- Roman
- von Walter Moers
- der Hörverlag, September 2023 www.hoerverlag.de
- Vollständige Lesung von Andreas Fröhlich
- 3mp3-CDs
- in Pappklapp-Schuber
- Gesamtlaufzeit: ca. 21 Stunden, 22 Minuten
- 42,00 € (D), 43,20 € (A), 54,90 sFr.
- ISBN 978-3-8445-2971-5
D O N N E R K I E L & W O L K E N B R U C H
oder: FEUERWERK DER PHANTASIE
Hörbuchbegeisterung von Ulrike Sokul ©
Vorwort zur Rezension:
Wer mit den Besonderheiten des zamonischen Kontinents und dem Werdegang von Hildegunst von Mythenmetz noch nicht vertraut ist, möge sich bitte unter den nach-folgenden Links in Hinblick auf diesen eigenwilligen, wunderbar-phantastischen literarischen Kosmos kundig lesen:
„Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär“ Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär
„Ensel & Krete“ Ensel & Krete
„Der Bücherdrache“ Der Bücherdrache
Denn die Erlebnisfülle des aktuellen Romans bzw. Hörbuchs beansprucht schon mehr als genug Raum, selbst für die von mir für diese Rezension nur streiflichternd zusammenge-faßten inhaltlichen und stilistischen Orientierungspunkte.
Rezension:
Hildegunst von Mythenmetz ist ein bekannter Dichter von der Lindwurmfeste, der Heimat der zamonischen Spezies der aufrecht gehenden Lindwürmer bzw. Bergsaurier, und er hat neben recht genüßlichen, sehr literarischen und bibliophilen auch ausge- prägte hypochondrische Neigungen. Seine Leidenschaft für alte Bücher (siehe „Die Stadt der träumenden Bücher“ https://www.penguin.de/Buch/Die-Stadt-der-Traeumenden-Buecher/Walter-Moers/Penguin/e565202.rhd) wird von einer lästigen Allergie gegen Bücherstaub beeinträchtigt, und auf Anraten seines Hausarztes reist er nach Eydernorn, um seine Beschwerden nicht zu verschleppen, sondern endlich auszukurieren.
Eydernorn ist eine Insel im zamonischen Ozean, und sie hat wegen ihrer vielen Leucht-türme den ruhmreichen Beinamen „Die Insel der Tausend Leuchttürme“. Die Insel ist bekannt für ihre besonders gute, heilsame und salzhaltige Luft, aber auch berüchtigt für rauhes, extrem windiges Wetter und eine nicht ungefährliche Fauna und Flora. Die eydernornische Bevölkerung verfügt über eine weit überdurchschnittliche Lebens- erwartung und ein vorbildliches Gesundheitssystem, mit einer Spezialisierung auf die Heilung von Atemwegs- und Lungenerkrankungen.
Hildegunst versieht sich vor der Überfahrt nach Eydernorn mit diversen Mitteln gegen die von ihm befürchtete Seekrankheit und betritt mit mulmigen Gefühlen das Fährschiff „Quoped“, das ihn zur Insel der Tausend Leuchttürme bringen wird. Bereits diese Über-fahrt wird zu einem unerwarteten Abenteuer, denn das Schiff gerät in einen Jahrhun- dertsturm; alle Passagiere und sogar die Besatzung sind ebenso der Seekrankheit ausge- liefert wie dem Wüten des Sturmes. Nur Hildegunst steht felsen- nein, seefest an der Reling und entdeckt schließlich als Erster das Lichtspektakel der Leuchttürme von Eydernorn. Dies reanimiert nun auch die Seeleute zu neuer Tatkraft, und das sturmzerzauste Fährschiff erreicht schließlich den rettenden Hafen.
Nun kann der mythenmetzsche Kururlaub endlich beginnen. Um potenzielle Berührungspunkte mit gefährlichen Bakterien und Viren zu minimieren, bezieht Hildegunst kein Zimmer im Sanatorium, sondern in einem Hotel, so daß er nur für ärztliche Untersuchungen und Therapieanwendungen das auf einem Hügel gelegene Therapiezentrum für Atemwegserkrankungen aufsuchen muß.
Mit seinem Hotelzimmer trifft es Hildegunst sehr gut. Neben behaglicher Einrichtung, üppigem spirituösem Komfort (Rumbuddel) und nützlichen Schreibutensilien (Hotel-Briefpapier, wasserfeste Seemannstinte) befindet sich auf seinem Zimmer auch ein Terrarium mit einem Hummdudel. Hummdudel sind eine amphibische Spezies, die von Myhtenmetz als „Mischung aus Riesenschnecke, Nautilusmuschel, Seestern, Oktopus und Seeanemone“ beschrieben wird. Sie geben ein rhythmisches Hummen, Summen und Brummen von sich, das je nach Tonhöhe angeblich trockenes oder nasses Wetter vorherhummdudelt.
Hummdudel können mehrmals täglich ihr Geschlecht wechseln, und sie haben eine enorme Reproduktionsrate – eine von den harmloseren Forschungs-Erfahrungen, die Hildegunst im späteren Verlauf der Geschichte noch machen wird, nachdem er ein Hummdudel, das ihm als Nachtisch serviert wird, selbstverständlich nicht verspeist, sondern adoptiert und zu seinem Hotelhummdudel ins Terrarium setzt. Diese harm- losen, musikalischen Geschöpfchen werden übrigens noch eine gewisse tragende Rolle spielen, die zu erlesen oder zu erhören ich gerne dem geneigten Publikum überlasse. Denn ich schweife gerade zu sehr ab ins Detail, was bei mir stets eine Folge oder eine sekundärliterarische Ansteckung mit der Lektüre und Auditüre von mythenmoers- metzschen Romanen ist.
Hildegunst hat sich vorgenommen, neben seinen Kuranwendungen die Insel zu erkunden und möglichst viele Leuchttürme zu besichtigen. Von seinem Arzt Doktor Tefrint De Bong, einem Molchling mit vier Armen, bekommt er außer Algen- und Dünenschlammwickeln, Gruppengurgeln mit Kampfersud, Hals-Nasen-Duschen mit Meerwasser sowie Taschentuchgymnastik noch den traditionellen Inselsport des Kraakenfiekens verordnet – das ist eine Art Strandgolf mit sehr speziellen Regeln.
Die Leuchtturmwärter auf Eydernorn haben nicht zu Unrecht den Ruf verschrobener, eigenbrötlerischer Verschlossenheit und kommunikativer Zurückhaltung. Es kostet Hildegunst durchaus Mühe und Frustrationstoleranz, bis er einige der Leuchttürme betreten darf und mit ihren Wärtern sprechen kann. Doch wenn die Kontaktaufnahme gelingt, erfährt Hildegunst bemerkenswerte Dinge über die Leuchtturmwärter, ihren persönlichen Lebensweg, ihre Erfindungsfindigkeit, die eydernorner Kulturgeschichte und ihr pragmatisches Verhältnis zu den extremen insularen Wetterbedingungen.
Ein Leuchtturmwärter hat beispielsweise zu einer liegenden Acht gefaltete, hallu- zinogene Landkarten mit hypnotischen Strukturen und Schnörkeln, optischen Illusionsillustrationen und poetischen Suggestionen erfunden, die imaginäre Trancereisen in beliebige Gegenden Zamoniens ermöglichen. Hildegunst macht mit einer solchen Karte die atemberaubende ebenso schöne wie schreckliche Erfahrung einer Reise in die Eydernormer Tiefsee und vergißt dabei fast das vereinbarte Reißleinen-Codewort, das ihn wieder aus der Trancereise zurückholt. Diese Szene ist wahrlich geeignet, den Hörer höchstselbst mit auf diese imaginative kartografische Reise zu nehmen.
Im Museum für Eydernornische Kultur erfährt Hildgunst – mehr als ihm lieb ist – von äußerst gefährlichen Meereslebewesen, die teilweise auch an Land kommen können, um Unheil zu verbreiten. Zwar sind viele dieser Meeresmonster und Giftfische inzwischen ausgestorben, aber eben nicht alle. Auch die ausführliche historische Dokumentation unglaublicher, ja lebensbedrohlicher Wetterphänomene trägt nicht zu seiner Beruhigung bei. Denn Hildegunst waren schon kurz nach seiner Ankunft auf Eydernorn die seltsamen Wolkenformation am Eydernorner Himmel aufgefallen. Die Wolken wirken bedrohlich-gestaltwandlerisch und erscheinen ihm fast wie lebendige Wesen.
Der intellektuelle Schöngeist Hildeguns ist keineswegs ein sportlicher Typ. Doch während seines Aufenthaltes auf Eydernorn ändert sich dies zu seinem eigenen Erstaunen. Der alltägliche spaziergängerische Umgang mit Wind und Wetter, der häufige Genuß des stärkenden „Orkanbrotes“ und die gute meersalzhaltige Luft verwandeln ihn in einen wesentlich zäheren und widerstandsfähigeren Lindwurm. Zu seiner nicht geringen Überraschung entpuppt er sich sogar als sensationelles Naturtalent im Kraakenfieken.
Während seiner touristischen Erkundungen beispielsweise bei der Besichtigung eines baufälligen Leuchtturmes oder eines Besuches der geheimnisvollen „Stadt ohne Türen“, die bei Flut unter Wasser steht, gerät Hildegunst immer wieder in äußerst dramatische Gefahren, aus denen er sich manchmal selbst retten kann, manchmal aber auch von anderen Wesen gerettet wird.
Nach und nach, je mehr die Leuchtturmwärter Hildegunst in ihre Geheimnisse und ihre wahre Aufgabe für Eydernorn einweihen, begreift er, daß seine Anwesenheit auf der Insel der Tausend Leuchttürme offenbar kein Zufall ist, sondern Bestimmung. Langsam dämmert ihn auch, warum grundsätzlich alle eydernorner Uhren auf fünf vor zwölf stehen geblieben sind und warum seine Messungen mit dem Nachtigallerschen Erdfieberthermometer stets steigende Temperaturen anzeigen. Habe ich eigentlich schon erwähnt, daß Eydernorn eine Vulkaninsel ist?
Walter Moers‘ unerschöpfliche Phantasie beschert uns wieder und wieder ein über- quellendes Panoptikum interessanter, eigenwilliger Figuren, Lebensformen und Landschaften, und sein dramaturgisches Organisationstalent verbindet all diese minutiösen Details zu einer spannenden, stimmig zusammenhängenden Erzählung, die zudem oft ganz köstlich humorvolle Saiten hat. Auch diverse anagrammüsante Namens- rätsel buchstabiert er uns wieder vor. Rätseln Sie mal spaßeshalber – ohne im Internet in eine Anagrammaufschlüsselungsliste zu linsen – die Namensanagramme „Yahudir Odenvather“ und „Dr. Albirich Stohbenhocker“ auf.
Zählen wir nur einmal Hildegunsts Begleitpersonal auf: Da wären die arbeitsamen moosbärtigen Küstengnome, die sich mit lebenden Tätowierungen schmücken, die vier-händigen Molchlinge, die wegen ihrer Vierhändigkeit besonders geschickte Chirurgen und Handwerker sind und die bei Verlegenheit nicht erröten, sondern ergrünen, Frosch- linge, Schweinlinge, Grünwaldzwerge, Nattifftoffen, Lurchleute, Unkeriche, Salaman- dinen und Schildkröter. Hinzuzuzählen sind die unter Naturschutz stehenden flugun- willigen, aufdringlichen und gefräßigen Vögel namens Strandlöper sowie der geheim- nisvolle Meeresdämon Quaquappa. Die eydernorner Botanik schmückt sich mit maritimen Gewächsen wie Korallenmoos, Muschelmimose und Salzkaktee, und auf den Muschelbänken wachsen Padparadschamuscheln, in denen anstelle von Perlen kostbare Saphire wachsen.
Hildegunsts Restaurantbesuch im „Fackelfisch“, dem Stammlokal der Leuchtturm- wärter, serviert eine solche Fülle an stimmungsvollen, meeresdekorativen Details und buchstäblichen kulinarischen Tiefseefischabenteuern, daß man alleine schon angesichts der originellen Speisekarte aus dem ebenso bewundernden wie belustigten Staunen für den maritimen, requisitatorischen Ideenreichtum des Autors nicht mehr herauskommt.
Dieses Stammlokal der Leuchtturmwärter ist mit einem geräuschdämpfenden, see- stern- und muschelgemusterten Teppich ausgelegt, die Wände zieren schimmernde Fischschuppentapeten und gerahmte alte Seekarten, und begleitet von dezenter Salzluftorgelmusik wird dort ein einmaliger Dünenwein serviert, der zuvor „jahrzehnte- lang in einer Meeresgrotte gelagert“ worden ist.
Wahrlich, ich bewundere die epische Präzision, dramaturgische Präsenz und das Feuerwerk der Phantasie, die hier bis ins winzigste Detail wortgewandt und stilvoll inszeniert werden!
Die abenteuerlichen Ereignisse auf der Insel der Tausend Leuchttürme werden vom Autor mit lebhaften hildegünstlichen, hypochondrischen Be- findlichkeiten und schriftstellerischer Selbstironie begleitet. Walter Moers entfaltet auch im 10. Zamonienroman unermüdlich seine geistreiche Fabulierlust, kreative Ausgelassenheit und feinsinnig-literarische Wortverspieltheit.
Maestro Moers-Mythenmetz verfügt über eine phantastische schrift- stellerische Darstellungskraft, deren evokative Sogwirkung sich mit dem imaginativen Magnetismus der halluzinogenen Kartografie durchaus messen kann. Ich empfehle bei zu großer Spannung und zu tiefem Leselauscheintauchen das Codewort „Hummdudel“, um wieder in die profane Wirklichkeit zurückzufinden.
Der Vorleser Andreas Fröhlich gibt allen Charakteren mit abwechslungs- reicher Tonlage und feinjustierter Variationsbreite stimmliche und emotionale Gestalt. Seine beachtlichen leseschauspielerischen Klang- schattierungen und Sprechmelodien meistern ebenso das joviale Plattdeutsch der eydernornischen Einheimischen wie das hochsprachliche Filigran des Hildegunst von Mythenmetz, und selbst gelegentlichem Atemwegsröcheln nebst Niesanfällen haucht er echtes Leben ein.
Hier entlang zum Hörbuch und zur Hörprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.penguin.de/Hoerbuch-MP3/Die-Insel-der-Tausend-Leuchttuerme/Walter-Moers/der-Hoerverlag/e505916.rhd
Hier entlang zur Buchausgabe:
https://www.penguin.de/Buch/Die-Insel-der-Tausend-Leuchttuerme/Walter-Moers/Penguin/e504439.rhd
Hier entlang zur Zamonienabteilung auf der Verlagswebseite:
https://www.zamonien.de/aktuelles.php
Hier entlang zu einem Interview mit Walter Moers zur Entstehung des Romans.
https://www.zamonien.de/aktuelles.php Dort findet sich auch die illustre Zeichnung eines Hummdudels.
Der Autor:
Der Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz ist der bedeutendste Großschriftsteller Zamoniens. Sein Schöpfer Walter Moers hat sich mit den Romanen rund um Mythenmetz und den phantastischen Kontinent Zamonien weit über die Grenzen des deutschen Sprachraums hinaus in die Herzen der Leser und Kritiker geschrieben. Alle seine Romane wie „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“, „Die Stadt der Träumenden Bücher“, „Der Schrecksenmeister“, „Prinzessin Insomnia und der alptraumfarbene Nachtmahr“, „Weihnachten auf der Lindwurmfeste“ und „Der Bücherdrache“ waren Bestseller.«
Der Vorleser:
»Andreas Fröhlich wurde 1965 geboren und hatte bereits mit sechs Jahren seinen ersten Hörspielauftritt. Seine wohl bekannteste Rolle ist die des Bob Andrews für die Hörspielserie »Die drei Fragezeichen«. Andreas Fröhlich lebt in Berlin und arbeitet als Schauspieler, Synchron- und Hörspielsprecher, Synchronregisseur sowie Dialogbuchautor.«
Querverweis:
Hier entlang zu meinen vorhergehenden Moers-Mythenmetz Rezensionshuldigungen:
1. ZAMONIEN-Roman: Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär
2. ZAMONIEN-Roman: Ensel & Krete Ensel & Krete
3. ZAMONIEN-Roman: RUMO RUMO
7. ZAMONIEN-Roman: Prinzessin Insomnia und der alptraumfarbene Nachtmahr
Prinzessin Insomnia und der alptraumfarbene Nachtmahr
8. ZAMONIEN-Roman: Weihnachten auf der Lindwurmfeste
Weihnachten auf der Lindwurmfeste
9. ZAMONIEN-Roman: Der Bücherdrache Der Bücherdrache