 1976, ist Journalist und Schriftsteller. Myers hat nicht nur Romane, sondern auch Sachbücher und Lyrik geschrieben. Für seine literarischen Arbeiten hat er mehrere Preise erhalten. Sein Roman „Offene See“ (DuMont 2020) stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestellerliste und wurde mit dem Preis des unabhängigen   Buchhandels als Lieblingsbuch des Jahres ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Frau in Nordengland.«

Die Übersetzer:

»Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, beide 1955 geboren, haben Anglistik in Düssel-dorf studiert. Seither arbeiten sie als Übersetzerteam und haben u.a. Dave Eggers, Tana French, Andre Dubus III., Harper Lee, Jeanette Walls und Zadie Smith ins Deutsche übertragen.«

Querverweis:

Hier entlang zu Benjamin Myers Roman „Offene See“:   Offene See

 

Leselebenszeichen-Datenschutzerklärung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/datenschutzerklaerung/

Der Gesang der Flusskrebse

  • Roman
  • von Delia Owens
  • Originaltitel: »Where The Crawdads Sing«
  • Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt
  • von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • Verlag hanserblau, Juli 2019   http://www.hanser-literaturverlage.de
  • gebunden
  • mit Schutzumschlag und Lesebändchen
  • 464 Seiten
  • 22,00 € (D), 22,70 € (A)
  • ISBN 978-3-446-26419-9

MUTTER  NATUR

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

»Marschland ist ein Ort des Lichts, wo Gras in Wasser wächst und Wasser in den Himmel fließt.« (Seite 11)

Außenseitern wird gerne und allzuschnell Schuld zugeschoben. Als die Leiche von Chase Adams am Fuße des alten Feuerwachturms von Barkley Cove gefunden wird und keiner- lei Spuren zu finden sind, fällt der Verdacht auf Kya, das Marschmädchen. Denn wenn jemand Spuren verwischen und sich fluchterprobt gewissermaßen unsichtbar machen kann, dann ist das Kya.

Kya wächst im wilden Marschland von North Carolina auf.  Sie lebt mit ihrer liebevollen und musischen Mutter, ihrem trunksüchtigen und gewalttätigen Vater und vier älteren Geschwistern in einer zusammengezimmerten Holzhütte, die an einer von vielen einsa-men Lagunen der Marschlandschaft liegt. Die Menschen, die in der nahegelegenen Stadt Barkley Cove wohnen, betrachten alle Menschen, die in der Marsch gestrandet sind, als Gesindel – wahlweise je nach Hautfarbe als weißes oder schwarzes Gesindel. Die Geschichte beginnt in den 50iger Jahren, und die Rassentrennung ist noch aktuell.

Von ihrem Bruder Jodie lernt Kya viel über die Natur, die Gestirne und darüber, wie man seine Spuren verwischt, sich sicher in der Marschlandschaft versteckt und wie man ein Boot durch die unzähligen Wasserläufe und Buchten steuert.

Als Kya sechs Jahre jung ist, bereitet die Mutter, deren Gesicht deutliche Spuren eines vorhergehenden gewalttätigen Streits trägt, noch einmal ein Frühstück für alle Kinder. Danach verläßt sie mit einem kleinen blauen Koffer das Haus, ohne sich zu verabschie- den. Kya schaut ihr ungläubig nach und hofft  auf das sonst übliche Winken; aber dies- mal schaut die Mutter nicht zurück, und sie wird auch nie mehr zurückkehren.

Nach und nach verlassen nun die älteren Geschwister ebenfalls das mutterlose Zuhau- se, um der Gewalttätigkeit des Vaters zu entkommen. So bleibt Kya allein zurück und er-nährt sich von Griesbrei und von Gemüse aus dem Garten. Der Vater ist häufig tagelang abwesend, kommt meist schlecht gelaunt zurück, schlägt Kya jedoch nicht und gibt ihr kleine Geldbeträge, mit denen sie in der Stadt ihre bescheidenen Einkäufe bezahlt.

Er trinkt deutlich weniger Alkohol und macht regelmäßige Bootsausfahrten mit ihr, bei denen sie gemeinsam angeln. Während dieser friedlichen Ausflüge plaudert der Vater ein bißchen aus der Familiengeschichte, und einmal nennt er Kya sogar freundlich Schätzchen. Dies ist mehr väterliche Zuwendung, als sie jemals zuvor erlebt hat.

Da Kya im schulpflichtigen Alter ist, wird sie aufgefordert, die Schule in Barkely Cove zu besuchen. Sie kommt barfuß in die Schule und wird von den anderen Schülern wegen ihrer Andersartigkeit, ihrer abgerissenen Kleidung und ihrer sozialen Unsicherheit aus- gelacht. Dies genügt Kya, um fortan mit der Schule garnichts und mit den Menschen aus der Stadt so wenig wie nur möglich zu tun zu haben. Den Nachforschungen der Schulin- spektion entkommt sie spielend, da ihre wachen Sinne und ihre überlegene Kenntnis der Marschlandschaft ihr stets ein sicheres Versteck bieten. Irgendwann gibt die Schul- behörde einfach auf, das wilde Kind einfangen zu lassen. So wird sie von den Bewohnern der Stadt schließlich nur noch „das Marschmädchen“ genannt.

In einer Bucht, in der Nähe der Siedlung für die schwarze Bevölkerung des Marsch- landes, gibt es eine Bootstankstelle mit einem kleinen Allerlei-Laden, der von dem freundlichen Jumpin‘ geführt wird. Dorthin fährt Kya regelmäßig mit dem Boot, tankt und kauft ein.

Als Kya zehn Jahre alt ist, kehrt der Vater eines Tages nicht mehr zurück. Kya überlegt, wie sie zu Geld kommen könnte, und beginnt damit, frühmorgens Muscheln zu sam- meln. Jumpin‘ kauft ihr die Muscheln ab und merkt nach einer Weile, daß Kya nun ganz alleine ist. Er bespricht sich mit seiner Frau Mabel, und diese organisiert über den Kirchenbasar Kleidung und Schuhe. Mabel und Jumpin‘ gelingt es, Kya zu beschenken, ohne sie zu beschämen. Mabel gibt Kya außerdem ganz pragmatisch verschiedene Gemüsesamen und erklärt ihr, wie sie diese in ihrem Garten nutzen kann.

Abgesehen von der Zuwendung von Jumpin‘ und Mabel, die als mitfühlende, aber den-noch räumlich entfernte Ansprechpartner für sie da sind, findet Kya Geborgenheit und Zuverlässigkeit in der Natur. Sie lebt in sinnlich-körperlicher, innerer und äußerer Nähe und Verbundenheit zur Natur. Kya sammelt Federn, Muscheln, Insekten und Pflanzen, sie beobachtet sehr fein und genau und etikettiert ihre Funde mit kleinen natura- listischen Zeichnungen des Fundorts, da sie nicht schreiben kann.

Im zarten Alter von vierzehn Jahren, bei einer ihrer alltäglichen Expeditionen ins Marschland, begegnet ihr Tate. Tate ist der Sohn eines örtlichen Krabbenfischers, einige wenige Jahre älter als Kya, und ebenfalls sehr interessiert an der Natur. Behutsam, ja, geradezu poetisch, nähert sich der sensible Junge dem scheuen Marschmädchen, und er gewinnt nach und nach ihr Vertrauen. Von Tate lernt Kya lesen und schreiben, er schenkt ihr Bücher, und gemeinsam erkunden sie die ersten Regungen jugendlichen Liebeserwachens. Kya blüht auf, ihr zuvor instinktiver Zugang zur Natur wird nun er- gänzt um naturwissenschaftliche Kenntnisse. Endlich hat sie selbständigen Zugang zu Wissen, erfährt Zugehörigkeit und Zärtlichkeit. Daß Kya sich inzwischen selbst zu einer Schönheit entwickelt hat, ist ihr indes nicht bewußt.  

Tate will Biologie studieren, und dafür ist ein Ortswechsel unvermeidlich. Er verspricht Kya, zu einem bestimmten verabredeten Zeitpunkt zurückzukehren. Doch wieder wartet Kya vergeblich auf die Rückkehr eines geliebten Menschen. Denn Tate geht auf dem College gänzlich in seinen wissenschaftlichen Studien und den Versuchungen des Stadtlebens auf und weiß, daß die menschenscheue Kya ihm niemals in diese Welt folgen würde.

Kya trauert, schmiegt sich dann wieder an die Natur an, füttert ihre Möwen, wiegt sich in Meereswellen und entfaltet ihr zeichnerisches Talent.

Chase Adams, der Frauenheld von Barkley Cove, bekommt Wind von Kyas Schönheit, was seinen Jagdtrieb weckt. Doch Kya ist keineswegs leicht zu erobern, und er übt sich – entgegen seiner Gewohnheit – in Geduld und verspricht Kya sogar die Ehe. Doch auch Chase Adams bricht sein Versprechen und heiratet eine andere Frau.

Kya zieht sich in ihre erprobte Einsamkeit zurück und meistert tapfer ihren Lebens- alltag. Sie verfeinert ihr Wissen durch eifrige Lektüre (der Weg in die Stadtbibliothek gelingt ihr inzwischen), vergrößert und systematisiert ihre Sammlung von Marsch- fundstücken, und sie zeichnet und aquarelliert unermüdlich. Sie sagt den Silbermöwen und dem Strand Gedichte auf und fügt sich harmonisch in die natürlichen Rhythmen.

In der Nähe von Barkely Cove wird eine wissenschaftliche Station zur Erforschung der Marsch-Ökologie eingerichtet, und Tate plant dort zu arbeiten. Er wagt einen Besuch bei Kya, der zwar zu einer lebhaften Aussprache führt, aber zunächst keine Aussicht auf eine Annäherung bietet. Allerdings erlaubt Kya, daß Tate einige ihrer Zeichnungen mitnimmt, um sie einem Verleger zu zeigen.

Einige Wochen nach dem Tode von Chase Adams wird Kya des Mordes an Chase Adams verdächtigt, angeklagt und vor das örtliche Geschworenengericht gestellt. Die Wahrheit über Chase Adams‘ Tod hat viele sichtbare und unsichtbare sowie widersprüchliche Facetten, die während der Gerichtsverhandlung ausführlich betrachtet werden. Zum Glück hat Kya einen engagierten Anwalt und unter den Geschworenen mehr Sympathisanten, als sie vermutet hätte …

Die Autorin Delia Owens wechselt erzählerisch zwischen den Phasen der Ermittlung zu Chase Adams‘ Tod und der biographischen Entwicklung Kyas. So entsteht von Kapitel zu Kapitel eine dramatisch wachsende Spannung zwischen Kleinstadtmilieustudie und Psychogramm.

„Der Gesang der Flusskrebse“ ist ein bemerkenswerter, sehr atmosphä- rischer Roman voll natürlicher Sinnlichkeit, elementarer Kraft und tiefer Gefühle. Die Einsamkeit des verlassenen Kindes ist so greifbar, daß man beim Lesen am liebsten mit der Hand zwischen die Zeilen greifen möchte, um die kleine Kya zu trösten. Wie oft kann ein verletztes Herz das tödliche Risiko eingehen, sich wieder auf Nähe einzulassen? Nun, dieser Roman mutet uns ebensosehr die schmerzlichen wie die schönen Gezeiten des Herzens ungeschminkt zu, und er verschafft uns die Bekanntschaft mit einer außergewöhnlich charakterstarken und bewundernswert eigen-willigen Figur, die die wortlose Sprache der Natur versteht wie sonst kaum ein menschliches Wesen.

 

»Sie lächelte zum ersten Mal. Seine Augen waren dieselben wie früher. Gesichter verän-derten sich durch den Tribut, den das Leben fordert, aber Augen bleiben ein Fenster zu dem, was war, und sie konnte ihn darin sehen.« (Seite 292)


Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/der-gesang-der-flusskrebse/978-3-446-26419-9/

 

Die Autorin:

»Delia Owens, geboren in Georgia, erforschte über zwanzig Jahre als Zoologin in verschiedenen afrikanischen Ländern Elefanten, Löwen und Hyänen. Vor kurzem ist sie nach North Carolina gezogen, an den Schauplatz ihres Romandebuts, wo sie als Kind mit ihren Eltern die Sommerurlaube verlebte.«  http://www.deliaowens.com

Die Übersetzer:

»Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, beide Jahrgang 1955, übersetzen seit vielen Jahren englische und amerikanische Literatur von Autoren wie Harper Lee, Dave Eggers, Jodi Picoult und Zadie Smith.«

 

Es gibt zwei Hörbuchausgaben, eine gekürzte und eine ungekürzte, beide gesprochen von Luise Helm und beide im Verlag HÖRBUCH HAMBURG erschienen.

Hier entlang zur gekürzten Hörbuchfassung:
https://www.hoerbuch-hamburg.de/hoerbuecher/owens-der-gesang-der-flusskrebse-4981/
Hier entlang zum ungekürzten Hörbuch nebst feiner HÖRPROBE:
https://www.hoerbuch-hamburg.de/hoerbuecher/owens-der-gesang-der-flusskrebse-5108/

 

Leselebenszeichen-Datenschutzerklärung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/datenschutzerklaerung/

Manchmal rot

  • Roman
  • von Eva Baronsky
  • Aufbau Verlag April 2017  www.aufbau-verlag.de
  • Taschenbuch
  • 353 Seiten
  • 9,99 € (D)
  • ISBN 978-3-7466-3240-7
  • Leider ist dieser außergewöhnliche Roman inzwischen vergriffen und Sie müssen sich auf antiquarischem Wege darum bemühen.

VORHER – NACHHER
MAL  GANZ  ANDERS

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Wer wird man, wenn man nicht mehr weiß, wer man war? Ohne Hindernisparcours aus Gedankenbremsen, Glaubenssätzen und Gewohnheitsbewertungen wäre der Blick auf Welt und Menschen weitgehend ungetrübt von einer persönlichen Vorgeschichte. Es wäre eine großartige Chance, Ungewagtes zu wagen, Unverhofftes zu hoffen und seine Fähigkeiten, Neigungen, Stärken und Schwächen frisch auszumessen, zu erproben und vielleicht sogar eine zuvor unmögliche Möglichkeit zu wählen.

Eine solche Selbstneubestimmung in Verbindung mit den poetischen Besonderheiten synästhetischer Wahrnehmung wird in „Manchmal rot“ anschaulich und faszinierend sowie mit sprachlicher Virtuosität durchgespielt und beiläufig mit der extremen sozialen Spaltung unserer Gesellschaft verknüpft.

Zunächst erscheint es, als wäre Angelina Niemann, die weibliche Hauptfigur des Romans, weit davon entfernt, musische Neigungen zu entwickeln, die über die Betrachtung von Spielfilmen und einen ausgeprägten Sinn für Farben hinausgehen.

Angelina kommt auf dem Weg zu ihrer Putzstelle an einem Wollgeschäft vorbei und verliebt sich auf den ersten Blick in zwei Wollknäuel mit blautürkispetrolem Farbverlauf. Die Wolle ist preisreduziert auf vier Euro, doch nach einem schnellen kopfrechnerischen Kassensturz nimmt sie betrübt Abstand vom Kauf der Wolle. Sie tröstet sich damit, daß sie heute wenigstens in „ihrer“ schönen Lieblingswohnung aufräumt und saubermacht.

Zweimal wöchentlich kümmert sie sich um diese luxuriöse Penthouse-Wohnung mit grandioser Aussicht auf den Main. Den Besitzer der Wohnung hat sie noch nie gesehen, seine Freundin hatte sie eingestellt, und nachdem diese offensichtlich ausgezogen ist, hat sich an dem illegalen Arbeitsverhältnis nichts geändert.

Immer wartet ein Fünfziger an der vereinbarten Stelle auf dem Küchentresen und manchmal eine Notiz mit Sonderwünschen. Diese Notizen bedeuten Streß für Angelina, denn sie kann nicht richtig lesen und muß die Hilfe ihrer Freundin Mandy in Anspruch nehmen, der sie die Nachricht per Handyfoto sendet.

Mandy ruft dann zurück und erklärt ziemlich genervt, was auf dem Zettel steht. Diesem Telefonat kann man deutlich anmerken, daß Angelinas Selbstbewußtsein ausge- sprochen bescheiden ist. Sie ist ängstlich, unsicher und menschenscheu und zieht sich zur Entspannung gerne zum Stricken auf ihr Sofa zurück. Von ihrem erputzten Schwarzgeld profitiert ihr Freund Pit, der immer nur dann aufkreuzt, wenn ihm das Spielgeld ausgegangen ist oder er gewisse hormonelle Bedürfnisse an ihr austobt.

Dr. Christian von Söchting ist der Besitzer der gediegenen Wohnung. Er arbeitet als erfolgreicher Anwalt in einer internationalen Wirtschaftskanzlei, hat ein Jahresgehalt von gut 500.000 Euro und steht kurz vor der nächsthöheren Karrierestufe, für die er allerdings seinen Seniorchef und einstigen Mentor bei den Fusionsplänen mit einer amerikanischen Kanzlei austricksen muß.

Er fährt einen Porsche 911, und in seiner Wohnung steht ein echter Steinway-Flügel, den er einst für seine künstlerisch-ambitionierte Exfreundin Charlotte als Geschenk gekauft hatte. Dennoch hat Charlotte ihn wegen eines Kulturprofessors verlassen und ist nach Berlin gezogen. Neuerdings leidet Christian an Flugangst, was sehr anstrengend für ihn ist, da er berufsbedingt mindestens zweimal wöchentlich mit dem Flieger unterwegs ist. Schwächen, Unsicherheiten und Fehler kann er sich in keiner Form leisten, denn seine Berufswelt ist ein Haifischbecken.

Neben seinem Liebeskummer wegen Charlotte hat Christian auch verzweifelte finanzielle Probleme. Wohin mit der illegalen Provision von 1,5 Millionen Euro in bar, und wie soll er unauffällig das schweizerische Schwarzgeldkonto seines Vaters mit immerhin 30 Millionen Euro nach Deutschland transferieren? Ja, diese Leistungsträger tragen schon schwer an der existenziellen Notwendigkeit, gutes Geld vor bösen Steuern zu beschützen.

Bis auf den indirekten dienstleistungsbezogenen Kontakt gibt es keine lebensweltlichen Berührungspunkte zwischen Angelina und Christian. Doch dies ändert sich wortwörtlich schlagartig, als Angelina beim Auswechseln einer defekten Glühbirne einen Stromschlag bekommt und in Christians Wohnung von der Leiter fällt. Christian findet die bewußt- lose Putzfrau und veranlaßt ihre Einlieferung ins Krankenhaus.

Angelina erwacht nach einer längeren Bewußtlosigkeit und weiß nicht mehr, wer sie ist. Doch sie sieht Stimmen, Laute und Musik ganz deutlich in farbigen Mustern und Bildern. Die Klinikneurologin macht einige Tests mit ihr. Angelinas Faktenwissen ist intakt, nur ihr biographisches Gedächtnis funktioniert nicht. Sie müsse Geduld mit sich haben, ihre Lebenserinnerungen kämen sehr wahrscheinlich nach und nach zurück.

Christian besucht Angelina im Krankenhaus und erzählt ihr, daß sie seine Putzfrau sei, und wenn sie wolle, könne sie sich nach ihrer Genesung gerne weiter um seine Wohnung kümmern. Er bringt auch ihre Handtasche mit, die in seiner Wohnung liegengeblieben war. Angelina muß erst die Scheu überwinden, einen Blick in diese ihr fremde Hand- tasche zu werfen. Das Gefühl, sich sozusagen unbefugt in einem fremden Leben zu bewegen, begleitet sie noch lange.

Sie forscht der Vorher-Angelina nach, läßt sich von ihrer Mutter und von Mandy erzählen, wie und wer sie sei, aber ihr fehlt der emotionale Bezug. Die Nachher-Angelina ist wesentlich willensstärker und zielstrebiger sowie mangels Vergangenheitsbezügen sehr gegenwärtig.

Die nette ältere Dame, die das Bett neben Angelina belegt, benutzt häufig altmodische Wörter, und Angelina schmeckt diese Worte aufmerksam für sich ab und findet Gefallen an Formulierungen wie „unbeugsame Beharrlichkeit“. Mit unbeugsamer Beharrlichkeit bringt sie sich während des vierwöchigen Krankenhausaufenthalts selbst das Lesen und Schreiben bei, Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe.

In der zur Klinik gehörenden Kirche findet täglich ein Gottesdienst statt, bei dem Schwester Benedicta Orgel spielt. Diese Gottesdienste werden zusätzlich im Fernsehen übertragen. Als Angelina diese Musik hört, ist sie hingerissen, und es zeigt sich ihre klangfarbensynästhetische Wahrnehmung – sie kann Musik sehen:

„Lange Bänder in Grün und Blau, die kennt sie, hat sie schon mal gehört, aber jetzt wachsen Punkte mit fedrigen Spitzen raus, fliegen zu Blüten zusammen und tanzen herum. Jede Blüte hat acht Töne, das weiß ich, ohne zu zählen, und obwohl alle grün und blau sind, hat jede eine andere Farbe. Als sie die Augen aufmacht, sieht sie im Fernseher die Tasten. Schwarz und weiß, sie braucht gar nicht hinzugucken, um zu wissen, dass es immer abwechselnd Zweier- und Dreierpacks sind, damit kenn ich mich aus, dazwischen weiße, also eigentlich fünf und sieben, macht zwölf, zwei Hände, die darauf spielen, ganz groß im Bild. Sobald ein Ton da ist, weiß sie genau, welche Taste als Nächstes kommt.“ (Seite 115)

Später wird sie von Schwester Benedicta dreimal wöchentlich praktisch und theoretisch musikalisch unterrichtet werden und täglich auf Christians verwaistem Steinway-Flügel Etüden üben …

Christian hat derweil einige komplizierte und knifflige Verträge zu überprüfen, jagt von Mandant zu Mandant, von Sitzung zu Sitzung, beäugt mißtrauisch seine Kanzleikollegen und fädelt seine rücksichtslose, geheime Vorteilsnahme in die Vorverhandlungen für die angestrebte Kanzleifusion ein. Ein Versteck für die 1,5 Millionen in gebündelten Hunderteuroscheinen hat er auch spontan gefunden – solche Noten würde man doch niemals im Inneren eines Steinway vermuten oder gar suchen.

Angelina kehrt, begleitet von Mandy, in ihre eigene Wohnung zurück und versucht vergeblich ihr Leben wiederzuerkennen. Zum Befremden ihrer Freundin spricht sie nur in der dritten Person Singular von Angelina und erkundigt sich nach den Einzelheiten ihres Lebens. Offenbar war die liebste Freizeitbeschäftigung der Vorher-Angelina das Stricken, doch die Nachher-Angelina findet das langweilig.

Die neue Angelina ist wißbegierig und wird eine eifrige Leserin. Sie entdeckt die Schönheit der Sprache für sich: „… in diesem Buch gibt es massenhaft Sätze, die sie nicht auf Anhieb kapiert. Aber wenn sie die Stelle zwei- oder dreimal gelesen hat, kann’s passieren, dass einer zu leuchten anfängt und sie staunen muss, wie viel Schönheit man aus so ein paar Buchstaben zusammensetzen kann, es ist, als würde vor lauter Schönheit auch in ihr drin was zu leuchten anfangen.“ (Seite 190)

Plötzlich steht Angelinas angeblicher Freund Pit vor der Tür und reklamiert ihre lange Abwesenheit. Mit analytischer Distanz betrachtet sie sein unverschämtes Gebaren und denkt, daß sie Mandys Einschätzung, daß sie Pit getrost vergessen könne, innerlich zustimmt. Sie wird gewissermaßen doppelt wütend auf sich selbst und auf die alte Angelina, die sich eine solche grobmaschige Machobehandlung hat gefallen lassen.

Als sie sich verbal und körperlich deutlich von ihm abgrenzt, wird er gewalttätig, und Schlimmeres wird nur dadurch verhindert, daß sie kein Bier im Kühlschrank für ihn bevorratet hat und er erst mal abzischt, welches zu kaufen – natürlich mit ihrem Geld. Geistesgegenwärtig packt sie eine Tasche mit dem Nötigsten und flüchtet in Christian von Söchtings Wohnung, über deren Schlüssel sie nach wie vor verfügt.

Christian ist zunächst nicht amüsiert beim häuslichen Feierabend, seine Putzfrau vorzufinden. Sie tritt ihm gegenüber selbstbewußter auf, als sie sich fühlt, und sagt frech, daß sie vorübergehend das Gästezimmer beziehen werde. Seinen Hinweis, daß er die Polizei rufen könne, um sie loszuwerden, kontert sie mit einem dezenten Hinweis auf die Banknoten, die sie im Steinway gefunden habe, und auf die ungesicherte Strom-leitung, der sie ihren Stromschlag verdanke; sie habe schließlich nichts zu verbergen …

Ausschlaggebend für Christians Einverständnis mit Angelinas Einzug in seine Wohnung ist jedoch, daß er ihre Verletzlichkeit spürt, und dies weckt zu seiner eigenen Verwunderung Beschützerinstinkte in ihm.

Während Christian beruflich wie gewohnt weitermacht, kümmert sich Angelina um den Haushalt, liest sich durch Christians Bücherschrank, hört seine Musik-CDs und übt eifrig und unermüdlich Klavierspielen. Sie probiert Gewürze und verschiedene Kaffee- varianten aus und findet heraus, was ihrem Geschmack entspricht und was nicht.

Angelina formt und festigt ihr neues Ich. Sie entwickelt einen bemerkenswert klaren Blick auf ihre Mitmenschen, sie durchschaut ihre Masken und inneren Beweggründe. Abends stellt sie Christian viele Fragen zu Wörtern und Themen, die sie in Büchern gefunden und nicht ganz verstanden hat, und Christian beantwortet diese gerne.

Ihr Auffassungsvermögen ist sehr gut und ihre Folgefragen sind durchaus originell und zeugen von einem ausgeprägten Sinn für sprachliche Mehrdeutigkeiten und Zwischen- töne. Angelinas Attraktivität wächst in Christians Augen, und er versteht gar nicht mehr, warum er sie früher für unscheinbar hielt …

„Manchmal rot“ ist das komplexe Psychogramm zweier Charaktere, deren soziale, lebensweltliche Distanz extrem ist. Geschickt gibt die Autorin jedem Charakter einen eigenen Sprachausdruck: Angelinas Sprache ist eher umgangssprachlich, direkt und mit einfachem Vokabular. Ihr Denken und Fühlen kreist um zwischenmenschliche Belange, um Resonanz und Sympathie, um ihre sinnliche und synästhetische Wahrnehmung sowie um ihre Selbstentdeckung und ihre Hingabe an die Musik als Ausdruckskraft.

Christians Sprache ist anspruchsvoller, gebildet und durchsetzt mit Wirtschaftsenglisch. Sein Denken und Fühlen ist bestimmt von Ehrgeiz, Konkurrenz, Leistung, Mißtrauen, Status, berechnendem Taktieren und monetären Werten sowie von gelegentlichen Selbstzweifeln und Angst. Er ist mehr im Haben zu Hause und Angelina mehr im Sein.

Sowohl inhaltlich als auch sprachlich ist „Manchmal rot“ von außer gewöhnlicher Einfühlsamkeit und eröffnet dem Leser lebhaft-sinnlich fremde Perspektiven. Romanfiguren mit synästhetischer Wahrnehmung gibt es nicht oft. Da ich selbst Synästhetin bin, fand ich diese spezielle Thematik selbstverständlich besonders ansprechend und gelungen.

Wer aufgrund der Überbrückung der großen sozialen Distanz zwischen Angelina und Christian ein romantisches Ende à la „Pretty Woman“ erwartet, wird mit dem offenen Ende der Geschichte hadern. Wer jedoch gerne miterlesen möchte, wie sich eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen beherzt emanzipiert, zu Selbstbewußtsein kommt und sich durch ihre Klangfarbensynästhesie einen neuen musikalischen Horizont erschließt, der findet in  „Manchmal rot“ eine ebenso berührende wie seltenheitswerte Charakterstudie mit wohldosierten Prisen trefflicher Gesellschaftskritik.

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
http://www.aufbau-verlag.de/index.php/manchmal-rot-3982.html
Leider ist dieser außergewöhnliche Roman inzwischen vergriffen und Sie müssen sich auf antiquarischem Wege darum bemühen.

Querverweis:

Bereits Eva Baronskys erster Roman „Herr Mozart wacht auf“ spielte virtuos und amüsant mit der außergewöhnlichen Perspektive eines zeitgereisten Mozarts, der unversehens in der heutigen Gegenwart erwacht.
Hier entlang zu meiner Rezension von „Herr Mozart wacht auf“:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/02/14/herr-mozart-wacht-auf/

Die Autorin:

»Eva Baronsky, 1968 geboren, lebt im Taunus. Für ihren überraschenden und sehr erfolgreichen Debütroman „Herr Mozart wacht auf“ (2009) erhielt sie den Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises der Stadt Bad Homburg v. d. Höhe. Nach „Magnolienschlaf“ (2011) erschien 2015 ihr dritter Roman „Manchmal rot“

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Schnee

  • von Maxence Fermine
  • Roman
  • Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel: »Neige«
  • Aus dem Französischen von Monika Schlitzer
  • Unionsverlag  Juli  2016   www.unionsverlag.com
  • in Leinen gebunden
  • 112 Seiten
  • 18,00 € (D), 18,50 € (A), 24,00 sFr.
  • ISBN 978-3-293-00509-9

schnee-von-maxence-fermine-unions-verlag-2016

Illustration von Catharina Turk (Vogel) und Heike Ossenkop © Unionsverlag 2016

WORTE  BALANCIEREN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Wie bespreche ich ein Buch, das so schneeleise und so beinahe weiß auf weiß geschrieben wurde? Eine in der Schwebe bleibende, fast spurlose Spur von Worten, wie Schneeflocken sanft aufs Papier getuscht …

Wer sich mit Haikus auskennt, wird wissen, was ich meine. Das Haiku ist eine japanische Gedichtform, die aus siebzehn Silben besteht, die nach der Silbenzahl 5 / 7  / 5   auf drei Zeilen verteilt werden. Gerne wird über das Haiku gesagt, daß es „im Ungesagten das Unsagbare sage“… Andeutung, Naturbetrachtung, meditative Stille und seelisch-geistige Flügelspannweite gehören zum Schreiben eines Haikus, indes auch zum Lesen und Erleben eines Haikus.

Den ersten sieben Kapiteln dieses Buches ist jeweils ein Haiku klassischer, japanischer Haiku-Dichter vorangestellt. So wird der geneigte Leser angemessen eingestimmt.

Wir schreiben das Jahr 1884. Der siebzehnjährige Yuko lebt auf der Insel Hokkaido im Norden Japans. Sein Vater ist Shinto-Priester und erwartet von seinem Sohn, sich entweder für den Beruf des Priesters oder den des Kriegers zu entscheiden, wie es die Familientradition verlange.

Doch Yuko hat nur zwei Dinge im Sinn: Haikus und Schnee; und er äußert entschlossen seinen Wunsch, Dichter zu werden. Sein Vater ist verwundert, da er die Poesie nur für einen Zeitvertreib hält, aber er gewährt seinem Sohn eine Zeit der Besinnung. Diese Zeit nutzt Yuko, um siebenundsiebzig Haikus zu verfassen und sich seiner poetischen Berufung noch sicherer zu werden.

Die Kunde von Yukos Haiku-Eifer spricht sich bis zum Meiji-Hofe herum, und der kaiserliche Hofdichter macht sich auf den Weg, um die Qualität von Yukos Haikus zu prüfen. Yukos Vater fühlt sich angesichts des Besuchs dieses kaiserlichen Würdenträgers und dessen Lobes für die Haikus seines Sohnes sehr geehrt. Doch Yuko ist noch nicht zufrieden mit seinen bisherigen Dichtungen, er hält sie für Skizzen und Vorübungen.

Auch der Hofdichter beklagt das Fehlen von Farbe in Yukos ansonsten unvergleichlich schönen Versen, und er rät Yuko, beim alten Meister Soseki in die Lehre zu gehen, um seine Poesie zu vervollkommnen. Sein Hinweis: „Die Poesie ist vor allem anderen die Malerei, die Choreografie, die Musik und die Kalligrafie der Seele. Ein Gedicht ist zugleich das Bild, ist der Tanz, die Musik und die Schrift der Schönheit.“ (Seite 32), überzeugt den jugendlichen Dichter zwar nicht ganz, gleichwohl macht er sich am nächsten Tag auf den langen Weg in den Süden Japans zu Meister Soseki.

Yuko muß die japanischen Alpen überqueren und gerät in einen Schneesturm. Schicksalhaft findet er Schutz unter einem Felsüberhang und erblickt unter einer meterdicken Eisschicht die überirdisch schöne Gletscherleiche einer blonden, europäischen Frau und verliebt sich augenblicklich in sie. Tief berührt markiert er die Fundstelle und setzt seinen Weg fort.

Der erblindete Meister Soseki nimmt Yuko nach einer kurzen Prüfung als Schüler an. Er lehrt ihn das Sehen mit dem Herzen und unterweist ihn darin, daß der wahre Dichter ein „Seiltänzer der Sprache“ werden müsse…

Wie ein Haiku ist dieses Buch in drei Abschnitte gegliedert. Der erste Teil konzentriert sich auf Yukos Befindlichkeiten und Wahrnehmungen, der zweite Teil enthüllt die Vergangenheit des Meisters und seine Liebe zu einer französischen Seiltänzerin namens Neige. Nach dem tragischen und zu frühen Tod von Neige widmet sich der ehemalige Samurai Soseki nur noch der Erziehung seiner Tochter, Schneeflocke im Frühling, und den Künsten. Wieder und wieder versucht er mit jeder Kunstform, jedoch speziell mit der Malerei, die besondere Anmut und überirdische Schönheit seiner verunglückten Frau wiederzufinden. So wächst er in seiner künstlerischen Meisterschaft.

Im dritten Teil besuchen Yuko und Soseki den Fundort der Gletscherleiche; und hier am eisigen Grab seiner geliebten Seiltänzerin endet ganz friedlich auch Sosekis Lebenskreis. Für Yuko hingegen beginnt, nachdem er zu seinem Vater zurückgekehrt ist, ein neuer Lebenskreis und eine lebendige Liebe, denn er begegnet Schneeflocke im Frühling …

Zur Feinheit des Textes gesellt sich die harmonische und sehr stimmige äußere Gestaltung des Buches. Das asiatisch-minimalistische Aquarell eines kleinen Vogels, der im Schneegestöber auf einem Zweig sitzt, wurde als Titelbild direkt auf den Leinenbuchdeckel gedruckt. So gibt es kein lästiges Schutzumschlaggerutsche, sondern man faßt gleich sehr angenehm griffig den feinen stoffummantelten Buchdeckel an. Die dezente Farbgebung in Kombination mit der zarten Leinenstruktur hat zudem einen sehr attraktiven Transparenzeffekt.

„Schnee“ von Maxence Fermine balanciert – wie ein Haiku – zwischen dem Sagbaren und Unsagbaren. Es ist ein Buch zum Innehalten, zum stillen Mitschwingen und eine poetische Liebeserklärung an den Schnee und seine zauberhafte Gestaltungskraft.

 

Zum Ausklang nun noch mein Haiku zum Buch:

 

SCHNEELEISE

Flocke um Flocke

weiß auf weiß kalligraphiert

Worte fallen still

Ulrike Sokul ©
12/ 2016

 

 

Der Autor:

»Maxence Fermine, geboren 1968 in Albertville, machte mit seinem Debütroman Schnee in Frankreich auf Anhieb Furore. Das Buch erhielt glänzende Besprechungen und wurde von dem französischen Literaturpapst Bernard Pivot hoch gelobt. Nach Aufenthalten in Paris und Afrika lebt Maxence Fermine heute mit seiner Familie in Savoyen. Mittlerweile sind seine Bücher in zahlreiche Sprachen übersetzt.«

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
http://www.unionsverlag.com/info/title.asp?title_id=7520

 

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Der Gesandte des Mondlichts

  • Autor: Jean-Marie Robillard
  • Illustratorin: Marie Desbons
  • Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
  • TintenTrinker Verlag, Oktober 2015 http://www.tintentrinker.de
  • Format: 27 cm x 27 cm
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • 44 Seiten
  • 18 € (D), 18,50 € (A)
  • ISBN 978-3-9816323-6-1
  • Bilderbuch ab 5 Jahren
    Der Gesandte des Mondlichts Titelbild

F L Ü S T E R B L Ä T T  E R

Bilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Im Bilderbuch „Der Gesandte des Mondlichts“ ist auf 44 Seiten Papier eine ganze Welt angedeutet, eine märchenhafte Welt mit exotischer Botanik (Bambus, Ylang-Ylang-Blüten, Mangobäumen, Reisfeldern …), naturmagischer Inspiration vom Feinsten und traumwandlerischer Phantasie. Folgen Sie einfach dem Duft der Mondblütenblätter …

Der weise, alte Dichter Sastrawane Mandia tritt zu seinem Dienst beim Radscha an. In regelmäßigen Abständen schenkt er seinem Herrn Geschichten, die er sich ausgedacht hat. Diesmal hat Sastrawane Mandia etwas Herzklopfen vor der Begegnung mit dem Radscha, denn er bringt ihm ein Buch mit weißen Seiten, dessen Einband aus gefloch- tenen Akazienblättern und einem schmückenden Fächer blauer Vogelfedern besteht.

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Illustration Marie Desbons © TintenTrinker Verlag 2015

Der Große Radscha sitzt in seinem Palastgarten, neben dem Seerosenbassin, und wartet schon ungeduldig und vorfreudig auf Sastrawanes Erscheinen. Nach einer zeremoniellen Begrüßung überreicht Sastrawane seine Gabe. Der Herrscher bewundert zunächst die schöne äußere Verzierung des Buches und schlägt es dann erwartungsvoll auf: lauter Blätter aus blumenduftendem Papier, aber kein einziges Wort.

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Illustration Marie Desbons © TintenTrinker Verlag 2015

Erzürnt fragt er Sastrawane, ob er sich über ihn lustig machen wolle. Demütig antwortet dieser, daß er ihm gerne die Geschichte dieses seltsamen Buches erzählen wolle. Der Radscha willigt ein und leiht ihm sein Ohr.

Nun erzählt der alte Dichter eine sehr alte Geschichte über einen Geschichtenerzähler, der zum Geschichtenschreiben immer nächtens in seinen stillen Garten ging, um, begleitet vom Duft der Blüten und beleuchtet vom Licht der Sterne, seine Inspiration zu empfangen. Einmal schlief er jedoch ein – er war nicht mehr der Jüngste, sondern eher einer der Ältesten – und Flügelrascheln weckte ihn wieder auf.

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Illustration Marie Desbons © TintenTrinker Verlag 2015

( Anklicken vergrößert die Bilderansicht )

Er sah einen wunderschönen, weißgefiederten Vogel, der einen sanft schimmernden, blauen Stein im Schnabel trug. Der Vogel war keineswegs scheu, er vergrub den Stein in der Erde und suchte sogar für einen Augenblick Blickkontakt zum Geschichtenerzähler bevor er sich wieder in die Lüfte erhob.

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Illustration Marie Desbons © TintenTrinker Verlag 2015

Staunend beobachtete der Geschichtenerzähler, wie ein großer Baum aus dem vergrabenen Stein hervorwuchs, dessen mondfarbenes Laub aus unbeschriebenen Bücherblättern bestand. Diese leeren Blätter füllten sich nach und nach mit den den Aromen, Farben, Düften, Schattierungen,Texturen, Klängen, Stimmen und Stimmungen von Pflanzen, Tieren und Menschen, bis der Baum „vom Rauschen aller Schönheit der Welt erfüllt“ war.

Der Wind löste Blatt um Blatt vom Mondbaum ab und trug sie in die geöffneten Handflächen des alten Geschichtenerzählers, der fortan die schönsten Erzählungen und Märchen schrieb, denn er brauchte nur hinzuhören, was die Blätter ihm erzählten…

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Illustration Marie Desbons © TintenTrinker Verlag 2015

„ … Das Herz der Welt schlagen hören … Und sich tragen lassen.“ Das sind die Abschiedsworte des Dichters. Sastrawane hat Glück, sein Herr ist empfänglich für die Poesie der schlafenden Geschichten, die Sastrawanes Abschiedsgeschenk sind und die den Radscha so lange ins Märchenland begleiten werden, wie er bereit ist, in stiller Hingabe dem Duft der unbeschriebenen Mondlichtblätter zu lauschen.

Die Naturverbundenheit und sensitive Achtsamkeit, die dem Autor Jean-Marie Robillard aus jedem Satz seiner weiseleisen Märchengeschichte quellen, finden im floralen Filigran und der ausdrucksvollen Farbenpracht der Illustrationen von Marie Desbons eine harmonische Entsprechung. Marie Desbons hat die Bilder in einer Mischtechnik aus Mal- und Collagen- elementen zu märchenhaft-meditativen Szenerien mit vielen feinen Details gestaltet, die ebenso verzaubern wie die Schönheit der Worte und die Poesie des Textes.

Da kann ich mich nur noch dankbar verneigen:
Namasté

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
http://www.tintentrinker.de/gesamtkatalog/62-der-gesandte-des-mondlichts-9783981632361.html

 

Der Autor:

»Jean-Marie Robillard arbeitete 40 Jahre als Grundschullehrer und scheibt fast schon so lange auch Geschichten für Kinder. Er hat ein besonderes Faible für märchenhafte Erzählungen, die in fremden Welten spielen. Nach Großvaters Stern ist Der Gesandte des Mondlichts sein zweites Buch im TintenTrinker Verlag.«

Die Illustratorin:

»Marie Desbons studierte Design und Kommunikation. Ihr erstes Buch erschien im französischen Partnerverlag Le buveur d’encre im Jahre 2007. Seitdem arbeitet sie für viele renommierte Kinderbuchverlage Frankreichs, darunter Gautier-Langereau. Sie lebt und arbeitet in Poitiers.«

Anmerkungen zum Verlag:

Der TintenTrinker Verlag gehört zusammen mit den konzernunabhängigen Verlagen aracari, Baobab Books, Jacoby & Stuart und mixtvision zur Vertriebskooperation Indiekids   http://indiekids.de/.

Der Verlag in seinen eigenen Worten:
»Der TintenTrinker Verlag wurde 2013 als Schwesterverlag des französischen Kinder- und Jugendbuchverlags Le buveur d´encre gegründet.
Der TintenTrinker Verlag steht für das typisch französische Kinderbuch mit universellen Themen, illustriert anhand origineller und abwechslungsreicher Techniken wie Collagen, Ölfarben und Radierungen. Für Bücher, in denen das Bild- und Textprogramm ganz neu zusammenspielt, z.T. sprachlich ungewöhnlich anspruchsvoll, für universelle, aber auch philosophische Themen. Und dazu gehört auch die äußere Form mit neuen Formaten, anderem Layout, abwechslungsreichen Papieren sowie einer anders anmutenden Typographie.
Im Dezember 2015 erhielt der TintenTrinker Verlag gemeinsam mit seinem Schwesterverlag den deutsch-französischen Preis der Kultur- und Kreativwirtschaft in Paris.«

Und in meinen Worten:
Der TintenTrinker Verlag bietet ein außergewöhnlich sehenswertes, künstlerisch-anspruchsvolles und originelles Buchprogramm, das ich Ihnen gerne ans Herz lege.

Hier entlang zur Verlagswebseite: http://www.tintentrinker.de

 

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