- Roman
- von Matt Haig
- Originaltitel: »How To Stop Time«
- Deutsch von Sophie Zeitz
- DTV Verlag, April 2018 www.dtv.de
- gebunden mit LESEBÄNDCHEN
- 384 Seiten
- 20,00 € (D), 20,60 € (A), 26,90 sFr.
- ISBN 978-3-423-28167-6

Z E I T L U P E
Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©
Matt Haig hat eine Talent für faszinierende Außenseiterfiguren. Es sind keine unkonven-tionellen Individualisten oder snobistischen Einzelgänger, sondern Menschen, die auf eine Weise anders sind, daß sie vorsorglich ihr wahres Wesen verbergen; nicht, weil sie etwa eine Gefahr für die Menschheit wären, sondern weil die „normalen“ Menschen zur Gefahr für sie werden könnten, träte ihr wahres Sosein ins Licht der Öffentlichkeit.
In seinem Roman „Ich und die Menschen“ war es ein Außerirdischer, der die Erde besucht, unerkannt seiner interplanetaren Mission folgt und sich von seiner ursprüng-lichen Absicht durch die unerwartete Erfahrung von Liebe und Poesie ablenken läßt (siehe meine Besprechung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/04/01/ich-und-die-menschen/).
Diesmal ist der Romanheld ein sterblicher Mensch, der allerdings mit einer besonderen Veranlagung zur Welt kommt: Tom Hazard altert wesentlich langsamer – ungefähr im Verhältnis 1:15 im Vergleich zur Normalterungszeit. Diese Eigenschaft zeigt sich erst ab der Pubertät, und dann fällt unvermeidlich auf, daß dieser Mensch körperlich außer- gewöhnlich lange unverändert jung bleibt.
Als neuer Geschichtslehrer an der Oakfield Schule in London vermittelt Tom Hazard seinen Schülern den Lehrstoff so lebhaft, als wäre er dabei gewesen, und wenn man wie er ein Alter von 439 Jahren erreicht hat, kann man bei so manchen historischen Bedingungen, Charakteren, Ereignissen und Stadtkulissen – ob ganz alltäglich oder spektakulär – aus persönlicher Lebenserfahrung mitreden.
Selbstverständlich weiß niemand außer ihm und der geheimen Albatros-Gesellschaft, daß Tom schon so alt ist, denn er sieht aus wie Anfang vierzig. Zwar hat Tom im Laufe seines Lebens bisher nur sehr, sehr selten Menschen getroffen, die so sind wie er, gleichwohl gibt es weltweit einige hundert mit dieser Veranlagung. Hendrich, der siebenhundertjährige Leiter dieser Geheimgesellschaft, organisiert und finanziert (er hatte dereinst sehr erfolgreich mit Tulpen spekuliert) den langsam alternden Artge- nossen alle acht Jahre eine neue Identität, damit ihre Besonderheit kein Aufsehen erregt.
Tom Hazard wurde 1581 geboren, und man kann sich leicht vorstellen, welch große Gefahr eine solche Eigenschaft zu jener Zeit bedeutet hat. Die abergläubische Vermu- tung von Hexerei und Teufelsbund kostete seiner Mutter grausam das Leben, und Tom floh entsetzt aus dem engstirnigen Dorf. Er nahm nur seine Laute mit, und nach Tagen des Hungerns, der Schuldgefühle und Verzweiflung traf er auf einem Marktplatz die junge Obstverkäuferin Rose. Sie gewährte ihm Obdach in ihrem kleinen Haus, das sie zusammen mit ihrer Schwester bewohnte.
Vorsichtig schöpfte der frisch in Rose verliebte Tom Hoffnung auf ein normales Leben. Mit seinem Lautenspiel verdiente er in London ein wenig Geld. Kurz darauf lernte er Shakespeare kennen und spielte im Musikensemble des Globe-Theaters mit, was ihm ein sehr auskömmliches Einkommen bescherte.
Tom und Rose heirateten und bekamen eine Tochter. Doch die Tuscheleien der Nachbarn über den ewig-jungen Tom und auch das Wiederauftauchen des einstigen Hexenjägers, der den Tod von Toms Mutter verantwortet hatte, führten dazu, daß Tom die traurige Entscheidung traf, seine Familie zu verlassen, um ihr Leben zu schützen.
Er sah Rose erst an ihrem Sterbebett wieder, und sie erzählte ihm, daß seine Tochter Marion seine seltsame Alterslosigkeit geerbt habe und daß sie eines Tages einfach verschwunden sei. Rose nahm ihm das Versprechen ab, Marion wiederzufinden.
Im Laufe der Jahrhunderte lernte Tom viele Sprachen, zahlreiche Musikinstrumente, und er übte viele Berufe aus, er war Dolmetscher, Matrose, Schmied, Pianist … in gewissen Abständen änderte er seinen Wohnort, seinen Namen, Städte, Länder, Kontinente. Er fuhr mit Captain Cook zur See, traf F. Scott und Zelda Fitzgerald in einer Bar in Paris … Oft hielt ihn nur die Hoffnung am Leben, irgendwann seine geliebte Tochter aufzuspüren, und der Trost schöner Musik.
Erst im 19. Jahrhundert kam er in Kontakt mit der geheimen Albatros-Gesellschaft, denn er hatte den Fehler begangen, sich einem Arzt anzuvertrauen. Dieser hatte einen Bericht über Toms außergewöhnliche Veranlagung – die „Anagerie“ – geschrieben, und die Albatros-Gesellschaft machte den Arzt umgehend und wortwörtlich mundtot und nahm Tom in ihren Schutzkreis auf.
Der Preis dieser Schutzgewährung ist der Verzicht auf Liebe und nähere zwischen-menschliche Bindungen sowie gewisse Gefälligkeiten gegenüber der Albatros-Gesellschaft – sei es die Entdeckung und Rekrutierung weiterer „Albas“ oder die Eliminierung von unerwünschten Mitwissern. Hendrich spricht von normalen Menschen stets geringschätzig als „Eintagsfliegen“, und er sieht keinen Unterschied zwischen der Bedrohung durch mittelalterlichen Aberglauben und moderne, medizinische Forschungslabore.
Gönnerhaft bietet Hendrich Tom alle acht Jahre ein neues Leben seiner Wahl an, und er ist mißtrauisch, weil sich Tom diesmal für ein schlichtes Lehrerdasein an einem Ort voller schmerzlicher Erinnerungen entschieden hat. Tom empfindet den angeblichen Schutz, den die Mitgliedschaft in der Albatros-Gemeinschaft bietet, zunehmend als Gefängnis, und er zweifelt heimlich an Hendrichs Regeln.
Während Tom nach und nach seinen Unterrichtsstil verfeinert und bei einigen Schülern tatsächlich Begeisterung für Geschichte wecken kann, wird er von vielen Erinnerungen geplagt, und er spürt seine Herzensverluste und seine Einsamkeit stärker als je zuvor. Die Beschreibungen väterlicher Hoffnung, Liebe, Sorge und Kindessehnsucht gehören zu den berührendsten Passagen dieses Romans. Ein Lichtblick in seinem neuen Dasein ist seine Kollegin, die Französischlehrerin Camille, in die er sich nach mehr als 400 Jahren Einsamkeit unaufhaltsam verliebt …
Matt Haig erzählt das Schicksal Tom Hazards mit geschickten Szenen- wechseln von Zeiten, Orten und Ereignissen. Betrachtungen zum aktuellen Zeitgeist wechseln sich ab mit anschaulichen historischen Rückblicken und – angesichts der „Gezeiten des Mitgefühls“ (Seite 339) – berechtigtem Zweifeln am Fortschritt von Zivilisation und Mitmenschlichkeit. In diesem Roman kombiniert Matt Haig spannende Unterhaltung mit zeitloser Gesellschaftskritik und Betrachtungen zur elementaren Bedeutung von Liebe und Verbundenheit für eine bejahende Haltung zum Leben.
Gleichwohl erreicht er hiermit bei weitem nicht das Maß an Tiefsinn und Weisheit, daß ihm mit seinem Roman „Ich und die Menschen“ gelungen ist. Auch wenn es anbetracht von Toms traumatischen Erfahrungen verständ- lich ist, hätten ihm weniger Erinnerungskopfschmerzen und mehr Lebens- reife besser gestanden. Neben den in den Erzählverlauf eingestreuten, feinen Zitaten von Michel de Montaigne erscheinen seine eigenen lebens- philosophischen Erkenntnisformulierungen schwach und bisweilen binsenweisheitlich.
Toms Biographie ist ein Balanceakt zwischen Lebens- und Todessehnsucht, das lange Leben führt zu Wiederholungsermüdungen – zu häufig erlebte neue Moden können auch langweilen, vielschichtige Erinnerungsüber- lagerungen und wehmütige Echos gewesener Gefühle und Bindungen überschatten die Erfahrung der Gegenwart. Es kostet ihn viel Überwindung und dramatische Komplikationen, seine eingeübte zwischenmenschliche Reserviertheit aufzugeben und sich konsequent gegen Angst und Schmerz-vermeidung für Liebe, Verletzlichkeit und Vertrauen zu entscheiden.
„Es mag seltsam klingen, sich wegen einer Geste zu verlieben, aber manchmal sieht man in einem einzigen Moment den ganzen Menschen. So wie man in einem Sandkorn das Universum erblicken kann. Ob es Liebe auf den ersten Blick gibt oder nicht, Liebe in einem Augenblick gibt es bestimmt.“
(Seite 282)
Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der DTV-Verlagswebseite:
https://www.dtv.de/buch/matt-haig-wie-man-die-zeit-anhaelt-28167/
Parallel zum Buch ist das Hörbuch beim Hörverlag erschienen.
Matt Haig
Wie man die Zeit anhält
Roman
Originaltitel: »How To Stop Time«
Deutsch von Sophie Zeitz
Hörbuch
1 mp3-CD, Laufzeit: 571 Minuten
ungekürzte Lesung von
Christoph Maria Herbst
€ 20,00 € (D), 22,50 € (A), 27,90 sFr.
ISBN: 978-3-8445-2896-1
Christoph Maria Herbst vorleseverkörpert virtuos alle Romanfiguren mit charakterstarkem, gefühlvollem Nuancenreichtum und in der Rolle von Camille mit sehr charmantem französischem Akzent.
Hier entlang zum Hörbuch und zur HÖRPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.randomhouse.de/Hoerbuch-MP3/Wie-man-die-Zeit-anhaelt/Matt-Haig/der-Hoerverlag/e537252.rhd
Querverweis:
Hier entlang zu Matt Haigs nachdenklich-amüsantem Roman „Ich und die Menschen“, in dem uns die außerirdische Perspektive auf die Erde und die menschliche Zivilisation einen ganz besonderen Blick auf das Alltägliche verschafft: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/04/01/ich-und-die-menschen/
Und zu seinem autobiographischen Buch zum Thema Depression „Ziemlich gute Gründe am Leben zu bleiben“: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/06/14/ziemlich-gute-gruende-am-leben-zu-bleiben/
Der Autor:
»Matt Haig wurde 1975 in Sheffield geboren und hat bereits eine Reihe von Romanen und Kinderbüchern veröffentlicht, die mit verschiedenen literarischen Preisen ausgezeichnet und in über 30 Sprachen übersetzt wurden. In Deutschland bekannt wurde er mit dem Bestseller „Ich und die Menschen“.«