Die lange Reise des alten Gnoms

  • Text und Illustrationen von Pirkko-Liisa Surojegin
  • Originaltitel: »Maahisen viimeinen matka«
  • Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat
  • Verlag Urachhaus, August 2022 www.urachhaus.com
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 26 x 21 cm
  • 24 Seiten
  • 17,00 €
  • ISBN 978-3-8251-5210-9
  • Bilderbuch ab 5 Jahren

Die lange Reise des alten Gnom
LICHTHEIMAT  DER  SEELE

Bilderbuchrezension von Ulrike Sokul ©

Der älteste der Wurzelgnome verabschiedet sich von seinen Mitgnomen und verkündet, daß er sich auf eine Reise begebe. Fragen nach dem Wohin dieser Reise beantwortet er nicht, er erinnert nur daran, daß die Gnome, alles was sie von ihm hinsichtlich der Waldfürsorge und eines harmonisch-friedlichen Lebens gelernt hätten, bitte beachten mögen.
Am nächsten Morgen macht sich der alte Gnom auf den Weg durch den Wald in Richtung der Berge. Der Wald riecht schon nach Winter. In einiger Entfernung wird der Gnom von einem Wolf begleitet. Am Abend erreicht er einen See und legt sich an dessen Ufer zum Schlafen nieder. Der Wurzelgnom träumt vom Sommer und von den Gnomen, die er verlassen hat.  
Über Nacht hat es geschneit, und der Gnom wird von einem großen Elch geweckt. Der Gnom ist verwundert und sorgt sich, wie er sein Reiseziel angesichts der dicken Schneedecke noch rechtzeitig erreichen könne. Doch der freundliche Elch bietet ihm sogleich an, ihn an „den Ort seiner Bestimmung“ zu bringen.
Die lange Reise des alten Gnom. Elch

Illustration von Pirkko-Liisa Surojegin © Verlag Urachhaus 2022

Also klettert der Gnom auf die Schaufeln des Elchs und läßt sich tragen. Bei einem bemoosten Stein hält der Elch an und verkündet, sie seien am Ziel. Der Gnom setzt sich auf den Stein und ist etwas verunsichert. Zuvor leitete ihn ein inneres, gewissermaßen wortloses Wissen, doch nun fühlt er sich müde und schwer, und er weiß nicht weiter.
Nach einer Warteweile erscheint ein zartflügeliges, lichtleuchtendes Wesen und setzt sich auf die Hand des Gnoms. Das Lichtwesen stellt sich mit heller Stimme als Licht- strahl vor und sagt ihm, daß es gekommen sei, um ihn ins Licht zu begleiten. Da wird es dem Gnom ganz leicht ums Herz, und er versteht jetzt, wohin seine Reise geht. Weitere Lichtwesen kommen und bahnen ihm einen „glitzernden Weg“; heiter und vertrauensvoll folgt der Gnom der Lichtspur.
Die lange Reise des alten Gnom. Elfe

Illustration von Pirkko-Liisa Surojegin © Verlag Urachhaus 2022

In diesem Bilderbuch wird der Kreislauf des Werdens und Vergehens auf feinfühlige und naturverbundene Weise erzählt. Sowohl die Worte als auch die Illustrationen verfügen über eine unaufdringliche naturmagisch-poetische Ausstrahlung, welche die Sterblichkeit aller Geschöpfe in ein größeres Leben einbettet. Hier erscheint der Tod als ein beinahe zärtlicher Wechsel der Daseinsform.
Für Kinder ist dies eine Darstellung und Deutung, welche Tod und Sterblichkeit auf leise, sanfte Weise thematisieren, ohne sie zu dramatisieren. So bietet dieses Bilder- buch gleichermaßen eine Einladung zum Gespräch wie zur tröstlichen Betrachtung.
Und vielleicht gibt es auch Kinder, die – so wie ich als Kleinkind – noch eine Erinnerung daran haben, daß sie als Lichtfunkenseele auf die Erde kamen. Dann wäre die Lektüre von „Die lange Reise des alten Gnoms“ eine willkommene Bestätigung solch inneren Wissens.

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.geistesleben.de/Lesen-was-die-Welt-erzaehlt/Bilderbuch/Die-lange-Reise-des-alten-Gnoms.html

Die Autorin & Illustratorin:

»Pirkko-Liisa Surojegin, geboren 1950 in Kuopio, Finnland, studierte Grafikdesign an der Kunst- und Designuniversität Helsinki und ist seit 1981 freiberufliche Illustratorin und Autorin. Für ihre stimmungsvollen, fein ausgearbeiteten Bilder, in Lehrbüchern, Bilder- und Märchenbüchern sowie dem Nationalepos ›Kalevala‹, ist sie in Finnland so berühmt wie beliebt.«

Die Übersetzerin:

»Elina Kritzokat, geboren 1971, ist eine deutsch-finnische Literaturübersetzerin. Sie studierte Literaturwissenschaft und übersetzt seit 2002 Belletristik, Kinder- und Jugend-literatur, Lyrik, Comics, Sachbücher, Theaterstücke und Filme aus dem Finnischen ins Deutsche. Elina Kritzokat lebt in Berlin. «

Querverweis:

Hier entlang zu einem weiteren naturmagischen Kinderbuch von Pirkko-Liisa Surojegin „Untu und das Geheimnis des Lichts“ Untu und das Geheimnis des Lichts
Und hier entlang zu einem weiteren Bilderbuch von Pirrko-Liisa Surojgin „Die tanzende Waldmaus“ Die tanzende Waldmaus

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Die Silberkammer in der Chancery Lane

  • Band 9 der übersinnlichen Peter-Grant-Reihe
  • von Ben Aaronovitch
  • Originaltitel: »Amongst Our Weapons«
  • Deutsche Übersetzung von Christine Blum
  • Deutsche Erstausgabe
  • DTV Verlag, April 2022 www.dtv.de
  • Klappenbroschur
  • Format: 13,5 x 21 cm
  • 416 Seiten
  • 15,95 € (D), 16,40 € (A), 21,50 sFr.
  • ISBN 978-3-423-26331-3

Die Silberkammer in der Chancery Lane (Peter-Grant-Serie, Band 9).klein

DAS  GEWISSE  MAGISCHE  ETWAS  NR. 9

Rezension von Ulrike Sokul ©

Wenn Sie die Peter-Grant-Reihe noch nicht kennen, sollten Sie zunächst meiner Be-sprechung des ersten Bandes einen aufmerksamen Lesebesuch abstatten, um sich mit den außergewöhnlichen, übersinnlichen Rahmenbedingungen dieser Kriminalromane vertraut zu machen: Die Flüsse von London Also nicht nur anklicken, auch lesen, wenn ich bitten darf … ich warte hier solange gaaaanz geduldig auf Ihre Rückkehr … hmhm – sehr brav … also weiter im Text:

Der attraktive und sympathische Police Detective Peter Grant arbeitet – wie Sie ja hof-fentlich inzwischen wissen – für eine Sonderabteilung der Londoner Metropolitan Police, und er befindet sich, trotz seiner inzwischen beachtlichen magischen Berufserfahrung, nach wie vor in der Weiterbildung zum zauberkundigen Ermittler. Gemeinsam mit seinem Vorgesetzten, Meister und Ausbilder, dem stilvollen Gentleman-DCI Thomas Nightingale, bemüht er sich darum, weitere Kollegen und Kolleginnen für die magische Abteilung zu finden und auszubilden.

Denn: Erstens gibt es immer wieder magieverdächtige Kriminalfälle, zweitens ist die konventionelle Polizei der Zusammenarbeit mit der geheimen Sonderabteilung inzwischen deutlich zugeneigter, und drittens steht Peter Grant kurz vor dem Beginn seiner Elternzeit. Peter ist mit der Flußgöttin Beverley Brook verheiratet und das gemischt-magische Pärchen erwartet die Geburt von Zwillingen.

Die Londoner Flußgöttinnen erscheinen in ganz irdischer menschlich-körperlicher Gestalt, und sie üben auch ganz normale Berufe aus. Beverley absolviert beispielsweise gerade ein Studium, das Bezug zur Gewässerökologie hat. Indes sollte man die elemen- taren Kräfte dieser Flußgöttinnen und ihre weitverzweigten, mäandernden verwandt- schaftlichen Netzwerke keineswegs unterschätzen – da kann es durch emotionalen Aufruhr oder mangelhafte Huldigungen schon mal zu Überschwemmungen oder übersprudelnden Hydranten kommen.

Dementsprechend aufwendig sind die Vorbereitungen und Vorsichtsmaßnahmen für die Niederkunft der göttlich-menschlichen Zwillinge. Denn ein normales Geburtsbecken in einer Klinik genügt nicht. Doch dies sind harmlose Nebenschauplätze, um die sich mit zuverlässigem organisatorischen Weitblick Beverleys flußgöttliche Verwandtschaft kümmert.

Nun zurück zu Peter Grants Arbeit. Damit DCI Nightingale nicht ganz ohne magische Unterstützung bleibt, wenn sich Peter den Vaterfreuden widmet, wird Peters Kollegin Sahra Guleed zur würdigen Vertreterin geschult, und zudem gibt es neuerdings auch Danni, eine aufgeschlossene und effiziente Praktikantin, welche die vorübergehende Mitarbeit bei der magischen Polizeiabteilung interessanter findet als normale Fortbildungen.

Folgender magieverdächtiger Fall beschäftigt nun Peter, Nightingale, Guleed und Danni:
In den London Silver Vaults, einer unterirdischen Hochsicherheits-Einkaufspassage, in der traditionell Silberhändler ihre Waren feilbieten, kam es zu einem schauerlichen Mord. Der einzige Augenzeuge hat nichts gesehen außer einem Lichtblitz, und die Überwachungskameras sind spontan ausgefallen. Das Mordopfer wurde mit einer zunächst unbekannten Waffe getötet, präziser formuliert: dem Opfer wurde das Herz entnommen. Die Mikroprozessoren der Überwachungskameras wurden zerbröselt, was im Umkreis starker Magiegeschehnisse normal ist. 

Das Mordopfer wollte einen bestimmten Silberring zurückkaufen, den seine Exfrau angeblich in den Silberkammern an einen Händler verkauft hatte. Bei diesem Silberring handelt es sich um einen sogenannten Puzzlering, der sich zu einem Astrolabium entfalten läßt. Es stellt sich heraus, daß es einer von sieben Ringen ist, die einst von den „Söhnen Wielands“, ihres Zeichens geheim-magische Schmiedekünstler, hergestellt wurden.

Im weiteren Verlauf der Ermittlung finden Peter und Guleed weitere Personen, die einen solchen Puzzlering besitzen und die auf eine verdächtig besessene Art an ihrem jeweiligen Ring hängen.

Wenig später wird ein weiteres Mordopfer, ebenfalls Ringträger, gefunden, mit der gleichen tödlichen Verletzung wie das Opfer in den Silberkammern. Peters ehemalige, abtrünnige Kollegin Lesley May, die seit dem Ende des vierten Bandes ihre speziellen eigenen Absichten verfolgt, meldet sich unerwartet kooperativ und warnt Peter telefonisch vor einer schwer zu bändigenden magischen Gefahr.

Die Warnung ist berechtigt, denn dieses magische Wesen ist ein äußerst aerodyna-mischer Auftragskillerengel mit Flammenflügeln und Feuerspeer. Die Herkunft dieses Racheengels reicht weit zurück in die Zeit der spanischen Inquisition und deren Ver-strickung in diverse magische Praktiken. Der Racheengel ist selbst nur ein fremdge-steuertes, menschliches Instrument, und Peter hat nun den Ehrgeiz, nicht nur weitere Morde zu verhindern, sondern auch den Engel aus seinem Bann zu erlösen, was – beiläufig bemerkt – noch zu kniffligen ethischen Fragen hinsichtlich der Schuldfähigkeit magisch manipulierter Wesen führt.

Für diese anspruchsvolle Rettungsaktion braucht Peter nicht nur sein ganzes magisches Geschick, sondern auch seine mittlerweile differenzierten Lateinkenntnisse (Zauber-sprüche funktionieren nämlich nur in Latein) sowie eine große Portion magisch-experimentellen Wagemuts. Und sogar Lesley wirkt hilfreich bei dieser magischen Großoperation mit.

Der neunte Peter-Grant-Fall bietet eine komplex-verflochtene, buchstäblich mehrdimen-sionale Handlung mit komplizierter konventioneller und magischer Spurensicherung, charakterstarken Figuren, filmreifen, wortwitzigen Dialogen, aufregenden magischen Kampfszenen, amüsanten sozioarchitektonischen Kommentaren zur Stadtentwicklung Londons und entspannten familiär-häuslichen Szenen, garniert mit vorwitzigen sprechenden und (be)lauschenden Füchsen.

Neben zahlreichen magischen Zutaten und einer durchgehend niveauvoll-vielschich- tigen, vergnüglich-selbstironischen Sprache fehlt es Ben Aaronovitchs Roman selbstverständlich auch nicht an angemessener gesellschaftskritischer Ironie, wie nachfolgendes Zitat anschaulich beweist.

»Die Regierung war schon seit sechs Jahren dabei, die Kriminalitätsrate zu senken, indem sie die Zahl der aktiven Polizisten immer weiter reduzierte.« (Seite 55)

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.dtv.de/buch/die-silberkammer-in-der-chancery-lane-26331

Der Autor:

»Ben Aaronovitch wuchs in einer politisch engagierten, diskussionsfreudigen Familie in Nordlondon auf. Er hat Drehbücher für viele TV-Serien, darunter ›Doctor Who‹, geschrieben und als Buchhändler gearbeitet. Inzwischen widmet er sich ganz dem Schreiben. Er lebt nach wie vor in London. Seine Fantasy-Reihe um den Londoner Polizisten Peter Grant mit übersinnlichen Kräften eroberte die internationalen Bestsellerlisten im Sturm.«

Die Übersetzerin:

»Christine Blum, geboren 1974 in Freiburg im Breisgau, studierte Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaften, Russische Literatur, Musikwissenschaft und kurze Zeit auch Medizin. Seit 2002 übersetzt sie aus dem Englischen und Russischen. Für dtv überträgt sie u. a. Ben Aaronovitch ins Deutsche.«

Hier entlang zu den Vorgängerbänden:

Band 1: DIE FLÜSSE VON LONDON Die Flüsse von London
Band 2: SCHWARZER MOND ÜBER SOHO Schwarzer Mond über Soho
Band 3: EIN WISPERN UNTER BAKER STREET Ein Wispern über Baker Street
Band 4: DER BÖSE ORT Der böse Ort
Band 5: FINGERHUT-SOMMER Fingerhut-Sommer
Band 6: DER GALGEN VON TYBORN Der Galgen von Tyborn
Band 7: DIE GLOCKE VON WHITECHAPEL Die Glocke von Whitechapel
Band 8: EIN WEISSER SCHWAN IN TABERNACLE STREET Ein weisser Schwan in Tabernacle Street

Hier entlang zu einer kurzen Peter-Grant-Geschichte, etwas außerhalb der Reihe:
GEISTER AUF DER METROPOLITAN LINE/Eine Peter-Grant-Story Geister auf der Metropolitan Line
Hier entlang zu Ben Aaronovitchs Schreibausflug in deutsche Gefilde:
DER OKTOBERMANN/Eine Tobi-Winter-Story  Der Oktobermann
Hier entlang zu einer Peter-Grant-Kurzgeschichten-Sammlung: 
DER GEIST IN DER BRITISH LIBRARY UND ANDERE GESCHICHTEN AUS DEM FOLLY Der Geist in der British Library
Hier entlang zu einer Abzweigungsgeschichte mit Peter Grants magisch hochbegabter Cousine Abigail und vielen sprechenden Füchsen:
DIE FÜCHSE VON HAMPSTEAD HEATH/Eine Abigail-Kamara-Story
Die Füchse von Hampstead Heath

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Die verlorenen Zaubersprüche

  • Text von Robert Macfarlane
  • Illustrationen von Jackie Morris
  • Originaltitel: »The Lost Spells«
  • Aus dem Englischen von Daniela Seel
  • NATURKUNDEN Nr. 77 www.naturkunden.de
  • Verlag Matthes & Seitz,  2021 www.matthes-seitz-berlin.de
  • gebunden mit Lesebändchen
  • Fadenheftung
  • Format: 18 x 12,5 cm
  • 120 Seiten
  • 22,00 € (D), 22,70 € (A)
  • ISBN 978-3-7518-0208-6

DIE VERLORENEN ZAUBERSPRÜCHE Titelbild
N A T U R S T I M M E N

Rezension von Ulrike Sokul ©

Wie bereits im großformatigen, natur- und sprachmagischen Vorgängerbuch „Die verlorenen Wörter“ (siehe meine Besprechung vom 4.4. 2019: Die verlorenen Wörter ) kultivieren der Autor Robert Macfarlane und die Illustratorin Jackie Morris auch in „Die verlorenen Zaubersprüche“ die poetische Anrufung der Natur. Diesmal wurde ein kleines handliches Buchformat gewählt, das sich gut dazu eignet, bei Spaziergängen in die Natur mitgenommen zu werden.

Doch zunächst eröffnet schon das Buch selbst einen geistigen Raum für eine buchstäb-liche Einstimmung in die Erscheinungsformenvielfalt der Natur. Auf den Vorsatzblättern tummeln sich Motten in farben- und musterfreudigen Flügelkleidern, das kurze ein-leitende Vorwort wird von der Zeichnung einer singenden Amsel begleitet, und auf der nächsten Doppelseite schauen wir einem Rotfuchs in die wilden Augen.

So ist denn auch der Rotfuchs das erste Geschöpf, welches hier zu Menschenwort kommt. Einfühlsam nimmt der Autor – soweit dies menschenmöglich ist – eine Fuchs-perspektive ein, um dem füchsischen Wesen lyrischen Ausdruck zu geben.

Wir blättern weiter zu Gänseblümchen, Dohle, Eichelhäher, Ginster, Mauerseglern, Stieglitz, Eiche, Schneehase, Schleiereule, Brachvogel, Reiher, Kegelrobbe, Tölpel, Grasnelke, Buntspecht, Buche, Schwalbe, Weißbirke … Im Anschluß an diesen vielsaitigen Chor der Natur findet sich ein illustriertes Glossar der 64 Naturwesen, deren Stimmen und Gestalten in diesem Buch imaginiert werden.

Diese poetischen Anrufungen, Bewunderungen, ja, Beschwörungen stehen in der literarischen Tradition der magischen Vorstellung, daß die Benennung eines Wesens, dieses Wesen ins Hiersein ruft. Im Vorwort wird betont, daß die geneigten Leser diese Zaubersprüche laut aussprechen oder singen sollten. »Um einen Zauber zu wirken, muss man ihn laut sprechen oder singen.«

Die naturpoetischen Texte verfügen über Sprachmelodie und Rhythmus, gelegentlich wird gereimt, manchmal wird die Versform des Akrostichons genutzt. An dieser Stelle ein CHAPEAU für die Übersetzerin Daniela Seel, der die Übertragung dieses Sprachklangs ins Deutsche kongenial gelungen ist.

Die im Buche auftretenden Tiere und Pflanzen werden von der Illustratorin Jackie Morris gleichermaßen botanisch-zoologisch naturalistisch und szenisch stimmungsvoll einge-fangen.

„Die verlorenen Zaubersprüche“  bieten mit der Kombination aus sprachmelodischem, naturmagischem Text und zahlreichen ausdrucksvoll-schönen, oft doppelseitigen Bildern eine Schule des Hörens, Sehens und Staunens und eine atmende Einladung, sein Herz für die Natur zu öffnen und sich zu besinnen, daß kein Mensch losgelöst von der Natur wirklich leben kann.

Nach all dem geheimnisvollen Spurenlesen, Blätterflüstern, Rindenblicken, Blütenstaub und Flügelschwung bleibt mir nur noch übrig, wieder meinen lobeshymnischen Refrain auf die wertvolle buchgestalterische Qualität der von Judith Schalansky heraus- gegebenen Reihe NATURKUNDEN zu singen. „Die verlorenen Zaubersprüche“ sind auf schmeichel-griffigem 120g/m² Papier gedruckt, Fadenheftung und Halbleinenbindung garantieren Langlebigkeit – da lohnt sich bibliophile Sammellust. 

PS:
Bei allem redlichen Bemühen bleibt es eine schwierige Gratwanderung, als Mensch die menschlichen Grenzen des Sehens, Fühlens und Erkennens zu überschreiten und den Geschöpfen der Natur eine wahrhaftige Stimme zu verleihen. Menschliche Naturverbun-denheit enthält stets ganz unvermeidlich wohl mehr als nur eine Prise anthropo- zentrischer Projektion. Gleichwohl ist die poetische Anregung, sich der Natur auch sprachlich zu näheren, ein möglicher Wegweiser zu einem umfassenderen Mit- und Lebensgefühl.


Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/die-verlorenen-zaubersprueche.html?lid=9

Hier entlang zum informativen und sehenswerten englischen Buchwerbefilmchen:
https://www.youtube.com/watch?v=7aDLTMb3ax8
Hier entlang zu einer englischen Rezension, die auch viele Illustrationen zeigt:
https://www.themarginalian.org/2020/11/21/the-lost-spells-macfarlane-morris/
Hier schauen wir der Illustratorin und dem Autor beim kreativen Gestalten über die Schultern:

Der Autor:

»Robert Macfarlane, 1976 in Nottinghamshire geboren, lehrt Literaturwissenschaft in Cambridge, ist Essayist und Kritiker und gilt als wichtigster britischer Autor des Nature Writing. Bei Matthes & Seitz Berlin sind bislang „Karte der Wildnis“, „Alte Wege“ und „Die verlorenen Wörter“ erschienen. Letzteres wurde mit dem BAMB Beautiful Book Award 2017 sowie als Hay Festival Book of the Year und als The Sunday Times Top Ten Bestseller ausgezeichnet.«

Die Übersetzerin:

»Daniela Seel, 1974 in Frankfurt am Main geboren, ist Verlegerin des unabhängigen Verlags kookbooks, Übersetzerin und Lyrikerin. Zuletzt erschien ihr Gedichtband „Auszug aus Eden“ (Verlag Peter Engstler). Daniela Seel lebt in Berlin.«

Die Illustratorin:

»Jackie Morris, 1961 in Birmingham geboren, lebt als freie Autorin und Künstlerin in Wales. Ihre Illustrationen zu „Die verlorenen Wörter“ wurden mehrfach ausgezeichnet und brachten dem Buch u. a. den von britischen Buchhändlern vergebenen Titel Schönstes Buch des Jahres ein.«

Querverweis:

„Die verlorenen Zaubersprüche“ ergänzen sich selbstverständlich mit dem thematisch dazugehörigen Vorgängerbuch von Robert Macfarlane und Jackie Morris „Die verlorenen Wörter“: Die verlorenen Wörter
Außerdem bieten sich harmonisch bereichernd Andreas Webers empathiesophische, sprachempfindsame Naturkunde „Alles fühlt“: Alles fühlt und seine „Minima Animalia“ an: Minima Animalia
Für Kinder eignet sich ergänzend Antje Damms Bilderbuch Was wird aus uns? Nachdenken über die Natur: Was wird aus uns? Nachdenken über die Natur


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Der lange Atem der Bäume

  • Wie Bäume lernen, mit dem Klimawandel umzugehen –
  • und warum der Wald uns retten wird,
  • wenn wir es zulassen
  • von Peter Wohlleben
  • LUDWIG Verlag, Juli 2021 http://www.ludwig-verlag.de
  • gebunden, mit Schutzumschlag
  • Format: 12,5 x 20 cm
  • 256 Seiten
  • 22,00 € (D), 22,70 € (A), 30,90 sFr.
  • ISBN 978-3-453-28094-6
Der lange Atem der Baeume von Peter Wohlleben

Der lange Atem der Baeume von Peter Wohlleben

WILDNISWÄLDER  WACHSEN  LASSEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Bäume und Wälder spielen eine Schlüsselrolle für das Weltklima und für das lokale Klima. Die beste Klimaleistung hinsichtlich intakter Bodenporen und Wasserspeicher- kapazität sowie Co₂-Speicherung, Luftfilterung, Regenregulierung und Verdunstungs- kühlung bieten Urwälder, in die der Mensch sich so wenig wie nur möglich einmischt.

Laubwälder mit einheimischen Buchen und Eichen, die zudem noch ein natürliches hohes Alter erwachsen dürfen, wirken ebenfalls ausgleichend und wasserhaushalterisch und kommen mit gestiegenen Temperaturen und längeren Trockenphasen besser zurecht als etwa Nadelbaummonokulturen.

Der deutsche Wald verfügt jedoch nur in geringem Umfange über natürlich gewachsen- en Baumbestand. Der Großteil unserer Wälder besteht aus Baumplantagen mit nicht standortgemäßen Nadelbäumen (Fichten und Kiefern), die in Hinsicht auf schnellen Holzertrag angelegt werden und die inzwischen nach mehreren sehr trockenen Sommern massenhaft absterben. Tonnenschwere Erntemaschinen beschleunigen die Holzfällarbeit, aber sie zerstören nachhaltig die Bodenporen, der Boden verdichtet sich und verliert dauerhaft die Fähigkeit zur Wasserspeicherung. 

Als Ausgleich für die Nadelholzverluste durch Trockenschäden wird nun vermehrt in den letzten Restbeständen der alten Laubwälder Holz eingeschlagen. So stirbt der Wald gleich zweimal.

Dabei sind gerade die alten Laubbäume wesentlich anpassungsfähiger und im Vergleich zu den Bäumen aus monokultureller Massenbaumhaltung auch genetisch vielfältiger. Bäume können sich an Veränderungen hinsichtlich Trockenheit und Temperatur an- passen und ihre Lebenserfahrung und ihr Anpassungsverhalten an die nächste Gene-ration weitergeben. Da keimt die berechtigte Hoffnung, daß die Natur sich sehr gut selbst zu helfen weiß, wenn der Mensch sie nicht durch schädliche Eingriffe daran hindert.

Eindringlich schildert Peter Wohlleben, wie überlebenswichtig der Erhalt der noch vor-handenen alten Laubwälder und ihrer komplexen Lebenskreisläufe ist. Zudem ist die Kohlenstoffspeicherleistung des Waldbodens in Wäldern mit alten Bäumen wesentlich größer als ins Plantagen mit kurzlebigen Bäumen.

Die Suche nach Baumsorten aus trockeneren Weltgegenden, die dann wieder unheimisch hier in Plantagen gepflanzt werden, ist keine nachhaltige Lösung. Auch wenn medienwirksame Baumpflanzaktionen wie beispielsweise mit Douglasien vordergründig als klimaaktivistischer Naturschutz erscheinen.

Anschaulich listet Peter Wohlleben die tradierten Fehler der konventionellen Forstwirt-schaft auf, beklagt naturschädliche Fördergeldvergaben, die nicht verpflichtend und kontrolliert an nachhaltige Umweltstandards gebunden sind, und berichtet von wissen-schaftslobbyistischen Manipulationen, die ausgerechnet Baumfällungen und Holzver-feuerung als klimafreundlich und Co₂-neutral darstellen.

Peter Wohlleben plädiert durchaus für mehr Aufforstungen, aber nach naturverträg- lichen Kriterien. So regt er beispielsweise eine natürliche Wiederbewaldung ohne menschliche Beeinflussung an und die Verbreitung von Agroforstsystemen, in denen Bäume und Nutzpflanzen gemeinsam wachsen. Außerdem plant er gemeinsam mit Professor Pierre Ibisch die Einrichtung eines neuen Studiengangs „Ökologische Waldbewirtschaftung“.

Auch auf das Thema Fleischproduktion und den damit einhergehenden Flächenbedarf geht der Autor ein und empfiehlt eine generelle Reduktion des Fleischkonsums. Als Hilfe beim Ausstieg aus der industriellen Massentierhaltung, könnte man Landwirten, die einen Teil ihrer Flächen wieder zu Wald werden lassen, pro Hektar und Jahr einen finan- ziellen Ausgleich bieten, der ein besseres Einkommen generiert als der krankhafte Preis- wettbewerb um Billigfleisch. So könnte der Landwirt gewissermaßen auf Klimawirt umschulen.

Ein möglichst naturbelassener Wald ist die beste und erprobteste Klimaanlage. Und selbst ein einzelner Baum – gerne auch ein Obstbaum -, den Sie in Ihrem Garten wach- sen lassen, beeinflußt das lokale Klima positiv, und besonders in der Stadt würden deutlich mehr Straßengrün und Alleen einen wertvollen Beitrag zur Abkühlung, zum Wasserhaushalt und zur Artenvielfalt leisten.

Kurz gesagt: Waldschutz muß vor Holznutzung stehen! Und wir müssen wesentlich mehr Bäume ihr von der Natur vorgesehenes Alter von bis zu mehreren Jahrhunderten erreichen lassen!

„Wir müssen den Nutzungsdruck auf die Natur senken, müssen den Wald verstärkt sich selbst überlassen und sowohl Forstwirtschaft als auch Jagd zurücknehmen.“ (Seite 141)

Peter Wohlleben kritisiert sehr deutlich die aktuellen politischen Fehlsteuerungen und richtet einen ebenso deutlichen Appell an die Politik, neue wissenschaftliche Erkennt- nisse zur ökologischen Waldbewirtschaftung und der Selbstheilungskompetenz der Natur nicht mehr zu ignorieren oder gar als evidenzlos zu diffamieren. Leider fehlt an dieser Stelle eine kritische Auseinandersetzung mit dem massiven Flächenverbrauch durch Windkraftanlagen.

Der Autor versteht es, eine beachtliche Wertschätzung für die Natur zu vermitteln. Auch sein neuestes Buch bietet wieder eine ebenso einprägsame wie faszinierende Kombina-tion aus fundiertem Fachwissen, praktischer Erfahrung und lebhaftem Naturschutz- engagement sowie einfühlsamer und achtsamer Beziehung zur Natur. Das ist ökolo- gische Bewußtseinsbildung mit Herz und Verstand. So kann man Menschen aufklären, sensibilisieren und aktivieren und sie hoffnungsvoll mit dem Atem der Bäume verbinden.

Hier entlang zum BUCH und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.penguinrandomhouse.de/Buch/Der-lange-Atem-der-Baeume/Peter-Wohlleben/Ludwig/e515831.rhd

Und wer den akustischen Weg der Auditüre bevorzugt, kann sich mit der ungekürzten Hörbuchfassung, gelesen von Peter Kaempfe, beschäftigen. Hier entlang zum HÖRBUCH und zur HÖRPROBE:
https://www.penguinrandomhouse.de/Hoerbuch/Der-lange-Atem-der-Baeume/Peter-Wohlleben/der-Hoerverlag/e595235.rhd

PS:
Nur eine sprachstilistische Angelegenheit habe ich zu kritisieren: Wenig amüsiert haben mich die vorgeblich geschlechtergerechten Formulierungen etwa die zwar modische, aber sprachlich falsche Benutzung des Partizips Präsenz. Da wimmelt es im Text leider von Waldbesitzenden, Forschenden und Studierenden. Diesen Gerechtigkeits-Etiketten- schwindel nenne ich Buchstabenverschwendung ohne sozialen Mehrwert.

Der Autor:

»Peter Wohlleben, Jahrgang 1964, wollte schon als kleines Kind Naturschützer werden. Er studierte Forstwirtschaft und war über zwanzig Jahre lang Beamter der Landesforstver- waltung. Heute arbeitet er in der von ihm gegründeten Waldakademie in der Eifel und setzt sich weltweit für die Rückkehr der Urwälder ein. Er ist Gast in zahlreichen TV-Sendungen, hält Vorträge und Seminare und ist Autor von Büchern zu Themen rund um den Wald und den Naturschutz. Mit seinen Bestsellern „Das geheime Leben der Bäume“, „Das Seelenleben der Tiere“, „Das geheime Netzwerk der Natur“ und „Das geheime Band zwischen Mensch und Natur“« hat er Menschen auf der ganzen Welt begeistert. Seit 2019 erscheint das Magazin „Wohllebens Welt“. Für seine emotionale und unkonventionelle Wissensvermittlung wurde ihm 2019 die Bayerische Naturschutzmedaille verliehen. 350.000 Menschen sahen im Kino den 2020 erschienenen Film zum gleichnamigen Buch „Das geheime Leben der Bäume“.« https://www.wohllebens-waldakademie.de/

Querverweis zu fünf weiteren wissenswerten Werken von Peter Wohlleben:

Das geheime Band zwischen Mensch und Natur
Das geheime Band zwischen Mensch und Natur

Das geheime Leben der Bäume  Das geheime Leben der Bäume
Das geheime Netzwerk der Natur Das geheime Netzwerk der Natur
Die Geheimnisse der Natur  Geheimnisse der Natur
Das Seelenleben der Tiere  Das Seelenleben der Tiere

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Sturmvögel

  • von Manuela Golz
  • Roman
  • DUMONT Verlag, Mai 2021 www.dumont-buchverlag.de
  • gebunden
  • mit LESEBÄNDCHEN
  • 336 Seiten
  • 22,00 € (D)
  • ISBN 978-3-8321-8137-6

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H E R Z E N S G R Ö S S E

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Gleich zu Beginn des Romans lernen wir die Hauptfigur Emmy als charakterstarke, gütige und lebensreife Frau kennen. Auf Veranlassung ihrer besorgten ältesten Tochter absolviert sie im Anschluß an einige Voruntersuchungen einen Besuch bei einem bekannten Herzspezialisten. Dieser Dr. »Grünschnabel« begrüßt Emmy nicht, schaut nur auf seinen Bildschirm, fachsimpelt von Sinusbradykardie und Pacemaker, und erst nach Emmys energischer Aufforderung, ihr bitte in einfachen Worten zu erläutern, was ihr denn fehle, schaut er sie an und bemüht sich um eine verständliche medizinische Erklärung.

Der Arzt erläutert, daß Emmys Herz zu langsam schlage und daß ein Herzschrittmacher ihr Herz sozusagen wieder flotter machen könne. Emmys Antwort sagt so viel über ihr Wesen und ihre Lebenseinstellung aus, daß ich sie nachfolgend gerne zitiere:

»Junger Mann, woran soll ich denn sterben, wenn mein Herz nicht einfach stehen- bleiben darf? Ich bin fast siebenundachtzig Jahre alt und hatte ein gutes Leben. So wie alle Menschen mit Höhen und Tiefen, aber insgesamt doch ein wirklich gutes. Ich habe das Gefühl, am Ende eines langen Weges wohlbehalten angekommen zu sein. Was will ich denn noch?« (Seite 16)

Durch Emmys Erinnerungsrückblenden erlesen wir diesen bisherigen Lebenslauf. Sie wird 1907 auf einer Nordseeinsel geboren. Ihre Eltern lieben sie, der Vater fördert den Wissensdrang seiner ältesten Tochter und läßt sie sogar zur Schule gehen, da er der Mei-nung ist, daß Bildung die Menschen mündig mache. Die Familie kommt über die Runden, aber eine Schiefertafel mit Schwämmchen ist nicht finanzierbar. Um die Begeisterung des Kindes für Buchstaben und Zahlen nicht zu enttäuschen, lassen die einfallsreichen Eltern Emmy alternativ auf einem Stück festgeklopften Sandbodens ihre Schreib- übungen machen.

Der rege Geist und die kommunikative Direktheit des Kindes sprengen die engen Regeln des dörflichen Daseins. Der Erste Weltkrieg zwingt den Vater an die Front. Die Mutter erkrankt und stirbt mit 34 Jahren. Emmy meistert mit den Geschwisterkindern den Haushalt und die kleine karge Landwirtschaft. Doch als auch der Vater stirbt, werden die Kinder getrennt. Emmy, die schon 14 Jahre alt ist, wird als Dienstmädchen in einen vornehmen Haushalt nach Berlin vermittelt.

Emmy ist zunächst untröstlich, wird jedoch von der Köchin des Hauses freundlich und fürsorglich behandelt und in ihre Aufgaben eingewiesen. Das Großstadtleben im Berlin der Zwanziger-Jahre lacht Emmy gewissermaßen an, und sie fügt sich aufgeschlossen in ihr neues Soziotop.

Sie verliebt sich, heiratet, bekommt drei Kinder, verkraftet schmerzlich auch den Zweiten Weltkrieg, pflegt eine innige, lebenslange Freundschaft mit ihrer ersten Hebamme, und als ihre eigenen Kinder erwachsen sind, nimmt sie ein Pflegekind, zu dem sie eine tiefe Wahlverwandtschaft spürt, bei sich auf. Sie arbeitet als Küchenfrau in einer Kantine und führt in finanzieller Hinsicht ein bescheidenes Leben. Es ist jedoch eine zufriedene Bescheidenheit, denn Emmy schätzt zwischenmenschliche Verbunden- heit, alltägliche Freuden und einfache Genüsse, die gerne auch in kulinarischer Form erscheinen dürfen.

Es gibt allerdings ein altes Familiengeheimnis, das sie noch in Ordnung bringen will. Dies tut sie auf gewohnt pragmatische und sehr überraschende Weise …

Die Autorin stellt die Stimmung und den Zeitgeist der unterschiedlichen Erzählzeit- räume sehr atmosphärisch und detailreich sinnlich-abschmeckbar dar. Die Charak- terportraits der mit Emmy verbundenen Menschen sind von lebhafter Anschaulichkeit und psychogrammatischer Präzision. Es gibt eine Menge filmreifer Szenen und ebenso anrührende wie amüsante, heiter-schlagfertige Dialoge.

Emmy ist eine Persönlichkeit, die Schicksalshärten erleidet, jedoch selbst nicht ver- härtet, sondern sich ihr offenes Herz, ihre selbstbewußte Eigenwilligkeit und ihren Humor bewahrt. Tapfer bleibt sie sich selbst treu und verankert ihre Fähigkeit dazu in der unbedingten Liebe, die sie in der Kindheit von ihren Eltern erfahren hat.

»Auf einmal hatte Emmy den Pfeifengeruch ihres Vaters in der Nase. Hatte ihn vor Augen, sein Lächeln, und hörte seine Stimme sagen: Vergiss nie, dass du von uns sehnsüchtig erwartet und immer geliebt worden bist. Diese Liebe, das tiefe Gefühl, erwünscht gewesen zu sein, trug sie durch schwere Zeiten. Wenn sie nur an ihre Eltern dachte, fühlte sie sich gewärmt.« (Seite 242)

Emmy ist ein bemerkenswert authentischer Charakter, der sofort Sympathie weckt. Sie ist eine Person, mit der man gerne befreundet wäre oder vielleicht sogar verwandt. Der Roman ihres Lebens ist eine einfühlsame biographische Würdigung und zugleich ein glaubwürdiges persönliches Panorama deutscher Geschichte.

 

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.dumont-buchverlag.de/buch/golz-sturmvoegel-9783832181376/

Die Autorin:

»Manuela Golz, geboren 1965, studierte Germanistik, Erziehungswissenschaften und Psychologie. Sie lebt in Berlin und arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Psychotherapeutin. 2006 debütierte sie mit ›Ferien bei den Hottentotten‹ als Autorin. Ihr neuer Roman ›Sturmvögel‹ ist vom Leben ihrer Großmutter Emmy inspiriert.«

 

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Vielleicht

  • Eine Geschichte über die unendlich vielen Begabungen in jedem von uns
  • Geschrieben von Kobi Yamada
  • Illustriert von Gabriella Barouch
  • Originaltitel: »maybe«
  • Übersetzung von Gerda M. Pum
  • Adrian Verlag 2020 www.adrian-verlag.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 22,3 x 31 cm
  • 44 Seiten
  • 12,95 € (D), 13,40 € (A)
  • ISBN 978-3947188-85-7
  • Bilderbuch ab 4 Jahren

S E L B S T B E S T I M M U N G

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Das Bilderbuch „vielleicht“ spricht Kinder direkt an, stellt Fragen, die nach innen führen und bietet spielerisch-philosophisch Antworten an – läßt dabei gleichwohl weite Frei- räume und ermutigt ausdrücklich dazu, auf das eigene Herz zu hören, sich nicht mit der Oberfläche abzufinden und in die Tiefe zu gehen, um die eigenen Talente und Neigungen zu entdecken.

Angesichts eines Zeitgeistes übermäßiger Konformität, willkürlicher Gleichmacherei, bindungszerstörerischer Wettbewerbsmentalität und zweckbetonter Bildungsnormen ist dieses Bilderbuch ein gelungener Gegenpol, der ebenso zu Individualität und unkon- ventioneller Einzigartigkeit wie zu Empathie und Verbundenheit animiert. „Vielleicht“ setzt einfühlsam in Szene, wie es wäre, wenn man Kinder nicht in ein Korsett aus Erwartungen schnürt, sondern ihnen den Spielraum läßt, ihrer inneren Stimme und ihrer Herzenswahrheit zu lauschen und entdeckend-ausprobierend zu folgen. Gelegentliches Scheitern ist dabei ebenfalls erlaubt, denn dies gehört dazu wie Wachstumsschmerzen.  

© Vielleicht / Kobi Yamada & Gabriella Barouch, Adrian Verlag

Die Fragen, die hier gestellt werden, weisen auf das SEIN hin, auf innere Werte, auf Achtsamkeit, Begeisterung, Entdeckungslust, Freiheit, Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft, Lebensweite, Mut, Magie, Naturverbundenheit und Phantasie. So wird Kindern auf empfindsam-meditative Weise vermittelt, daß die Möglichkeiten und Perspektiven, die sie in sich finden, wahrnehmen und kultivieren, auch eine Bereicherung für die Gestaltung der Welt sein dürfen, ja, sogar sein sollen.

© Vielleicht / Kobi Yamada & Gabriella Barouch, Adrian Verlag

Es ließe sich einwenden, daß der Text verhältnismäßig abstrakt bleibt, daß viele Sätze – aus erwachsener Perspektive – an kalenderspruchartige Weisheiten erinnern. Doch der kindliche Geist ist noch viel unbelesener und dürfte deutlich aufnahmebereiter für solche Ermutigungen sein – zumal sich während der Vorlesesituation und im Dialog mit dem Kind vertiefende Konkretisierungen der persönlichen Besonderheiten und Vorlieben ergeben können.

Die ausdrucksvollen Illustrationen sind konkreter als der Text, gehen mehr ins Detail, bieten eine anregend-phantasievolle und schöne Kulisse für die innere Orientierung. Sie zeigen ein Kind (ohne Namen), das eine Mütze aus Blättern trägt, in der Stirnmitte ist ein gelber Vogelschnabel aus gefaltetem Papier angebracht. Dieser Laubvogelkopf- schmuck gibt dem Kind unmittelbar eine naturverbundene und kreative Note. Man sieht sofort, daß wir es hier mit einem eigenwilligen und sensiblen Menschenwesen zu tun haben, das die Welt mit offenem Herzen betritt und dessen Schritte in der Welt deshalb noch fließender und verträumter sind als beim eher verschlossenen erwachsenen Menschen. Naturverbundenheit zeigt sich in fast allen Szenerien und spiegelt sich auch in der ständigen Begleitfigur des kleinen Schweinchens.

© Vielleicht / Kobi Yamada & Gabriella Barouch, Adrian Verlag

Die Illustratorin benutzt eine dezente, sanftbunte Farbpalette, und sie jongliert mit Größenproportionen – so reist das Kind beispielsweise auf einer Seite in einer Nuß- schale übers Meer, und auf der nächsten Seite sitzt es bequem auf der Mondsichel und spielt mit den Sternen. Dies spiegelt anschaulich die Reichweite des Möglichen.

Dieses Bilderbuch wird vom Verlag ab dem Alter von vier Jahren empfohlen. Dem stimme ich zu, möchte aber ergänzen, daß sich diese vorbildliche Anregung zur Selbst- bestimmung und Selbstwirksamkeit auch noch gut für Jugendliche eignet, die sich dem Ende der Schulzeit nähern und sich für die nächste Lebensweichenstellung entscheiden müssen.

 

»Du bist du. So jemanden wie dich
hat es noch nie gegeben und wird
es auch nie mehr geben.
In dir steckt so viel.«

 

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
http://adrian-verlag.de/vielleicht-landing_page/

Eine weitere Besprechung aus mütterlicher Sicht gibt es bei Steffi auf LESENSLUST:
https://lesenslust.wordpress.com/2020/04/16/kinderfreuden-37-make-a-wish/

Der Autor:

»Kobi Yamada ist ein New York Times Bestsellerautor und CEO von Compendium, einem Unternehmen, wo besondere Menschen besondere Dinge kreieren. Kobi lebt glücklich mit der Liebe seines Lebens und ihren zwei superlustigen Kindern im Land des fliegenden Lachses. Dort entdeckt er jeden Tag unglaubliche Möglichkeiten. Er fragt sich oft, ob sein Leben vielleicht noch schöner ist, als er es sich je erträumt hat. «

Die Illustratorin:

»Gabriella Barouch ist eine Künstlerin, deren Arbeiten weltweit anerkannt sind. Ihr unverwechselbarer Stil kombiniert realistische Details mit magischen Elementen und Motiven auf eine ganz besondere Art. Dadurch spricht sie Menschen jeden Alters an. Gabriella lässt sich gerne von ihren gesammelten Vintage-Spielzeugen inspirieren und liebt es, an  viele verschiedene Ort zu reisen. Sie ist tief verbunden mit der Natur, vor allem mit Wäldern. „Vielleicht“ ist ihr erstes Bilderbuch.«

 

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Offene See

  • Roman
  • von Benjamin Myers
  • Originaltitel: »The Offing«
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • DUMONT Verlag, März 2020 www.dumont-buchverlag.de
  • gebunden mit Lesebändchen
  • 270 Seiten
  • 20,00 € (D)
  • ISBN 978-3-8321-8119-2

WORTE  BEWEGEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Der hochbetagte Schriftsteller Robert Appleyard schaut dankbar auf seinen bisherigen Lebensweg zurück. Er stammt aus einer einfachen Bergarbeiterfamilie, und es scheint ihm keineswegs in die Wiege gelegt zu sein, eines Tages Schriftsteller zu werden. Im Jahre 1946 nutzt der junge Robert die Wartezeit bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse seiner schulischen Abschlußprüfungen für eine Reise ans Meer. Seine Mutter packt ihm ein beschiedenes Proviantpaket und einen Waschlappen in den Rucksack, und Robert macht sich zu Fuß auf den Weg.

Lebensmittel sind in der Nachkriegszeit noch rationiert, und Robert muß sich sein Essen unterwegs als Tagelöhner erarbeiten. Seine Hilfsdienste werden durch die kriegsbeding-ten Männerverluste meist gerne angenommen und mit Kost und manchmal auch Logis vergolten. Es macht ihm jedoch nichts aus, mit seinem Schlafsack im Freien zu über-nachten, zwischen Hecken und Büschen und mit einem aus einer Plane improvisierten Zelt. Robert ist ein naturverbundener Mensch, der frische Luft und Weite schätzt, und er empfindet deutlich, daß er in der Natur seinem wahren Wesen näher ist. Die Aussicht, bald in die unvermeidlich erscheinenden Fußstapfen seines Vaters zu treten und ein anstrengendes, ewig kohlenstaubbedecktes Berufsleben unter Tage zu beginnen, gefällt ihm immer weniger.

In Yorkshire, nahe der Küste, führt ihn sein Weg zu einem Cottage, das oberhalb einer Meeresbucht gelegen ist, mit einer kleinen Terrasse, einem gepflegten Gemüse- und Blumengarten und einer stark verwilderten Wiese. Dort will Robert nach Wasser zum Auffüllen seiner geleerten Feldflasche fragen; zunächst wird er von einem wachsamen deutschen Schäferhund aufgehalten, bis eine hochgewachsene, agile ältere Dame den Hund zurückpfeift und Robert spontan zum Tee einlädt. So lernt er Dulcie Piper kennen.

Robert fragt, ob er für sie gartenpflegerische Arbeiten übernehmen könne und Dulcie erklärt, daß sie in Hinsicht auf die verwilderte Wiese durchaus Unterstützung durch junge Muskelkraft brauchen könne. So schlägt Robert sein Lager in Dulcies Garten auf. Dulcie verköstigt Robert selbstverständlich nicht nur mit Tee, sondern auch mit einem üppigen, selbstgekochten Abendessen und versetzt ihn mit ihrer außergewöhnlich gut, ja, für Nachkriegsverhältnisse geradezu luxuriös gefüllten Speisekammer in Erstaunen.

Während Robert sich in den folgenden Tagen mit dem Gelände vertraut macht und mit einer Sense die Wiese mäht, entdeckt er ein kleines, hübsches, allerdings sehr repara-turbedürftiges Atelier. Er fragt Dulcie, ob er es instandsetzen solle, weil es doch schade sei, es verfallen zu lassen. Nach kurzem Zögern stimmt Dulcie zu, und so verlängert sich sein Aufenthalt bei Dulcie um viele Wochen.

Robert und Dulcie führen bei den gemeinsamen Mahlzeiten und Teepausen lange Ge-spräche. Anfangs ist Dulcie dabei zwar deutlich eloquenter und forscher, lockert jedoch nach und nach Roberts Schüchternheit. Sie behandelt Robert freundlich-zugewandt und beeindruckt ihn mit ihrer unkonventionellen Art, ihrem Humor und ihren für ihn neuen Betrachtungsweisen von Familie, Freiheit, Freundschaft, Gesellschaft, Internationalität, Politik und Religion. Sie teilt ihr Wissen über Geschichte, Kunst und Literatur mit Robert und gibt ihm Bücher zum Lesen.

Seiner Sehnsucht nach dem Meer kann Robert beiläufig ebenfalls nachgehen. Doch er bemerkt, daß Dulcie einen Groll gegen das Meer hegt, denn immer wenn er einen Ausflug zum Strand macht und beglückt vom Schwimmen zurückkehrt, reagiert sie entgegen ihrer sonstigen Herzlichkeit etwas unwirsch.

Beim Aus- und Aufräumen des Ateliers findet Robert in einem Aktenkoffer ein maschinenschriftliches Manuskript mit Gedichten von einer Romy Landau, das Dulcie gewidmet ist. Er liest diese Gedichte, und sie berühren ihn, obwohl er sie nicht ganz versteht und ihm manche Worte unbekannt sind. Dennoch erkennt und erspürt er, wie bereichernd und lebendig – entgegen der trockenen Leseerfahrungen aus dem Schul- unterricht – Poesie sein kann. Robert liest nicht bloß Romy Landaus Gedichte, sondern er atmet sie durch die wieder und wieder wiederholte Lektüre gewissermaßen ein und aus.

„In dem Moment entfalteten sich neue Gefühle von Verwirrung und Neugier in mir, vor allem jedoch ein überwältigendes, mächtiges Bewusstsein für den Raum, diesen Raum im Hier und Jetzt, als wären die Wörter über die Seite gekrochen und vom Papier ge- fallen und hätten mich umschlungen wie Ranken, die mich zurück in das Gedicht zogen, sodass die erdachten Zeilen und die reale Welt irgendwie zu einem tieferen Porträt von Land und Meer verschmolzen.“ (Seite 148)

Robert spricht Dulcie auf das Manuskript an und fragt, ob sie es gelesen habe. Dulcie reagiert sehr aufgewühlt und beschließt, Robert bei einigen Kannen Tee von der Autorin dieser Gedichte zu erzählen.

Romy Landau war eine deutsche Exildichterin, die in den 30er-Jahren nach England emigrierte, und sie war Dulcies Freundin und Lebensgefährtin. Das Atelier hatte Dulcie für sie errichten lassen, damit sie sich dort in ungestörter Zurückgezogenheit von ihren anstrengenden Lesereisen erholen konnte. Zunächst wurde Romys Werk in England von der Literaturkritik hoch gelobt, doch mit Fortschreiten des Zweiten Weltkrieges wurde sie nicht mehr als Poetin wahrgenommen, sondern als „böse“ Deutsche, und die gleichen Kritiker, die sie zuvor gepriesen hatten, beargwöhnten sie nun. Dies und die fortgesetzt schrecklichen Geschehnisse in ihrer Heimat lösten bei Romy eine solche Sinnkrise aus, daß sie ins Meer hinausschwamm und ertrank. Zurück blieben das vollendete Manuskript und eine verlassene Dulcie, die sich bisher nicht überwinden konnte, die ihr gewidmeten Gedichte zu lesen.

Dulcie tut es sichtlich gut, von ihrem tragischen Verlust und ihrer Trauer sprechen zu können. Robert erklärt Dulcie teilnahmsvoll, wie wertvoll und ansprechend er Romys Gedichte finde, und daraufhin bittet Dulcie Robert, ihr von nun an jeden Abend ein Gedicht vorzulesen. In kleinen Portionen könne sie wohl inzwischen den Schmerz und die Schönheit dieser Poesie verkraften. Dies entpuppt sich als heilsame Entscheidung, weil sich nämlich zwischen den Zeilen eines dieser Gedichte eine wichtige, erlösende und tröstliche Botschaft für Dulcie verbirgt.

Die schicksalhafte Begegnung zwischen Robert und Dulcie führt Robert zu einer gänzlich anderen Lebensweichenstellung, für Dulcie bringt sie ein konstruktives Loslassen und für beide eine lebenslange Freundschaft.

Dieser Roman erfreut mit leise-eindringlichen, naturpoetischen Beschrei- bungen und mit feingezeichneten, herzhaften, sinnlich-greifbaren Charak- teren. Es ist eine Freude mitzuerlesen, wie Dulcie Robert nicht nur genüßlich-kulinarisch nährt, sondern auch seinen aufgeschlossenen Geist mit vielfältigen Anregungen und Ermutigungen füttert, die unvermeidlich seinen Horizont erweitern und ihn zu neuem Selbstausdruck finden lassen.

In besonderer Weise zeichnet sich dieser Roman durch die intensive Dar- stellung von Poesie als Lebenskraft aus. Er zeigt eindrucksvoll, einfühlsam und sehr atmosphärisch, welch magische Erweckungswirkung Poesie auf einen offenen Geist und ein empfindsames Herz haben kann.

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.dumont-buchverlag.de/buch/myers-offene-see-9783832181192/

Hier entlang zu einer weiteren Buchbesprechung von Hauke Harder vom Blog „LESESCHATZ“: https://leseschatz.com/2020/03/30/benjamin-myers-offene-see/

Der Autor:

»Benjamin Myers, geboren 1976, ist Journalist und Schriftsteller. Myers hat nicht nur Romane, sondern auch Sachbücher und Lyrik geschrieben. Für seine Romane hat er mehrere Preise erhalten. Er lebt mit seiner Frau in Nordengland.«

Die Hörbuchausgabe ist im April 2020 bei DAV erschienen:

Offene See                                                                                                                             
Roman
von Bejamin Myers
NDR Kultur/ungekürzte Lesung mit Manfred Zapatka
1-mp3-CD
Länge: 8 Stunden, 37 Min.
20,00 € (D), 22,50 € (A)
Hier entlang zum Hörbuch und zur Hörprobe auf der Verlagswebseite:
Offene See Hörbuchausgabe

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Als Larson das Glück wiederfand

  • Text von Martin Widmark
  • Illustrationen von Emilia Dziubak
  • Originaltitel: »Huset som vaknade«
  • Aus dem Schwedischen übersetzt von Ole Könnecke
  • Verlag arsEdition, August 2018  www.arsedition.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 288 mm x 222 mm
  • 40 Seiten
  • 15,00 € (D), 15,50 € (A)
  • ISBN 978-3-8458-2599-1
  • Bilderbuch ab 5 Jahren

L I C H T B L I C K E

Bilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Wenn die eigene Lebenszeiterwartung nur noch kurz ist und der Verlust geliebter Weg-gefährten die Einsamkeit vergrößert, kann dieser Schmerz dazu führen, daß sich ein Mensch dem Leben verschließt. So praktiziert es jedenfalls Larson aus dem vorlie- genden Bilderbuch.

Larson ist alt und verwitwet, seine Kinder sind erwachsen und ausgezogen. Alleine streift Larson durch das große leere Haus und geht ebenso schönen wie wehmütigen Erinnerungen an seine Lieben nach. Jedes Zimmer eröffnet uns einen Einblick in die biographische Vergangenheit Larsons. Während die Räume in der Gegenwart dunkel, angestaubt, muffig, ja, sogar seltsam unterirdisch-höhlenartig erscheinen, sind die Erinnerungsbilder von einem sanften Lichtschein begleitet.

Illustrationen von © Emilia Dziubak, Verlag arsEdition 2018

Gerade als sich Larson zum Schlafen hingelegt hat, klopft es an seine Haustür. Ärgerlich und unwillig steht er auf und schaut nach, wer es da wagt, ihn zu stören. Ein Nachbars-junge mit einem Blumentopf steht lächelnd vor der Tür. Er überreicht Larson den Blu-mentopf, in dem außer Erde noch nichts zu sehen ist, und bittet Larson, während seines Urlaubs den Topf regelmäßig zu wässern, damit seine Blume wachse. Larsons Wider-spruch hört der Junge garnicht mehr, da er schon flugs zum abfahrbereiten Auto seiner Eltern gelaufen ist. Vor sich hin schimpfend stellt Larson den Blumentopf auf den Küchentisch, gießt aber doch etwas Wasser auf die Erde.

Am nächsten Morgen betrachtet Larson beim Frühstück den Topf, entdeckt ein erstes Keimblatt und spürt eine gewisse Neugier, welche Blume denn dort wachsen werde. Plötzlich fällt ihm auf, daß er unbedingt lüften sollte, und er beläßt es nicht nur beim Lüften, sondern putzt auch die schmutzigen Fenster. Endlich kann wieder Sonnenlicht ins Haus dringen, und schon erscheint der Alltag deutlich heller.

Illustrationen von © Emilia Dziubak, Verlag arsEdition 2018

Am Abend fragt sich Larson noch immer, welche Blume in diesem Topf wachsen könnte. Besser gelaunt und geradezu beschwingt beginnt dann der nächste Tag, und zu Larsons Freude taucht sein zuvor entlaufener Kater wieder auf und will offensichtlich auch bleiben. Larson räumt das Haus auf, entstaubt, fegt und beobachtet mit lebhafter Anteilnahme das Wachstum der Pflanze.

Von Tag zu Tag wird die Blume größer, bildet neue Blätter und eine Knospe, und Larson freut sich darüber. Er überlegt sogar, ob er demnächst den Flur mit einer hellgelben Ta-pete neu tapezieren lassen sollte. Larsons frühere Betrübnis und Müdigkeit sind verflo-gen, und genau an dem Morgen, als sich die Blüte öffnet, kehrt der Nachbarsjunge zurück.

Fröhlich lächelt der Junge Larson an und bewundert gemeinsam mit ihm die Schönheit seiner Blume. Dann richtet er dem alten Nachbarn eine Einladung seiner Eltern aus, doch auf ein Glas Wein herüberzukommen. Larson bietet dem Jungen das Du an, und Hand in Hand gehen Larson und der Blumenjunge in strahlendem Sonnenlicht durch den Garten…

Mit diesem Bilderbuch können sich Kinder behutsam der Perspektive eines alten, einsamen und schwermütigen Menschen nähern. In Wort und Bild wird anschaulich dargestellt, wie sich Larson in seinen ausgetretenen Pfaden und Erinnerungen bewegt und der Gegenwart wenig Aufmerk- samkeit schenkt.

Durch die kindlich unbefangene Unterbrechung seiner Verschlossenheit und die unfreiwillige Pflege der Blume keimt auch in Larson langsam wieder neues Leben und vor allem neuer Lebensschwung. So entstaubt und lüftet er nicht nur sein Haus, sondern erfrischt auch sein Gemüt. Da Larson nun das Leben nicht mehr aussperrt, kann er sich neuen Begegnungen öffnen und die Einladung der Nachbarn freudig annehmen.

Der Autor erzählt diese Geschichte in einfachen, berührenden, wesent- lichen Worten, die in den Dialog-Passagen mit zartem Schmunzeln kombiniert werden.

Die Illustrationen von Emilia Dziubak sind von hoher künstlerischer Qualität; sie haben eine starke, beinahe magische Ausstrahlungskraft. Die Mischung aus Andeutung und Präzision erzeugt sehr beredte und viel- schichtige Stimmungsbilder. Dabei sind die feinen Lichteffekte und poe- tischen Details, wie beispielsweise die aus der Erinnerung hereinwehenden Mohnblütenblätter, und die wunderschöne zeichnerische Symbolsprache der Traumsequenzen nachhaltig anrührend und beeindruckend. Die schrittweise Belichtung von Larsons Herz wird illustratorisch kongenial durch die von Seite zu Seite zunehmende Erhellung und Lichtdurch- dringung sichtbar.

Dieses warmherzige Bilderbuch zeigt, wie eine kleine, kindliche Geste buchstäblich den Samen zur Verwandlung in ein altes, einsames Herz legen kann. Wenn dieser Same gewässert und belichtet wird, öffnet sich ein Weg von schattigen Gefühlen hin zu sonnigen Gefühlen sowie zu neuen zwischenmenschlichen Verbindungen.

„Als Larson das Glück wiederfand“ lege ich Ihnen von ganzem Herzen ans Herz!

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.arsedition.de/produkte/detail/produkt/als-larson-das-glueck-wiederfand-8035/

 

Der Autor:

»Martin Widmark gilt als einer der bedeutendsten schwedischen Kinderbuchautoren. Seit 2008 sind seine Bücher die beliebtesten Werke in Schwedens Büchereien und schon elf Mal in Folge erhielt Martin Widmark den Children’s Own Award. Seine Bücher sind stetig auf Bestsellerlisten zu finden, bekamen ausgezeichnete Kritiken und wurden schon in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Bevor Widmark ein „Vollzeit-Autor“ wurde, unterrichtete er als Lehrer in einer Mittelschule und Schwedischlehrer für Immigranten. Er schrieb auch einige Lehrbücher.«

Die Illustratorin:

»Nach Emilia Dziubaks Studium an der Posener Akademie der Schönen Künste in Polen erschien im Jahr 2011 mit dem Kochbuch “A Treat for a Picky Eater” ihr erstes Buch für Kinder. In Südkorea kam das Kochbuch in die engere Wahl für den 4. CJ Bilderbuch-Award. Emilia Dziubaks Illustrationen zierten eine Vielzahl von Zeitschriften, wie beispielsweise Art & Business, ebenso die im Verlag Nasza Księgarnia erschienenen Bücher „I Don’t Want to Be a Princess“ und „The Classics for Children“. Bereits zum zweiten Mal wurde Emilia Dziubak für den PTWK-Wettbewerb um das schönste Buch des Jahres nominiert, 2014 erhielt sie den Warschauer Literaturpreis für ihr Buch „Please Give Me a Hug“.«

Illustrationen von © Emilia Dziubak, Verlag arsEdition 2018

 

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Das schräge Haus

  • Roman
  • von Susanne Bohne
  • Rowohlt Verlag, Dezember  2019 http://www.rowohlt.de
  • Taschenbuch mit dickem Pappeinband
  • 352 Seiten
  • 15,00 € (D), 15,50 € (A)
  • ISBN 978-3-499-00051-5

STÖPSKEN, GLÜHWÜRMCHEN  &  HERZPUCKERN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Ella hat eine wunderbare Großmutter, deren Warmherzigkeit und unakademisches psychologisches Fingerspitzengefühl sie seit ihrer Kindheit erhellend und haltgebend begleiten. Sie nennt ihre Großmutter nicht Oma, sondern Mina, und Mina wiederum nennt Ella meist nicht Ella, sondern Stöpsken. Stöpsken oder Stöppken ist ein ruhr- deutscher Kosename für ein kleines Kind.

Das Verhältnis zwischen Ella und ihrer Mutter ist distanziert, da sich die Mutter deutlich mehr für Ellas kleinen Bruder interessiert. Ella nimmt trotz ihres zarten Alters von acht Jahren deutlich wahr, daß sie und ihre Mutter „an getrennten Flussufern“ stehen.

Wir lernen Ella und Mina im Sommer 1986 im Schrebergarten beim Auslesen von Stachelbeeren kennen. Mina hat eine besondere Fähigkeit, in Menschen hineinzusehen und das, was sie dort als Gefühlsgemengelage erkennt, beschreibt sie stets im Bild eines Hauses mit vielen architektonischen und innenarchitektonischen Details, Farben, Formen, Lichtverhältnissen und landschaftlichen Aussichtsperspektiven. So spiegelt die Großmutter etwa Ellas Wesen als ein kleines, blaues windschiefes Haus mit mimosen- blütenblättrigen Fensterläden, die sich sehr schnell von alleine schließen, mit zwei Eingängen – einer schmiedeeisernen Tür mit großem Riegel und einem versteckten, kleinen unverschlossenen Holztörchen …

Ella hofft, daß sie eines Tages auch in der Lage sein werde, die inneren Häuser der Menschen zu sehen, um besser zu verstehen, wie es in ihnen aussieht, und um etwas Hilfreiches für sie tun zu können.

Zum Schrebergartenkosmos gehören der ehemalige Bergmann Manfred, der Minas Rasen kleingartenvorschriftmäßig ziseliert und ansonsten freundlich-depressiv im Liegestuhl ruht und sich sonnt, und die betagte, gleichwohl ganz flotte Ilse, die so schnell spricht, daß alle Wörter ohne Punkt und Komma zu beeindruckenden Ein- wortsätzen verschmelzen, etwa so „DeinFöttchenhatgleichKirmesdatkannichdir- abbasagenwennichdicherwischedukleinerHosenscheißer!“ (Seite 29)

An diesem Sommertag 1986 findet das alljährliche Kleingartensommerfest statt. Mina brutzelt Frikadellen fürs Buffet, und Ella stromert mit ihrer besten Freundin Yvonne durch die Gartensiedlung. Yvonne ist im Gegensatz zu Ellas zurückhaltender Wesensart sehr direkt und extrovertiert und spricht furchtlos aus, was sie denkt und fühlt. Auf Ellas Frage, wie sie das mache, antwortet Yvonne, sie müsse bloß tief einatmen und dann die Worte ausatmen. Aber Ellas Worte bleiben oft auf halbem Wege stecken, weil sie das Echo fürchtet, das ihre Worte auslösen könnten. Außerdem neigt Ella dazu, in emotional belastenden oder aufregenden Situationen in einem „Zeitpudding“ zu erstarren, aus dem sie sich nicht leicht wieder befreien kann. 

Ella findet im Verlauf des Sommerfestabends einen plötzlich verstorbenen Schrebergar-tennachbarn. Dieses Erlebnis löst ein zwar unangebrachtes, aber hartnäckiges Schuldge-fühl in ihr aus, nimmt ihr die kindliche Unbeschwertheit und vertieft die „Schräglage“ ihrer Lebenseinstellung.

Sechsundzwanzig Jahre später hat Ella eine psychotherapeutische Praxis. Mit viel Zunei-gung beschreibt sie ihre Patienten und deren unterschiedliche Verschrobenheiten; sie freut sich, wenn sie ihnen zu einem heilsamen Erkenntnisschritt und besserer Selbstfür-sorge verhelfen kann. Sowohl in ihrer beruflichen Praxis als auch in ihrer persönlichen Suche nach dem passenden Liebespartner findet sie immer wieder lebhafte Bestätigung für Minas alte Weisheit: „Wenn die Menschen nur noch mit sich selbst beschäftigt sind, dann vertrocknen sie. Innerlich.“ (Seite 117) Genau diesen Vertrocknungsprozeß möchte sie bei ihren Patienten aufhalten, ja, möglichst sogar in Richtung reanimierender Bewässerung umkehren.

Dabei fehlt es Ella auch keineswegs an Selbstironie: „Sie hatten verlernt, das zu betrach-ten, was sie hatten, und weinten bloß darüber, was sie nicht hatten. So wie ich. Ich saß ja auch in diesem Kreuzfahrtschiff der Wehklagenden und ließ mich übers Tränenmeer schippern.“ (Seite 166)

Doch dat Stöpsken Ella lernt schließlich, trotzt aller Verletzlichkeit, innerer Schräglagen und unvermeidlicher Abschiedswehen, sich dem unberechenbaren Verlieren und Finden des Lebens hinzugeben, sich selbst mehr zu vertrauen und ihr Herz befreit zu öffnen. Oder wie die lebensweise Mina raten würde: „Geh raus, lüfte und hör auf zu warten.“  (Seite 201)

Die Autorin Susanne Bohne hat ihren Roman „Das schräge Haus“ in einem warmherzigen, vielsaitig-zwischenmenschlichen Tonfall geschrieben. Es gibt berührende Szenen inniger Nähe, aber auch ausgesprochen situations- komische Dialoge. Ihre Kleingartenmilieustudie ist köstlich und voller nostalgischer Details (Frisuren, Schlagerhits), die Figurenzeichnung ist äußerst lebendig und ebenso anrührend wie amüsant, und die vorbildliche Herzensbildung von Oma Mina wirkt geradezu beglückend. Dieser Roman enthält sehr anschauliche Sprachbilder für emotionale Gestimmtheiten, Verhaltensmuster und Charakterzüge und begleitet mit großherzigem Schmunzeln und gütigem Blick menschliche Stärken und Schwächen. Minas liebevolles Herzpuckern durchströmt unüberhörbar den ganzen Text!

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.rowohlt.de/taschenbuch/susanne-bohne-das-schraege-haus.html

 

Die Autorin:

»Susanne Bohne, selbst ein Ruhrpott-Kind, studierte Germanistik und arbeitete als Designerin, bevor sie – inspiriert von ihrer Tochter – anfing, Kinderbücher zu schreiben und zu illustrieren. Sie findet, dass Humor eine gute Überlebensstrategie ist und dass die kleinen Dinge des Lebens oft größer sind, als sie scheinen. Davon erzählt auch ihr Roman „Das schräge Haus“.«
Hier entlang zu Susanne Bohnes Webseite: https://halloliebewolke.com/
und hier entlang zu einem Radio-Bericht zu Buch und Autorin : https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-westblick-serien/audio-susanne-bohne-das-schraege-haus-100.html

Querverweis:

Die sehr intensive Großmutter-Enkel-Beziehung und die schrägen Charaktere erinnern leiseleicht an Mariana Lekys Roman „Was man von hier aus sehen kann“, siehe meine Besprechung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2017/12/22/was-man-von-hier-aus-sehen-kann/

 

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Der Gesang der Flusskrebse

  • Roman
  • von Delia Owens
  • Originaltitel: »Where The Crawdads Sing«
  • Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt
  • von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • Verlag hanserblau, Juli 2019   http://www.hanser-literaturverlage.de
  • gebunden
  • mit Schutzumschlag und Lesebändchen
  • 464 Seiten
  • 22,00 € (D), 22,70 € (A)
  • ISBN 978-3-446-26419-9

MUTTER  NATUR

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

»Marschland ist ein Ort des Lichts, wo Gras in Wasser wächst und Wasser in den Himmel fließt.« (Seite 11)

Außenseitern wird gerne und allzuschnell Schuld zugeschoben. Als die Leiche von Chase Adams am Fuße des alten Feuerwachturms von Barkley Cove gefunden wird und keiner- lei Spuren zu finden sind, fällt der Verdacht auf Kya, das Marschmädchen. Denn wenn jemand Spuren verwischen und sich fluchterprobt gewissermaßen unsichtbar machen kann, dann ist das Kya.

Kya wächst im wilden Marschland von North Carolina auf.  Sie lebt mit ihrer liebevollen und musischen Mutter, ihrem trunksüchtigen und gewalttätigen Vater und vier älteren Geschwistern in einer zusammengezimmerten Holzhütte, die an einer von vielen einsa-men Lagunen der Marschlandschaft liegt. Die Menschen, die in der nahegelegenen Stadt Barkley Cove wohnen, betrachten alle Menschen, die in der Marsch gestrandet sind, als Gesindel – wahlweise je nach Hautfarbe als weißes oder schwarzes Gesindel. Die Geschichte beginnt in den 50iger Jahren, und die Rassentrennung ist noch aktuell.

Von ihrem Bruder Jodie lernt Kya viel über die Natur, die Gestirne und darüber, wie man seine Spuren verwischt, sich sicher in der Marschlandschaft versteckt und wie man ein Boot durch die unzähligen Wasserläufe und Buchten steuert.

Als Kya sechs Jahre jung ist, bereitet die Mutter, deren Gesicht deutliche Spuren eines vorhergehenden gewalttätigen Streits trägt, noch einmal ein Frühstück für alle Kinder. Danach verläßt sie mit einem kleinen blauen Koffer das Haus, ohne sich zu verabschie- den. Kya schaut ihr ungläubig nach und hofft  auf das sonst übliche Winken; aber dies- mal schaut die Mutter nicht zurück, und sie wird auch nie mehr zurückkehren.

Nach und nach verlassen nun die älteren Geschwister ebenfalls das mutterlose Zuhau- se, um der Gewalttätigkeit des Vaters zu entkommen. So bleibt Kya allein zurück und er-nährt sich von Griesbrei und von Gemüse aus dem Garten. Der Vater ist häufig tagelang abwesend, kommt meist schlecht gelaunt zurück, schlägt Kya jedoch nicht und gibt ihr kleine Geldbeträge, mit denen sie in der Stadt ihre bescheidenen Einkäufe bezahlt.

Er trinkt deutlich weniger Alkohol und macht regelmäßige Bootsausfahrten mit ihr, bei denen sie gemeinsam angeln. Während dieser friedlichen Ausflüge plaudert der Vater ein bißchen aus der Familiengeschichte, und einmal nennt er Kya sogar freundlich Schätzchen. Dies ist mehr väterliche Zuwendung, als sie jemals zuvor erlebt hat.

Da Kya im schulpflichtigen Alter ist, wird sie aufgefordert, die Schule in Barkely Cove zu besuchen. Sie kommt barfuß in die Schule und wird von den anderen Schülern wegen ihrer Andersartigkeit, ihrer abgerissenen Kleidung und ihrer sozialen Unsicherheit aus- gelacht. Dies genügt Kya, um fortan mit der Schule garnichts und mit den Menschen aus der Stadt so wenig wie nur möglich zu tun zu haben. Den Nachforschungen der Schulin- spektion entkommt sie spielend, da ihre wachen Sinne und ihre überlegene Kenntnis der Marschlandschaft ihr stets ein sicheres Versteck bieten. Irgendwann gibt die Schul- behörde einfach auf, das wilde Kind einfangen zu lassen. So wird sie von den Bewohnern der Stadt schließlich nur noch „das Marschmädchen“ genannt.

In einer Bucht, in der Nähe der Siedlung für die schwarze Bevölkerung des Marsch- landes, gibt es eine Bootstankstelle mit einem kleinen Allerlei-Laden, der von dem freundlichen Jumpin‘ geführt wird. Dorthin fährt Kya regelmäßig mit dem Boot, tankt und kauft ein.

Als Kya zehn Jahre alt ist, kehrt der Vater eines Tages nicht mehr zurück. Kya überlegt, wie sie zu Geld kommen könnte, und beginnt damit, frühmorgens Muscheln zu sam- meln. Jumpin‘ kauft ihr die Muscheln ab und merkt nach einer Weile, daß Kya nun ganz alleine ist. Er bespricht sich mit seiner Frau Mabel, und diese organisiert über den Kirchenbasar Kleidung und Schuhe. Mabel und Jumpin‘ gelingt es, Kya zu beschenken, ohne sie zu beschämen. Mabel gibt Kya außerdem ganz pragmatisch verschiedene Gemüsesamen und erklärt ihr, wie sie diese in ihrem Garten nutzen kann.

Abgesehen von der Zuwendung von Jumpin‘ und Mabel, die als mitfühlende, aber den-noch räumlich entfernte Ansprechpartner für sie da sind, findet Kya Geborgenheit und Zuverlässigkeit in der Natur. Sie lebt in sinnlich-körperlicher, innerer und äußerer Nähe und Verbundenheit zur Natur. Kya sammelt Federn, Muscheln, Insekten und Pflanzen, sie beobachtet sehr fein und genau und etikettiert ihre Funde mit kleinen natura- listischen Zeichnungen des Fundorts, da sie nicht schreiben kann.

Im zarten Alter von vierzehn Jahren, bei einer ihrer alltäglichen Expeditionen ins Marschland, begegnet ihr Tate. Tate ist der Sohn eines örtlichen Krabbenfischers, einige wenige Jahre älter als Kya, und ebenfalls sehr interessiert an der Natur. Behutsam, ja, geradezu poetisch, nähert sich der sensible Junge dem scheuen Marschmädchen, und er gewinnt nach und nach ihr Vertrauen. Von Tate lernt Kya lesen und schreiben, er schenkt ihr Bücher, und gemeinsam erkunden sie die ersten Regungen jugendlichen Liebeserwachens. Kya blüht auf, ihr zuvor instinktiver Zugang zur Natur wird nun er- gänzt um naturwissenschaftliche Kenntnisse. Endlich hat sie selbständigen Zugang zu Wissen, erfährt Zugehörigkeit und Zärtlichkeit. Daß Kya sich inzwischen selbst zu einer Schönheit entwickelt hat, ist ihr indes nicht bewußt.  

Tate will Biologie studieren, und dafür ist ein Ortswechsel unvermeidlich. Er verspricht Kya, zu einem bestimmten verabredeten Zeitpunkt zurückzukehren. Doch wieder wartet Kya vergeblich auf die Rückkehr eines geliebten Menschen. Denn Tate geht auf dem College gänzlich in seinen wissenschaftlichen Studien und den Versuchungen des Stadtlebens auf und weiß, daß die menschenscheue Kya ihm niemals in diese Welt folgen würde.

Kya trauert, schmiegt sich dann wieder an die Natur an, füttert ihre Möwen, wiegt sich in Meereswellen und entfaltet ihr zeichnerisches Talent.

Chase Adams, der Frauenheld von Barkley Cove, bekommt Wind von Kyas Schönheit, was seinen Jagdtrieb weckt. Doch Kya ist keineswegs leicht zu erobern, und er übt sich – entgegen seiner Gewohnheit – in Geduld und verspricht Kya sogar die Ehe. Doch auch Chase Adams bricht sein Versprechen und heiratet eine andere Frau.

Kya zieht sich in ihre erprobte Einsamkeit zurück und meistert tapfer ihren Lebens- alltag. Sie verfeinert ihr Wissen durch eifrige Lektüre (der Weg in die Stadtbibliothek gelingt ihr inzwischen), vergrößert und systematisiert ihre Sammlung von Marsch- fundstücken, und sie zeichnet und aquarelliert unermüdlich. Sie sagt den Silbermöwen und dem Strand Gedichte auf und fügt sich harmonisch in die natürlichen Rhythmen.

In der Nähe von Barkely Cove wird eine wissenschaftliche Station zur Erforschung der Marsch-Ökologie eingerichtet, und Tate plant dort zu arbeiten. Er wagt einen Besuch bei Kya, der zwar zu einer lebhaften Aussprache führt, aber zunächst keine Aussicht auf eine Annäherung bietet. Allerdings erlaubt Kya, daß Tate einige ihrer Zeichnungen mitnimmt, um sie einem Verleger zu zeigen.

Einige Wochen nach dem Tode von Chase Adams wird Kya des Mordes an Chase Adams verdächtigt, angeklagt und vor das örtliche Geschworenengericht gestellt. Die Wahrheit über Chase Adams‘ Tod hat viele sichtbare und unsichtbare sowie widersprüchliche Facetten, die während der Gerichtsverhandlung ausführlich betrachtet werden. Zum Glück hat Kya einen engagierten Anwalt und unter den Geschworenen mehr Sympathisanten, als sie vermutet hätte …

Die Autorin Delia Owens wechselt erzählerisch zwischen den Phasen der Ermittlung zu Chase Adams‘ Tod und der biographischen Entwicklung Kyas. So entsteht von Kapitel zu Kapitel eine dramatisch wachsende Spannung zwischen Kleinstadtmilieustudie und Psychogramm.

„Der Gesang der Flusskrebse“ ist ein bemerkenswerter, sehr atmosphä- rischer Roman voll natürlicher Sinnlichkeit, elementarer Kraft und tiefer Gefühle. Die Einsamkeit des verlassenen Kindes ist so greifbar, daß man beim Lesen am liebsten mit der Hand zwischen die Zeilen greifen möchte, um die kleine Kya zu trösten. Wie oft kann ein verletztes Herz das tödliche Risiko eingehen, sich wieder auf Nähe einzulassen? Nun, dieser Roman mutet uns ebensosehr die schmerzlichen wie die schönen Gezeiten des Herzens ungeschminkt zu, und er verschafft uns die Bekanntschaft mit einer außergewöhnlich charakterstarken und bewundernswert eigen-willigen Figur, die die wortlose Sprache der Natur versteht wie sonst kaum ein menschliches Wesen.

 

»Sie lächelte zum ersten Mal. Seine Augen waren dieselben wie früher. Gesichter verän-derten sich durch den Tribut, den das Leben fordert, aber Augen bleiben ein Fenster zu dem, was war, und sie konnte ihn darin sehen.« (Seite 292)


Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/der-gesang-der-flusskrebse/978-3-446-26419-9/

 

Die Autorin:

»Delia Owens, geboren in Georgia, erforschte über zwanzig Jahre als Zoologin in verschiedenen afrikanischen Ländern Elefanten, Löwen und Hyänen. Vor kurzem ist sie nach North Carolina gezogen, an den Schauplatz ihres Romandebuts, wo sie als Kind mit ihren Eltern die Sommerurlaube verlebte.«  http://www.deliaowens.com

Die Übersetzer:

»Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, beide Jahrgang 1955, übersetzen seit vielen Jahren englische und amerikanische Literatur von Autoren wie Harper Lee, Dave Eggers, Jodi Picoult und Zadie Smith.«

 

Es gibt zwei Hörbuchausgaben, eine gekürzte und eine ungekürzte, beide gesprochen von Luise Helm und beide im Verlag HÖRBUCH HAMBURG erschienen.

Hier entlang zur gekürzten Hörbuchfassung:
https://www.hoerbuch-hamburg.de/hoerbuecher/owens-der-gesang-der-flusskrebse-4981/
Hier entlang zum ungekürzten Hörbuch nebst feiner HÖRPROBE:
https://www.hoerbuch-hamburg.de/hoerbuecher/owens-der-gesang-der-flusskrebse-5108/

 

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