Die königlichen Kaninchen von London

  • von Santa Montefiore und Simon Sebag Montefiore
  • Originaltitel: »The Royal Rabbits of London«
  • Übersetzung aus dem Englischen von Claudia Müller
  • Band 1
  • Deutsche Erstausgabe
  • mit farbigen Illustrationen von Kate Hindley
  • WooW Books, August 2017  www.WOOW-Books.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 21,5 x 25,8 cm
  • 144 Seiten
  • 18,00 € (D), 18,50 (A)
  • ISBN 978-3-96177-001-4
  • Vorlesebuch für Kinder ab 7 Jahren (laut Verlag)

K A N I N C H E N K R I E G E R

Kinderbuchverriß von Ulrike Sokul ©

Shylo Tawny-Tail, ein ängstliches, kleines schmächtiges Kaninchen mit einer roten Augenklappe (um sein Schielen zu korrigieren) lebt auf dem Lande, in der Nähe eines Bauernhofes. Er wird alltäglich von seinen großen, kräftigen und dementsprechend leistungsfähigeren (in Hinsicht auf Nahrungsbeschaffung) Geschwistern aufgezogen, gehänselt und gemein behandelt. Nur seine Mutter liebt ihn und sorgt sich um ihren Kümmerling.

Shylo ist zwar körperlich klein, aber geistig aufgeweckt, und er besucht regelmäßig heimlich ein altes Kaninchen, namens Horatio, das allein in einer etwas abgeschie- denen Wohnhöhle im Wald lebt und von den anderen Kaninchen gemieden wird. Horatio trägt zahlreiche Spuren schwerer alter Verwundungen und besitzt einen Spazierstock, in dem eine Schwertklinge verborgen ist. In Horatios Höhle gibt es viele Bücher, und der alte Kaninchen-Veteran liest Shylo gerne aus dem Buch „Aufstieg und Fall des Großen Kaninchen-Reichs“ vor. Die Anspielung auf das koloniale „British Empire“ ist dabei mehr als offensichtlich und beabsichtigt.

Durch Horatio erfährt Shylo von den „Königlichen Kaninchen von London“, einer streng geheimen Organisation von speziellen Kaninchen, die sich schon zur Zeit von König Arthur dem Schutz der Königlichen Familie verschworen hat. Damals lebten sie in einer Höhle unter Schloß Camelot, später zogen sie mit der königlichen Familie nach London um und bauten unter dem Buckingham-Palast ein Höhlensystem, das über diverse Geheimgänge und verborgene Türchen Zugang zu allem Palastzimmern bietet.

Zu den erklärten Todfeinden der Kaninchen gehören alle Ratten und Hunde. Zufällig kann Shylo im Wald ein Gespräch zwischen drei großen Ratten belauschen, die planen, in den Buckingham-Palast einzudringen und ein Foto von der Queen im Nachthemd zu schießen und dieses gewinnbringend an die Webseite „rattenscharfe-promis.com“ zu verkaufen.

Aufgeregt eilt Shylo zu Horatio und berichtet ihm davon. Horatio klärt Shylo darüber auf, daß es sich um sogenannte Papa-Ratzi-Ratten handele, die besonders böswillig und gefährlich seien. Und dann schickt er Shylo nach London mit dem Auftrag, die König- lichen Kaninchen über diesen hinterhältigen Plan zu informieren. Ausgestattet mit einem Geheimcode, einigen Verhaltensregeln bezüglich des Umgangs mit geheimen Kaninchenagenten und schwankend zwischen Angst und Abenteuerlust macht sich Shylo auf den Weg.

Er kommt heil in London an und findet Zugang zu den Königlichen Kaninchen, die über ein umfangreiches unterirdisches Höhlensystem verfügen. Tapfer trägt Shylo dem Generalissmo-Kaninchen Nelson vor, was er erfahren hat, und zu seinem Schrecken wird er auch sogleich in den Papa-Ratzi-Abwehrplan miteinbezogen.

Die Königlichen Kaninchen sind streng militärisch-hierarchisch organisiert und mit – wer hätte das gedacht – Kaninchen aus Amerika verbündet. Deshalb ist gerade ein Gast-Captain aus Amerika zugegen, ein weibliches Kaninchen namens Laser, dessen Arme in den Farben der amerikanischen Flagge eingefärbt sind. Mann, Mann, Mann, da weiß der erwachsene, demokratisch geschulte Leser doch gleich wieder, wer die Weltordnungs-kompetenz per se verkörpert, sogar noch in einer Inkarnation als Hoppelkaninchen.

Nun, um den heldenhaften Kampf um die Ehre der Queen abzukürzen: Shylo, Captain Laser und ein weiterer martialischer Kampfsoldat machen sich gemeinsam auf den Weg. Doch es ist schließlich der kleine Shylo, der ganz alleine die miesen Papa-Ratzi direkt in den palasteigenen Hundezwinger lockt, wo die Ratten von den Hunden zerfleischt werden. Kurz bevor sie sich zum Nachtisch auf Shylo stürzen, seilen sich zwei Königliche Kaninchen herab und retten Shylo vor den Hunden.

Der kleine Shylo ist nun der große Held, er wird dazu aufgefordert, sich der Eliteeinheit der Königlichen Kaninchen anzuschließen, er bekommt sein erstes rotes Pfoten-Abzeichen, eine Ehren-Medaille und eine Extra-Portion Selleriestangen. 

Doch jetzt mal Butter bei die Karotten: Was ist das für ein gewalttätiger, militanter, patriotismustriefender Kaninchendrill? Welche zweifelhaften Werte werden Kindern hier vermittelt? Freund und Feind sind von Anfang an plakativ-schwarz-weiß-malerisch festgelegt, die Kaninchen kämpfen für die übergeordnete Ehre der Königlichen Familie, sie sind edel, hilfreich und gut – mal abgesehen von Shylos rücksichtlosen Geschwistern – und Ratten und Hunde sind böse, egoistisch, ekelig, gefräßig, gierig, häßlich und abstoßend.

Gänzlich unerträglich finde ich zudem diese demonstrative NATO-Propagan- da im Kinderbuchformat. Wer nun meint, ich sähe das zu streng, den ver- weise ich auf den zweiten Band dieser Buchreihe, in dem die Königlichen Kaninchen verhindern wollen, daß der amerikanische Präsident bei seinem Staatsbesuch in London von den Papa-Ratzi-Ratten medial lächerlich ge- macht wird. Ja, geht’s auch mit ein bißchen weniger anglo-amerikanischer Bündnis-Anschmiegsamkeit?

Nachfolgend noch ein kleines Zitat zum Beweis des aufdringlichen NATO-Überheblichkeitsfaktors dieses Kinderbuches: „Jetzt ist Amerika das mächtigste Land in der Menschen-Welt, und die amerikanischen Kaninchen sind die Mächtigsten in der Kaninchen-Welt.“ (Seite 14)

Ich kann von diesem kaninchenkriegerischen, nato-propagandistischen Kinderbuch nur lebhaft abraten!

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.w1-media.de/produkte/die-koeniglichen-kaninchen-von-london-bd-1-491

Die Autoren:

»Simon Sebag Montefiores Bücher wurden bereits in über 45 Sprachen übersetzt – viele davon sind weltweit Bestseller. Sowohl für seine Romane als auch für seine Sachbücher hat Montefiore schon zahlreiche literarische Auszeichnungen erhalten.«
»Santa Montefiore wurde 1970 geboren und wuchs in Hampshire (England) auf. Sie ist eine international erfolgreiche Autorin und mit dem Historiker Simon Sebag Montefiore verheiratet. Die beiden wohnen mit ihren zwei Kindern Lily und Sasha in London.«

Die Übersetzerin:

»Claudia Müller studierte Anglistik und Germanistik an der Universität Göttingen. Nach dem Studium war sie in verschiedenen Kinder- und Jugendbuchverlagen als Lektorin tätig. Seit 2016 arbeitet sie als Programmplanerin bei einem Verlag sowie als freie Lektorin und Übersetzerin. Sie lebt in Hamburg und reist so oft es geht nach England, wo sie auch ein Jahr lang gelebt hat. Als sie bei ihrem letzten Londonbesuch durch den Green Park spazierte, hatte sie das Glück, einige der Königlichen Kaninchen mit eigenen Augen zu sehen. Ihre Geschichte ins Deutsche zu übersetzen, war ihr ein großes Vergnügen.«

Die Illustratorin:

»Kate Hindley ist eine talentierte junge Illustratorin, die 2008 ihr Studium an der Falmouth-Kunstakademie abgeschlossen hat. Kate lebt in Worcestershire.«

 

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Blaue Blumen

  • von Carola Saavedra
  • Roman
  • Aus dem Portugiesischen
  • von Maria Hummitzsch
  • C.H. Beck Verlag, März 2015 https://www.chbeck.de/
  • 222 Seiten
  • gebunden, mit Schutzumschlag
  • 18,95 € (D)
  • ISBN 978-3-406-67567-6
    BLAUE BLUMEN_cover

B L A U E   F L E C K E N

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Schauen wir uns erst einmal die äußere Gestaltung dieses Buches an: Da liegen mit einer Hanfschnur gebündelte Briefe auf einer Tischplatte, mit abblätterndem türkis- farbenen Anstrich. Die Briefumschläge sind blaßblau und die leicht hervorlugenden handbeschriebenen Seiten verblichen-cremefarben. Die vier zitierten Sätze auf dem hinteren Buchdeckel klingen melancholisch-sehnsuchtsvoll und verheißen eine poetische Liebesgeschichte:

Liebster, eine Trennung, sagt man, ist nie abgeschlossen, kommt nie plötzlich. Man sagt, eine Trennung beginnt mit ihrem Gegenteil. Sie beginnt genau im sanftesten Moment, bei der ersten Begegnung, mit dem ersten Blick. Ich möchte glauben, eine Trennung kennt kein Ende, und der letzte Tag, die letzte Nacht wiederholen sich unaufhörlich, mit jedem Warten, jeder Wiederkehr, immer dann, wenn du mir fehlst, immer dann, wenn ich deinen Namen sage.“ (Seite 5)

Ich sage es direkt und deutlich: Eine Liebesgeschichte werden Sie in diesem Buch beim besten Willen nicht entdecken. Der Verlag preist zwar an, dies sei „Ein kluger, intensiver und leidenschaftlicher Roman über Gefühle und Sprache, über Liebe und ihre Macht, über Trennungen und Neuanfänge.“

Indes empfinde ich gänzlich anders. Um es polemisch auszudrücken: Ein kopflastiger, liebeskümmerlicher und schmerzverherrlichender Roman über Liebesunfähigkeit, Machtspiele und Manipulation, Gewalt und leblose Herzensleere.

Eine Frau, die namenlos bleibt, ist verlassen worden und schreibt dem Mann, der sie offenbar wortlos verlassen hat, Briefe, die sie lediglich mit dem Anfangsbuchstaben ihres Namens unterschreibt.

Ein anderer Mann zieht nach der Trennung von Frau und Tochter in eine neue Wohnung und erinnert sich an die Beziehungsgeschichte seiner Ehe und die wachsende Entfrem- dung zwischen sich und seiner Frau. Die Briefe der verlassenen Briefschreiberin landen in seinem Briefkasten. Den ersten Brief öffnet und liest er nur, weil er sich Auskunft über die Absenderin erhofft, da eine Absenderadresse fehlt, und er überlegt auch schon, sich nach der Adresse seines Vormieters zu erkundigen, da er diesen als den korrekten Adressaten annimmt.

Doch die Geschichte der unbekannten Frau, die offenbar auch eine Trennung zu verkraften hat, beschäftigt ihn von Brief zu Brief zunehmend, so daß er sogar seine Arbeit vernachlässigt und erwartungsvoll auf den nächsten Brief hofft.

Darüber hinaus beginnnt er mit einer amateurdetektivischen Suche nach der Absenderin. Dabei reflektiert er über sein Verhältnis zu Frau und Tochter und entpuppt sich als ein Mann von mangelnder Authentizität und Willenskraft, der sich Frauen gegenüber unterlegen fühlt. Zugleich ist er wütend und findet, daß die Frauen in seinem Leben zuviel von ihm verlangen und immer in der Nehmerrolle sind und ihm nichts geben. Er hegt die diffuse Hoffnung, daß die unbekannte Briefschreiberin hingebungsvoller sei.

Bei der Lektüre des ersten Briefes kann der Leser noch glauben, daß die Frau mit dem Verlust des Mannes etwas verloren hat, das der Trauer wert sei. Auch deutet sie ein Geschehen an, das zur Trennung führte, was selbstverständlich einige Neugier weckt.

Doch von Brief zu Brief erfahren wir in sich steigernden, sadomasochistischen Mißhand- lungsstufen von einer ausgesprochen lieblosen, grausamen Beziehung. Schon nach der ersten „Liebesnacht“ ist der Körper der Frau von blauen Flecken übersäht, die sie sich im Spiegel anschaut und die sie als Verschönerung ihres verletzlichen Körpers betrachtet sowie als Beweis und Andenken der Aufmerksamkeit des „Liebhabers“.

Der in jedem von insgesamt neun Briefen wiederholte Refrain der frei- willigen Unterwerfung, des selbstquälerischen, co-abhängigen Verletztseins, Verletztwerdens und Verletztenwollens, dieses angestrengten Schmerz mit Schmerz Betäubens und der Verwechslung von grobmotorischem Körper- kontakt mit Sinnlichkeit und innerer Nähe ist nervtötend und öde.

Der Höhepunkt der Unterwerfung kommt im vorletzten Brief zur Sprache: Die Frau, nur bekleidet mit hochhackigen Pumps, wird zum Tisch befohlen, über den sie sich zu beugen hat, damit der Herr sie von hinten … Weitere schmerzliche Einzelheiten erspare ich Ihnen hier gerne. Dieses abgedroschene Klischee wurde schon mit hinreichender Penetranz von Helmut Newton fotografiert.

Der Höhepunkt der Lesequal wird schließlich im letzten Brief erreicht: Die Bereitschaft der Frau, diesem „Liebhaber“ zu vergeben, ihr ausdrücklicher Wunsch, ihn zurückzu- bekommen, ihre unsinnige Sehnsucht, endlich von ihm wahrgenommen zu werden, ihn gefühlsmäßig zu erreichen, ihre kläglich wiederholte Leidensleier und pseudophilo- sophische Haßliebe und Schmerzverherrlichung sind eine arge Zumutung.

Der rote Faden der Brief-Geschichte ist der vergebliche Versuch ein brutales Beziehungsmuster und äußerst verletzende Verhaltensweisen SCHÖNzu- schreiben und geradezu religiös zu idealisieren. Der erzählerische Zwischenraum von Brief zu Brief wird von den blassen Befindlichkeiten des Briefempfängers gefüllt, der durch die Briefe ein winziges bißchen aus seiner Seinstaubheit geweckt wird. Doch kann das ganze Buch nur herzensverarmte Figuren buchstabieren.

Dieses mogelverpackte Romänchen ist sprachstilistisch nicht explizit pornographisch, sondern kitschig-möchtegernlyrisch. Die sexuellen Handlungen werden durch die dezente Wortwahl intellektualisiert und aus der emotionalen Distanz erzählt.

Die weichzeichnerische, zarte Empfindsamkeit des Titelbildes steht in eklatantem Widerspruch zu der schmerzverzerrten Geschichte einer Frau, die ins Leiden verliebt ist. Welche ZIELGRUPPE schwebte dem Verlag eigentlich bei dieser romantischen Titelbild- wahl vor? Empfindsame Erwartungen werden in diesem Buch keineswegs erfüllt.

Das Mindeste, was man von einer vernünftigen und nachhaltig werbewirksamen Buchgestaltung erwarten können sollte, ist ein EHRLICHES Titelbild, das dem Inhalt ENTSPRICHT. Dies ist hier auf der ganzen Linie mißlungen.

Ich rege einen nachträglich aufzubringenden WARNHINWEISAUFKLEBER an:

Achtung: Mißbräuchlicher Einsatz eines romantischen Motivs sowohl beim Titelwortlaut wie beim Titelbild. Bei der Lektüre drohen schmerzliche Enttäuschung und qualvoller Überdruß.

 

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.chbeck.de/saavedra-blaue-blumen/product/14347906

Die Autorin:

»Carola Saavedra, geboren 1973, lebt als Schriftstellerin und Übersetzerin in Rio de Janeiro. Sie hat in Deutschland Kommunikationswissenschaft studiert. 2013 erschien bei C.H.Beck ihr Roman „Landschaft mit Dromedar“. Für diesen erhielt sie den Rachel de Queiroz-Preis und war unter den Finalisten für die renommierten Literaturpreise Jabuti und São Paulo de Literatura. Mit „Toda Terça“ (2007) gewann sie den APCA-Preis in der Kategorie „Bester Roman“. Die Zeitschrift „Granta“ zählt sie zu den zwanzig besten jungen Autoren und Autorinnen Brasiliens. „Blaue Blumen“ erschien zuerst 2008. «

Die Übersetzerin:

»Maria Hummitzsch, 1982 geboren, übersetzt aus dem Englischen und Portugiesischen,
u. a. Helen Walsh, Beatriz Bracher und Shani Boianjiu, für C.H.Beck Carola Saavedras „Landschaft mit Dromedar“ und von Jessica Keener „Schwimmen in der Nacht“ (2014).«

Querverweis:

Dieser Verriß ergänzt sich schamlos mit meinen Verriß der »Feuchtgebiete« von Charlotte Roche https://leselebenszeichen.wordpress.com/2012/12/30/feuchtgebiete/
sowie mit meiner therapeutischen Abrechnung mit  »Alle meine Wünsche« von Grégoire Delacourt https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/03/21/alle-meine-wunsche/
und mit der liebesleeren Eiszeitlektüre »Dieses klare Licht in den Bergen«
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/02/26/dieses-klare-licht-in-den-bergen/

 

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Alle meine Wünsche

  • von Grégoire Delacourt
  • Übersetzung aus dem Französischen
  • von Claudia Steinitz
  • Hoffmann und Campe, September 2012  http://www.hoffmann-und-campe.de
  • gebunden, mit Schutzumschlag
  • 126 Seiten
  • 978-3-455-40384-8
  •  15,99 € (D), 16,50 € (A), 21,50 sFr.
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H E R Z V E R S A G E N

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Meine ehrlich empfundene und wärmste Empfehlung zu diesem Buch: Bloß nicht lesen, sondern als Untersetzer benutzen!

Eine unerträglich liebeskümmerliche Geschichte! Das dem Text vorangestellte, Qualen beschwörende  ∗Zitat∗ hätte mir Warnung genug sein sollen, die Finger von diesem Buch zu lassen, aber ich habe mich vom wunderschönen Titelbild  und den enthusiastischen Lobesausrufezeichen auf dem hinteren Buchdeckel veranlaßt gefühlt, trotz meiner Vorahnung weiterzulesen.

*
»Alle Qualen sind erlaubt,
Alle Qualen sollen sein,
Man muss nur gehen,
Man muss nur lieben «

Le Futur intérieur,
Franςoise Leroy

*

Sprachlicher Feinsinn ist dem Büchlein zwar nicht abzusprechen, aber inhaltlich ist es doch ziemlich dürftig und ausgesprochen pseudotiefsinnig. So dürfte sich etwa schon ausreichend herumgesprochen haben, daß Geld nicht glücklich macht, sondern erst einmal nur reich.

Jocelyne ist 47 Jahre alt und Inhaberin eines nur mäßig florierenden Kurzwarenladens, aber sie mag ihre Arbeit und schreibt seit kurzem ein Blog über ihre alltäglichen Hand- arbeiten, über Stoffe, Spitzenbänder, Knöpfe  –  kurz, über die kleinen Freuden des Selbermachens und die Schönheit kleiner Dinge. Ihr Ehemann arbeitet als Facharbeiter bei Häagen-Dazs, die erwachsenen Kinder, ein Sohn und eine Tochter, führen ihr eigenes Leben in fernen Städten, und ihr Kontakt zu den Eltern ist minimal. Ein drittes Kind ist eine Totgeburt gewesen.

Schon auf den ersten Seiten können wir Joycelynes fadenscheiniges Selbstwertgefühl besichtigen, sie listet ihre angeblichen Schönheitsmängel auf. Bereits auf Seite 20 erzählt sie davon, wie sie nach dem ersten, nicht sehr romantischen Kuß ihres zukünftigen Ehemannes ihre Liebesträume aus ihrem Herzen entlassen hat. Bereits zu diesem Zeitpunkt verrät sie ihr eigenes Herz und belügt sich selbst.

Ihr Mann ist zuverlässig und treu, aber kaum in der Lage, Gefühle zu formulieren, obwohl er durchaus welche hat. Sein destruktiver Umgang mit dem Schmerz über das totgeborene dritte Kind, seine grobe Schuldzuweisung an Joycelyne, sie sei zu dick und hätte das Ungeborene mit ihrem Fett erstickt, illustrieren einen erschreckenden Mangel an Empathie und menschlicher Reife. Doch Joycelynes Opferbereitschaft ist trotz der auch sexuellen Grobheiten ihres Mannes nicht zu erschüttern. Man rauft sich wieder zusammen, es gibt kleine gemeinsame Freuden, aber eine gemeinsame Sprache finden die beiden nicht.

Jocelyne ist mit den Zwillingen vom benachbarten Frisörsalon befreundet; diese spielen seit Jahrzehnten Lotto und überreden Jocelyne, ihr Glück doch auch einmal zu wagen. Sie erwirbt ein Eurolottolos und gewinnt 18 Millionen Euro. Es gelingt ihr zwar, den Gewinn zu verheimlichen sie ist jedoch mit dem Geldsegen völlig überfordert und versucht, sich über ihre Wünsche klarzuwerden und die Konsequenzen des plötzlichen Reichtums zu überdenken.

Sie befürchtet, nicht mehr um ihrer selbst willen geliebt zu werden, und sie befürchtet, ihren Ehemann an das Geld und die damit verbundenen Möglichkeiten zu verlieren. Jocelyne kennt die Träume ihres Mannes: Flachbildschirm, Porsche Cayenne und was das Klischee sonst noch so hergibt.

Nicht daß die Wunschlisten, die sie probehalber selber verfasst, sonderlich origineller wären, sie sind nur bescheidener und beziehungsbezogener. Joycelyne versteckt den Gewinnscheck unter der Einlegesohle eines alten Schuhs und zieht ernsthaft in Erwägung, ihn nicht einzulösen, ja ihn sogar zu verbrennen. Sie bleibt im wahrsten Sinne des Wortes in ihren alten Schuhen stecken: die Angst der kleinen Leute vor dem großen Geld. Eigentlich ist sie doch ganz zufrieden mit ihrem Leben, ihr Blog kommt sehr gut an, ein Zeitungsartikel über ihr Blog bringt ihr viele neue Kundinnen, und von dem Geld, das sie mit der Werbeschaltung verdient, kann sie sich sogar eine Angestellte leisten.

Joycelyne kommt zu der Erkenntnis, daß vertrauensvolle zwischenmenschliche Beziehungen mehr wert sind als Geld. Auch der Ehemann zeigt sich neuerdings von ungewohnt zärtlicher und aufmerksamer Seite. Doch Jocelynes durchaus berechtigte Zweifel an der Liebesbeständigkeit ihres Mannes, ihre Anspruchslosigkeit, die Verheim- lichung des Gewinnes und die fehlende kommunikative Vertrauensbasis führen schließlich zwangsläufig zum Verrat.

Zufällig findet ihr Mann den Gewinnscheck, und eine Weile hofft er darauf, von ihr eingeweiht zu werden. Als dies nicht geschieht, ist er davon überzeugt, daß seine Frau den Scheck eher vernichten als einlösen werde, und das will er nicht zulassen. Er nimmt den Gewinnscheck und verschwindet nach Belgien, verpulvert 3 Millionen Euro, vergeht vor luxuriöser Einsamkeit und ermißt nach und nach, wie kostbar die Liebe seiner Ehefrau für ihn war.

Jocelyne leidet, magert ab und erreicht wieder Kleidergröße 38. Sie findet einen attraktiven Liebhaber, sie belebt den Kontakt zu ihrer Tochter, aber es gelingt ihr nicht, ihre lebenslange Opferhaltung zu überwinden und zu neuer Herzensgröße zu wachsen. Jocelyne bleibt gefangen in den gewohnten Leidensschleifen, sie ist unfähig, ihre Mit- wirkung an ihrer Lebenserfahrung wahrzunehmen. Sie hat sich von Anfang an selbst verraten, da ist der Verrat des Ehemannes nur folgerichtig und die Konsequenz ihrer selbstverleugnenden Duldsamkeit. Auch noch eine Belohnung für Bescheidenheit und Selbstverleugnung zu erwarten ist einfach dumm.

Nach 18 Monaten kommt ein Brief von Jocelynes Ehemann: ein Liebesbrief, eine Bitte um Vergebung und ein Scheck mit den verbliebenen immerhin noch 15 Millionen Euro. Aber es ist zu spät, Jocelynes Herz ist jetzt tiefgefroren.

So endet die Opferheldin Jocelyne mit ihrem kultivierten Liebhaber in einer Villa mit Meerblick, verteilt ein bißchen Geld und hört abends ihre Lieblingsarie aus Mozarts „Hochzeit des Figaro“ : „Dove sono i bei momenti di dolcezza e di piacer…“  Welch eine Leidensveredelung!

Jocelyne hat ihr Herz verschlossen und das Lächeln verlernt; ihre letzten beiden Sätze lauten:  „Ich werde geliebt. Aber ich liebe nicht mehr.“

Da haben wir also wieder eine Millionärin mit verarmtem Herzen. Kann man denn nur einmal im Leben lieben? Was soll die überflüssige Herzensenge? Sich quälen zu lassen und sich selbst zu quälen ist nicht tiefsinnig, sondern anstrengend! Und die Größe der Liebe an der Größe der Leidensbereitschaft zu messen ist ein Zeichen für akute Co-Abhängigkeit. Wieso gibt es keinen Therapeuten in diesem Buch?

Was mich stört, ja ärgert, ist die Bewußtlosigkeit der Personen in dieser Geschichte: die unzureichende Selbstreflexion, die mangelhafte Selbstliebe und der fehlende Weitblick über die eigene Person hinaus auf ein größeres Ganzes. Als gäbe es keine Welt zu retten, kreisen die Figuren nur um sich selbst: weder die maßlose Bescheidenheit der Frau noch die klischeehafte Luxusauslebung des Mannes sind interessant.

Mir hätte es gefallen, von jemandem zu lesen, der den nicht unbeträchtlichen gesell- schaftlichen Einflußfaktor Geld auch für gemeinwohlige Zwecke einsetzt, sich für etwas engagiert, z. B. Baugrundstücke aufkauft, um darauf Wälder zu pflanzen, jemand, der 100 Patenschaften für öffentliche Bücherschränke übernimmt oder jemand, der jedes Jahr täglich 1000 Euro spendet oder jemand, der Landwirten, die auf Bioanbau umstellen möchten, mit einer kräftigen Geldschenkung katalysatorisch unter die Arme greift oder jemand, der eine Stiftung für Permakultur gründet oder sonst etwas Kreatives, ökologisch, kulturell oder sozial Sinnvolles mit dem Geldsegen anfängt.

 

PS:
Auf Seite 84 steht übrigens geschrieben:  „Wir hatten Hochs und Tiefs wie alle Paare,…“  Falls dies kein Flüchtigkeitsfehler beim Übersetzen war, frage ich mich schon, was diese meteorologische Paarpsychologie mir sagen soll.

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.hoffmann-und-campe.de/buch-info/alle-meine-wuensche-buch-2446/

 

Der Autor:

»Grégoire Delacourt wurde 1960 im nordfranzösischen Valenciennes geboren. Sein Roman „Alle meine Wünsche“ ist in Deutschland und Frankreich ein gefeierter Bestseller und erschien in sechzehn Ländern. Im Frühjahr 2014 erschien im Verlag Hofmann und Campe sein neuer Roman  „ Im ersten Augenblick“.«

 

Querverweis:

Dieser Verriß ergänzt sich mit meinen Verriß von »Blaue Blumen«
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/09/18/blaue-blumen/
sowie mit meinem polemischen Verrriß der »Feuchtgebiete« von Charlotte Roche https://leselebenszeichen.wordpress.com/2012/12/30/feuchtgebiete/
und mit der liebesleeren Eiszeitlektüre »Dieses klare Licht in den Bergen«
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/02/26/dieses-klare-licht-in-den-bergen/

 

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Dieses klare Licht in den Bergen

  • von Jean-Philippe Mégnin
  • Roman
  • Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
  • Insel Verlag   Februar 2013   http://www.suhrkamp.de
  • Taschenbuch
  • 124 Seiten
  • ISBN 978-3-458-35910-4
  • 7,99 €, 8.30 € (A), 11,90 sFr.
    35910.jpg Dieses klare Licht in den Bergen

L I E B E S M I N U S

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Wenn Sie gerne erfrieren möchten, kann ich Ihnen „Dieses klare Licht in den Bergen“  empfehlen, aber wenn Sie auch nur ein Fünkchen Liebe erwarten, sollten Sie die Finger von diesem Buch lassen, um sich keinen Gefrierbrand daran zu holen.

Das schmale Büchlein ist in drei Teile aufgegliedert:

Im ersten Teil übernimmt Marion, die Icherzählerin der Geschichte, in Chamonix eine Buchhandlung. Sie kennt den Ort in den Bergen aus den Ferien ihrer Kindheit und wird nach und nach dort heimisch. Ein häufig wiederkehrender Kunde ist der Bergführer Pierre, den sie von Anfang an attraktiv findet, dem sie aber von Anfang an in einer unerklärlichen Selbstverteidigungshaltung begegnet. Pierres Vater war auch Bergführer und kam bei der Suche nach Lawinenopfern selbst ums Leben, als Pierre acht Jahre alt war. Pierre wurde schließlich von seinen Großeltern aufgezogen, nachdem seine Mutter den Tod des Gatten nicht verschmerzen konnte und sich in eine Depression ergab.

Pierre und Marion unternehmen viele gemeinsame Bergwanderungen und kommen sich langsam näher. Es gibt jedoch keine Steigerung des Herzklopfens von Begegnung zu Begegnung, kein wachsendes Erkennen liebenswerter Eigenschaften, stattdessen bekommt Marion einen Wutanfall, als Pierre sich bei einer Verabredung verspätet. Sie will ihn an einer Seilbahnstation abholen und in den drei Stunden, die er sich verspätet malt sie sich schreckliche Bergunfälle aus, und dann macht sie das, was sie auch den Rest der Geschichte machen wird: Sie folgt nicht ihren Gefühlen.

„Ich erlebte einen merkwürdigen Moment: blinde Wut und heißes Glück zugleich. Ihn ohrfeigen, ihm um den Hals fallen, ihn ohrfeigen… Ich tat weder das eine noch das andere. Ich blieb auf Abstand,…“

Im zweiten Teil der Geschichte heiraten Marion und Pierre, und Marion erzählt einen Absatz lang vom Nestwärmegefühl, nicht mehr allein zu sein und nicht mehr allein zu schlafen und zu frühstücken. Der Alltag bricht aus, der Kinderwunsch geht nicht in Erfüllung.

Die ohnehin bedenklich schmale Öffnung für Nähe und Verbundenheit wird von Schmerz zu Schmerz wieder verschlossen. Es wird immer deutlicher, daß Marion und Pierre  „nicht die  gleiche Wahrnehmung“  haben. Einmal ist sie kindisch enttäuscht, daß er sich nicht an den Titel des ersten Buches erinnert, das er bei ihr in der Buchhandlung gekauft hatte. Dann ist sie eifersüchtig, ihn mit seinem Beruf teilen zu müssen. Marion wimmelt alle Menschen ab, die ihr helfen wollen, und sie kann oder will ihre wahren Gefühle nicht zeigen und nicht mitteilen.

Die Entfremdung und Sprachlosigkeit des Ehepaares wächst. Diese angeblich Liebenden verlaufen sich dermaßen in ihre jeweilige Unnahbarkeit und Sprachlosigkeit, sind so unfähig, sich den verletzlichen und schmerzlichen Aspekten des Lebens und Liebens zu stellen, daß man sich fragt, wie sie überhaupt so alt werden konnten, ohne an Herzversagen zu sterben. Marion leidet – wenn auch unausgesprochen – an einer Depression.

Im dritten Teil der Geschichte wird die verschollene Leiche von Pierres Vater beim Grand Plateau im Eis gefunden und sofort identifiziert, weil er zufällig genau im gleichen Alter wie der jetzt lebende Pierre (38 Jahre) verunglückt ist und ihm natürlich sehr ähnlich sieht. Als Marion sich das Gesicht ihres Schwiegervaters unter dem Eis anschaut, erkennt sie noch deutlicher ihren Liebesmangel.

„Es gab nur noch die Leere und dieses Gesicht, dieses leuchtende Gesicht unter einem Zentimeter von sehr reinem Eis… Es war das Gesicht, an das ich geglaubt hatte. Das Gesicht, das sich später allmählich verschloss, verhärtete, nach und nach schwand, wie Hoffnungen schwinden.“

Sie wendet sich noch mehr von Pierre ab, und offenbar schafft es keiner der beiden über das Selbstmitleid hinaus zu wachsen und Mitgefühl zu entwickeln.

Im Epilog entnehmen wir einem Gespräch zwischen Staatsanwalt und Wachtmeister, daß Marion zum Grand Plateau hinaufgewandert ist, um sich dort zum Erfrieren in den Schnee zu legen, was – schonungslos formuliert – eine konsequente Fortsetzung der Gefühlsstarre Marions ist.

Es ist auf dem Buchmarkt kein Einzelfall, daß auf einem Buch die Bezeichnung LIEBESGESCHICHTE prangt und man dann vergeblich auf die angekündigte Liebe wartet.

Auch „Dieses klare Licht in den Bergen“  ist eine solche Mogelpackung: Der inhaltliche und formale äußerst sparsame Umgang mit Gefühlen und Worten führt – jedenfalls nach meinem Empfinden – zu einer leblosen und befremdlich herzlosen Geschichte wechsel-seitiger Liebesunfähigkeit. Die Figuren bleiben oberflächlich, die Gefühle wirken unterkühlt, es kommt keine Herzenswärme auf, und es gibt in dieser Geschichte kein erkennbares Liebesbemühen um Klärung und Wahrhaftigkeit oder gar Heilung.

Auf die Lektüre dieser liebesleeren Eiszeit hätte ich gerne verzichtet!

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.suhrkamp.de/buecher/dieses_klare_licht_in_den_bergen-jean-philippe_megnin_35910.html

 

Der Autor:

»Jean-Philippe Mégnin lehrt Wissenschaftsgeschichte an der Université de Franche-Comté. Für seinen Debütroman Dieses klare Licht in den Bergen wurde er mit dem 2010 erstmals verliehenen Prix littéraire de l’Amicale de la presse du Jura und 2011 mit dem Montblanc-Literaturpreis ausgezeichnet. Mégnin lebt bei Besançon.«

 

Querverweis:

Dieser Verriß ergänzt sich mit meinen Verriß von »Blaue Blumen«
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/09/18/blaue-blumen/
und mit meinem polemischen Verrriß der »Feuchtgebiete« von Charlotte Roche
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2012/12/30/feuchtgebiete/
sowie mit meiner therapeutischen Abrechnung mit »Alle meine Wünsche« von Grégoire Delacourt https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/03/21/alle-meine-wunsche/

 

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Feuchtgebiete

HIMMEL, ARSCH UND ZWIRN!

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Zu  „Feuchtgebiete“  möchte ich gerne ein Zitat von Arno Schmidt wiedergeben:
„Der Mensch ist eine Mischung aus Scheiße und Mondschein.“
Auf Mondlicht warten wir bei diesem Buch indes vergeblich!

Helen, ein18-jähriges Scheidungskind, das die innere Liebesleere mit Sex zustopft, liegt im Krankenhaus. Sie hat sich bei der Intimrasur geschnitten und eine Analfissur erlitten. Da liegt sie nun allein mit ihren Schmerzen, langweilt sich und läßt ihre Gedanken um ihre angeblich geilen, sexuellen Gewohnheiten kreisen. Das macht sie sehr anschaulich und unverblümt. Sie offenbart eine anal- und genitalfixierte, rohe, zärtlichkeitsferne und im Grunde beziehungslose Sexsucht.

Neben ihrem fast wahllosen Einsamkeitsverdrängungssex kultiviert sie eine trotzige Antiintimhygiene. Ekeleffekthascherisch kommen alle erreichbaren Körpersekrete, in frischer und abgelagerter Konsistenz, auf die Speisekarte. Dazwischen tropft sie noch ein paar Scheidungstraumatränen, damit sich in den Lesewiderwillen doch noch ein wenig Mitleid mischt. Dabei erspare ich Ihnen hier die Avocadokernnummer.

Diese ganze penetrante Sexbesessenheit ist so lustvoll wie Stacheldraht, so sinnlich wie Urinstein und so erotisch wie Schmirgelpapier.

Daß die breite Masse auf ein Tabubrechmittel hereinfällt, ist nicht erstaunlich, aber die positiven Kommentare von bekannten Intellektuellen auf der Buchrückseite haben mich doch sehr befremdet. Wahrscheinlich ist das, insbesondere im Falle von Roger Willemsens Lobgehudel, kuschelkollegiale Strategie: Ich lobe dein Buch, dann lobst du mein Buch und dann lobst du meine Sendung und ich deine usw.

Außerdem glaube ich, daß dieses Buch mit ganz kühlem, marktorientiertem Kalkül verfaßt wurde und nicht aus irgendeinem Bekenntnisbedürfnis. Nun denn, so gibt es ein weiteres Buch, das ein drastisches Beispiel für die Entsinnlichung unserer Gesellschaft bietet und die Autorin finanziell überaus bereichert. An betriebswirtschaftlicher Inspiration fehlt es Frau Roche jedenfalls nicht.

Meine Empfehlung: als Klopapier benutzen, dann finden Form und Inhalt zu unübertrefflicher Kongruenz – obwohl, wenn ich es recht bedenke: solche Blätter haben ziemlich scharfe Schnittkanten, und man könnte sich verletzen und sogar eine Analfissur provozieren… Ach ne, und dann geht die ganze Geschichte wieder von vorne los (oder doch von hinten?).

Dann doch lieber zum Altpapier geben und dem unschuldigen Werkstoff die Chance auf eine Wiedergeburt in einem besseren Buch ermöglichen.

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/feuchtgebiete-9783548280400.html

Die Autorin:

»Charlotte Roche wurde 1978 in High Wycombe/England geboren und wuchs in Deutschland auf. Für ihre Arbeit als Fernsehmoderatorin u.a. für Viva, arte und das ZDF wurde sie mit dem Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Charlotte Roche lebt in Köln, sie ist verheiratet und hat ein Kind. Sie veröffentlichte die Romane ›Feuchtgebiete‹ (die Originalausgabe erschien bei DuMont im Frühjahr 2008) und ›Schoßgebete‹ (2011).«

Querverweis:

Dieser Verriß ergänzt sich mit meinen Verriß von »Blaue Blumen«
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/09/18/blaue-blumen/
sowie mit meiner therapeutischen Abrechnung mit  »Alle meine Wünsche« von Grégoire Delacourt https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/03/21/alle-meine-wunsche/
und mit der liebesleeren Eiszeitlektüre »Dieses klare Licht in den Bergen«
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/02/26/dieses-klare-licht-in-den-bergen/

 

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