Die Markierung

  • von Fríða Ísberg
  • Roman
  • Originaltitel: »Merking«
  • Aus dem Isländischen von Tina Flecken
  • Hoffmann und Campe Verlag, September 2022 http://www.hoffmann-und-campe.de
  • gebunden
  • 288 Seiten
  • 23,00 €

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T E S T G E S E L L S C H A F T

Rezension von Ulrike Sokul ©

Läßt sich die Wahrscheinlichkeit ethischen Verhaltens durch einen neurologischen Test messen und vorhersagen? Die nahzukünftige Gesellschaft, die Fríða Ísberg in ihrem Roman beschreibt, ist auf dem Weg, einen Empathie-Test zur bürgerlichen Pflicht zu machen. Wer die empathischen Mindestwerte nicht erreicht, bekommt Therapieangebote, um sich zu bessern und später einen erneuten Test zu absolvieren. Auf diese Weise sollen Aggressionen, psychopathologisches Verhalten und Kriminalität vorbeugend vermieden bzw. ausgeschlossen werden.
Wer sich dem Test unterzieht und ihn besteht, wird  entsprechend digital markiert und in ein öffentlich einsehbares Register eingetragen. Auch Firmen, Geschäfte, Restaurants, Schulen, Wohnhäuser, ja, ganze Stadtviertel können sich markieren lassen, um als sichere Orte klassifiziert zu werden.
Unmarkierte Menschen, die den Test ablehnen oder nicht bestanden haben, können dann solche privaten Sicherheitszonen und diverse Bereiche des öffentlichen Lebens nicht mehr betreten oder werden beispielsweise von entsprechend markierten Geschäften nur noch über eine Luke bedient. Denn allgegenwärtige Gesichtsscanner an Eingangstüren, Kameraüberwachungen, smarte Uhren und holografische KI-Assisten- ten erfassen fast lückenlos die Identität und die Bewegungsprofile der Menschen.  
Die abwertende Ausgrenzung und Nötigung, der in diesem Roman unmarkierte Menschen ausgesetzt werden, erinnern – wahrscheinlich nicht von ungefähr – lebhaft an die Diskriminierung, Entrechtung und Schikane, denen Ungeimpfte vor noch gar nicht langer Zeit in unserer Sicherheitsgesellschaft ausgesetzt wurden.
Für eine gesetzliche Markierungspflicht setzen sich diverse Interessensgruppen ein und es gibt selbstverständlich auch eine Antimarkierungsbewegung. Da es in Folge von nicht bestandenen Empathietests zu einigen Selbstmorden von männlichen Jugend- lichen kommt sowie zu Depressionen und Suchterkrankungen in Folge der medika- mentösen Behandlung angeblich unzureichender Empathie, schwanken die gesell- schaftlichen und zwischenmenschlichen Haltungen zur geplanten Sicherheits- architektur.
Die Tests führen zu Ausgrenzung  und Traumatisierung der Empathietest-Versager. So kann ein Betroffener in einen Teufelskreis geraten. Denn eine psychisch belastende Situation und soziale Stigmatisierung können die Fähigkeit zur Empathie erst recht einschränken.
Erschwerend kommt hinzu, daß beispielsweise eine Familie, die in einem markierten Stadtteil lebt, mit einem Familienmitglied, das den Empathietest nicht besteht, in einen unmarkierten Stadtteil umziehen muß, da sie als Sicherheitsrisiko eingestuft wird – ganz zu schweigen davon, daß unmarkierte oder beim Test durchgefallene Menschen kaum noch legale Chancen haben, einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz oder eine Wohnung zu bekommen.
Besonders sicherheitsfanatische Kreise streben sogar eine alljährliche Wiederholung des Tests an – also sozusagen ein regelmäßiger Psycho-TÜV, der markiert, ob man zu den „guten“ Menschen gehört oder zu den potentiell gefährlichen.
Die gesellschaftliche Entwicklung und die Spaltung in Befürworter, Kritiker und Opfer des Testverfahrens spiegeln sich in den wechselnden Perspektiven und Erfahrungen verschiedener Charaktere, die alle auf ihre Weise vom Empathie-Test betroffen sind.
Die Autorin verleiht jeder Figur mit einem individuellen eigenen Sprachduktus und Wortschatz sehr lebhafte, ja, geradezu nahbare Gestalt. Argumente für und wider den Empathie-Test werden in zahlreichen Gesprächen, Interviews, Briefwechseln, philoso-phischen Gedankenspielen und auch durch steiflichternde Einblicke in diverse sozial-mediale Stellungnahmen vielseitig dargestellt.
Der gesellschaftliche Druck hin zur Empathie führt auch zu seltsam weichgespülten politisch korrekten Formulierungen, beispielsweise spricht man nicht mehr von Psychopathen, sondern von „Menschen mit moralischen Störungen“.  Eine weitere Nebenwirkung ist die zunehmende Verflachung der Diskussionsfähigkeit, des konstruktiven Streitens:
„Auch andere haben angefangen zu schweigen. Zu schweigen und zuzuhören, zu über-legen, beide Seiten zu verstehen und sich nicht zu trauen, eine Ansicht zu vertreten, weil eine Ansicht Verallgemeinerung ist und Verallgemeinerung Gewalt ist, und deswegen ist es besser, zuzuhören und zu verstehen, anstatt sich zu streiten und recht haben zu wollen.“ (Seite 57)
Der Roman „Die Markierung“ illustriert anschaulich, daß gesundheitsgesetzlich verordnete Empathie nicht wirklich Empathie fördert, sondern viel eher voraus- eilenden Empathie-Gehorsam erzeugt sowie die üblichen Mitläufereffekte, um gesellschaftliche Vorteile und die offizielle Anerkennung als ethisch-qualifizierter Mitmensch. Der im Roman vorgestellte Empathie-Test ist zudem recht simpel gestrickt und wird der Komplexität persönlicher empathischer Grundvoraussetzungen wohl kaum gerecht.  
In diesem Roman haben die Weltverbesserungsideologen das Bedürfnis nach einer Berechenbarkeit von Gut und Böse. Es ist schon mehr als zweifelhaft, einzig die Fähigkeit zur Empathie als relevanten Meßfaktor für ethisches Verhalten zu behaupten, umso fragwürdiger ist der erziehungsdiktorische Therapie-Tugendterror solcher Sicherheitsfanatiker.
Gewiß ist Empathie eine wünschenswerte Eigenschaft, die das zwischenmenschliche und gesellschaftliche Miteinander zu fördern vermag. Indes bedarf es für ein komplexes Miteinander auch Eigenschaften wie Selbstvertrauen, Individualität, Begeisterungsfähigkeit, Eigeninitiative, Freiheit, Güte, Humor, Mündigkeit, Nonkonformismus, Originalität, Reife, Verbundenheit und Weisheit.
Fríða Ísberg zeigt in ihrem Roman deutlich die Schattenseiten einer Gesellschaft, welche die Freiheit des Individuums einem maßlos überzogenen Sicherheitsbedürfnis opfert und im selbstherrlichen Versuch, Schaden prophylaktisch abzuwenden, selber Schaden anrichtet.

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://hoffmann-und-campe.de/products/59741-die-markierung?variant=42798827700451

Hier entlang zu einer weiteren Besprechung von Hauke Harder auf LESESCHATZ: Frida Isberg: Die Markierung

Die Autorin:

»Fríða Ísberg, geboren 1992, ist eine isländische Lyrikerin und Prosaautorin. Ihre Lyrikbände und die Kurzgeschichtensammlung „Kláði“ waren für alle wichtigen isländischen Literaturpreise nominiert, „Kláði“ u.a. für den Literaturpreis des Nordischen Rates 2020. Ihr erster Roman „Die Markierung“ wurde mit dem Literaturpreis des isländischen Buchhandels ausgezeichnet.«

Die Übersetzerin:

»Tina Flecken arbeitet seit vielen Jahren als freie Literaturübersetzerin. Sie hat u.a. Auður Ava Ólafsdóttir, Andri Snær Magnason und Sjón ins Deutsche übertragen. 2021 wurde sie für ihre herausragenden Übersetzungen mit dem isländischen Übersetzungs-preis Orðstír ausgezeichnet.«

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Bertie Pom und das große Donnerwetter

  • Text und Illustration von Daniela  Drescher
  • Verlag Urachhaus, August 2021 www.urachhaus.com
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 20,8 x 23 cm
  • 24 Seiten
  • ISBN 978-3-8251-5284-0
  • 16,00 € (D), 16,50 € (A)
  • Bilderbuch ab 3 Jahren

Bertie Pom und das große Donnerwetter

MITEINANDER   STURMERPROBT

Bilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Bertie Pom ist ein Apfelwicht, der zwischen den Wurzeln eines Apfelbaumes in seinem Wichtelhaus wohnt. Ausgestattet mit Speisekammer, Ofen und einem weichen Bett ist es dort sehr behaglich, und nette Gesellschaft hat Bertie mit den niedlichen Insekten- mitbewohnern Rüsselchen, Krabbelfuß und Pünktchen noch dazu.

„Wie jeden Morgen wird Bertie von seinem leeren Bauch geweckt.“ Wer kennt das nicht? Mit einem leckeren Frühstück fängt jeder Tag gut an. Doch bevor sich Bertie den ersten Löffel Haferbrei mit Rosinen, Äpfeln und Honig einverleiben kann, klopft der Dachs an die Haustür und warnt vor einem aufziehenden Gewitter. Bertie betrachtet den sich verdunkelnden Himmel und verkündet seinen Mitbewohnerchen, daß sie sich ange- sichts der Gewitteraussichten einfach einen gemütlichen Tag zu Hause machen sollten.

Rüsselchen, Krabbelfuß und Pünktchen tragen sogleich Spiele, Decken, Handarbeits- zeug, Bauklötze, Kissen und Knabberkram zusammen – die unerläßlichen Zutaten für einen „Gemütlichkeitstag“.

Bertie Pom und das große Donnerwetter.Interieur. png

Illustration von Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2021

Plötzlich fällt Bertie die alte Krähe mit dem lahmen Flügel ein, die hoch oben im Apfel-baum wohnt. Hilfsbereit geht Bertie hinaus und klettert von Ast zu Ast hinauf zur alten Krähe, deren Nest schon ganz vom Wind zerzaust ist. Nach kurzen vergeblichen Nestbe-festigungsversuchen lädt Bertie die Krähe in sein Haus ein, denn das Gewitter ist schon fast über ihnen, der Donner grollt und der Wind weht stürmisch. Auf dem Weg nach unten lädt Bertie auch gleich noch das Eichhörnchen ein, dessen Kobel vom Wind mitge-rissen wurde. Der Kauz, in dessen Baumhöhle es nun schon hineinregnet, wird ebenfalls aufgefordert mitzukommen und auch der Gartenschläfer, der erschreckt von Blitz und Donner aus seiner Asthöhle direkt in Berties Arme springt.

Bertie Pom und das große Donnerwetter.Gartenschläfer. png

Illustration von Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2021

In Berties Wichtelhaus ist es warm, trocken und sehr gemütlich. Als guter Gastgeber tischt Bertie seine besten Vorräte aus der Speisekammer auf, und so überstehen sie das heftige Gewitter ausgezeichnet.

Nach dem Gewitter ist der Himmel wieder ungetrübt blau. Gemeinsam sammeln die Tiere die heruntergefallenen Äpfel für Berties Speisekammer auf, reparieren das Nest der alten Krähe, flechten für das Eichhörnchen einen neuen Kobel und helfen beim Trockenwischen der Wohnhöhlen von Kautz und Gartenschläfer.

Nach diesen Freundschaftsdiensten ist es wieder Zeit für ein kleines Festessen auf der Wiese unter „dem blauesten Himmel, den du dir vorstellen kannst“.

Bertie Pom und das große Donnerwetter.Wiesenfest. png

Illustration von Daniela Drescher © Verlag Urachhaus 2021

In dieser Geschichte geht es um elementare Bedürfnisse: Geborgenheit und Schutz, Nahrung und Wärme und die Freuden des ebenso spielerisch-genüßlichen wie auch konkret hilfsbereiten, freundschaftlichen Miteinanders. Daniela Drescher stellt diese allgemein-menschlichen Bedürfnisse in eine natürliche Kulisse mit einer attraktiven Prise Naturmagie.

Ihre Illustrationen sind gleichermaßen märchenhaft wie botanisch und zoologisch präzise. Viele liebevolle und verspielte Details laden Kinder zum Entdecken ein und sensibilisieren für die Farb- und Formenvielfalt der Natur.

Daniela Dreschers warmherziger Erzählstil spricht Kinder ganz unmittelbar – gleichsam auf Herzenshöhe – an. Der Fließtext erscheint auf jeder Bilderbuchseite in einer anderen Farbe, die stets harmonisch mit der Farbtönung der jeweiligen Illustrationen abge- stimmt ist.

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.urachhaus.de/Lesen-was-die-Welt-erzaehlt/Daniela-Drescher/Bertie-Pom-und-das-grosse-Donnerwetter.html

 

Die Autorin und Illustratorin:

»Daniela Drescher, geboren 1966, ist eine international gefeierte Illustratorin und Autorin. Ihre Bilderbücher und illustrierten Kinderbücher bestechen durch einen Stil, der Kinder und Erwachsene weltweit anspricht. In ihren mittlerweile über 40 Büchern vermittelt sie ihren jungen Leserinnen und Lesern einen unmittelbaren Zugang zur Natur sowie zu sozialen Themen. Darüber hinaus setzt sie sich regelmäßig für Naturschutzorganisationen ein.« www.danieladrescher.de

Querverweis:

Hier entlang zu einer weiteren sympathischen, naturgeistigen Figur aus Daniela Dreschers Feder und Pinsel und Nachbarschaft: Giesbert, der Regentonnenwicht.

„Giesbert in der Regentonne“ (Band 1) Giesbert in der Regentonne
„Giesbert hört das Gras wachsen“ (Band 2) Giesbert hört das Gras wachsen
„Giesbert und der Gluckerbach“ (Band 3) Giesbert und der Gluckerbach

 

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Wir beide passen richtig gut zusammen

  • Der kleine Siebenschläfer
  • Text von Sabine Bohlmann
  • Illustrationen von Kerstin Schoene
  • Thienemann Verlag, Juli 2021   www.thienemann.de
  • 16 abgerundete Pappseiten
  • Format: 165 x 165 mm
  • 7,99 € (D), 8,30 € (A), 11,90 sFr.
  • ISBN 978-3-522-45950-1
  • Pappbilderbuch ab 2 Jahren

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MITEINANDER  ANDERSSEIN

Bilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Der kleine Siebenschläfer erweist sich als sehr bilderbuchvermehrungsfreudig. Nach sechs Bilderbüchern für Kinder ab 4 Jahren ist mit dem vorliegenden Band „Wir passen richtig gut zusammen“ nun das vierte Pappbilderbuch für Kinder ab 2 Jahren erschienen.

Der sympathische kleine Siebenschläfer und seine noch kleinere Freundin, die Hasel- maus, sind der Ansicht, daß sie gut zusammenpassen. Doch dann zählen sie auf, was sie alles unterscheidet. Da wären die unterschiedlichen Körpergrößen, die Fellfarben, die Schwanzform und die Eßvorlieben.

Ja, sie sind ja doch sehr verschieden, und vor lauter Verschiedenheit fremdeln die beiden einen Moment lang miteinander. Doch dann fällt dem kleinen Siebenschläfer zum Glück ihre wesentliche Gemeinsamkeit ein – sie mögen einander, und das verbindet sie über alle Unterschiede hinweg, und schon passen sie wieder richtig gut zusammen.

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Illustration Kerstin Schoene © Thienemann Verlag 2021

Die einfachen, kurzen Dialoge zwischen Siebenschläfer und Haselmaus sowie die possierliche, körpersprachlich ausdrucksvolle zeichnerische Darstellung der beiden Tierchen vermittelt kleinen Kindern anschaulich und altersgemäß die Spannung zwischen Unterschieden und Gemeinsam- keiten.

So können Kinder spielerisch erkennen, daß es in Ordnung ist, anders und unterschiedlich zu sein, und daß man darüber hinaus über die wechsel- seitige Zuneigung zum Anderen zu einem auskömmlichen Miteinander finden kann.

Die festen, abgerundeten Pappseiten sind strapazierfähig und kommen der noch ungeübten Kleinkindmotorik freundlich entgegen.

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.thienemann-esslinger.de/produkt/wir-beide-passen-richtig-gut-zusammen-isbn-978-3-522-45950-1

Hier entlang zum ersten Band: Das ist noch nicht gemütlich
Hier entlang zum zweiten Band: Gleich ist alles wieder gut

Die Autorin:

»Geboren wurde Sabine Bohlmann in München, der schönsten Stadt der Welt. Als Kind wollte sie immer Prinzessin werden. Stattdessen wurde sie (nachdem sie keinen Prinzen finden konnte und der Realität ins Auge blicken musste) Schauspielerin, Synchron-sprecherin und Autorin und durfte so zumindest ab und zu mal eine Prinzessin spielen, sprechen oder über eine schreiben.
Geschichten fliegen ihr zu wie Schmetterlinge. Überall und zu allen Tages- und Nacht-zeiten (dann eher wie Nachtfalter). Sabine Bohlmann kann sich nirgendwo verstecken, die Geschichten finden sie überall. Und sie ist sehr glücklich, endlich alles aus ihrem Kopf rausschreiben zu dürfen. Auf ein blitzeblankes, weißes – äh – Computerdokument. Und das Erste, was sie tut, wenn ein neues Buch in der Post liegt: Sie steckt ihre Nase ganz tief hinein und genießt diesen wunderbaren Buchduft.« www.sabinebohlmann.com

Die Illustratorin:

»Kerstin Schoene, geboren 1981 in Haan, studierte Kommunikationsdesign an der Bergischen Universität Wuppertal. Schwerpunkt ihres Studiums war Illustration bei Wolf Erlbruch. Seit ihrem erfolgreichen Abschluss arbeitet sie freiberuflich als Illustratorin und Grafikdesignerin. Sie zeichnet für verschiedene Verlage, schreibt und illustriert eigene Kinderbücher. Sie lebt, unter Beobachtung eines Fellknäuels, in Haan.«  www.kerstinschoene.de

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Das kleine Buch vom Glücklichmachen

  • Text und Illustrationen von Francesca Pirrone
  • Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
  • Originaltitel: »Graag gedaan«
  • FISCHER Sauerländer Verlag, August 2020 www.fischerverlage.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • 56 Seiten
  • Format: 15,7 x 19,6 cm
  • ISBN 978-3-7373-5773-9
  • 14,99 € (D), 15,50 € (A)
  • Bilderbuch ab 4 Jahren

GLÜCKSSCHWEINCHEN

Bilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

„Wer andere glücklich machen will, braucht dazu nicht viel.“ Mit diesem Satz beginnt das vorliegende Bilderbuch. Ein kleines Schwein im gelben Ringelpulli demonstriert in den nachfolgenden elf Kapiteln, wie mit Höflichkeit, Fürsorge, Großzügigkeit, aufmerk- samer Wahrnehmung und kleinen Gesten beglückende Wirkungen erzielt werden können.

So muntert das Schweinchen den betrübten Hasen mit einem zugewandten Lächeln auf, und es baut ein Vogelhäuschen, damit ein frierender Vogel einen geschützten Übernach-tungsraum bekommt. An der Ampel hebt das Schwein eine Schildkröte auf, um sie bei Grün über die Straße zu tragen, und es teilt großzügig sein Gebäck mit der Maus, die wiederum ihr Getränk mit dem Schwein teilt, ebenso schubsen sich Schwein und Maus wechselseitig beim Schaukeln an. Das Schweinchen liebt auch die Natur, sammelt herumliegenden Müll ein und rettet ein kleines schwarzes Kätzchen aus der Mülltonne. Auf der letzten Doppelseite sitzt das Schwein freudestrahlend mit all den Tieren zusammen, denen es zuvor so gütig und hilfreich begegnet ist.

Bis auf kurze Kapitelüberschriften, wie beispielsweise „Ein bisschen Geduld“, „Eine Portion Schutz“, „Ein Ohr für andere haben“, „Ein bisschen Höflichkeit“ usw., erscheinen die Kapitel als reine Bildergeschichten, die selbsterklärend sind.

Der Zeichenstil Francesca Pirrones ist minimalistisch und weitgehend in schwarz-weiß gehalten, Farben werden nur akzentuiert eingesetzt, beispielsweise für die Farben der Ampelschaltung, den kleinen blauen Trinkbecher der Maus, die rote Zipfelmütze des Vogels und den gelben Pullover des Schweins. Die klare Bildsprache lenkt den Blick sehr anschaulich auf das Wesentliche. Kinder können von diesen Bildern leicht „ablesen“, was geschieht und wie es sich auswirkt.

Es mag eine Binsenweisheit sein, daß eine große Quelle des Glücks im achtsamen Mit- einander liegt, doch angesichts zunehmender gesellschaftlicher Entfremdung, Isolation und Vereinzelung kann man diese Weisheit nur erst recht immer wieder verkünden und ins Bewußtsein heben. Nur aus Kindern, die Vorbilder dafür haben, daß es für andere und für sie selbst angenehme und wünschenswerte Folgen hat, seine Wahrnehmung über die eigenen Bedürfnisse hinaus auszuweiten, werden Erwachsene hervorwachsen, die der Welt und ihren Mitgeschöpfen gegenüber nicht gleichgültig, kalt und rücksichts- los sind, sondern anteilnehmend, warmherzig und zugewandt.

„Das kleine Buch vom Glücklichmachen“ bietet mit seinem sympathisch-empathischen Glücksschweinchen ein solches Vorbild im Bilderbuchformat.

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.fischerverlage.de/buch/francesca-pirrone-das-kleine-buch-vom-gluecklichmachen-9783737357739

 

Die Autorin und Illustratorin:

»Francesca Pirrone studierte an der Academia di Belle Arti in Florenz und lebt in Prato, Italien. Dort arbeitet sie als kreativer Kopf an Schulen. Sie liebt es, Kinderbücher zu schreiben und zu illustrieren.«

Der Übersetzer:

»Rolf Erdorf ist als Übersetzer für Kinder- und Jugendliteratur sowie für Sachbücher bekannt und wurde mehrfach für sein Werk ausgezeichnet, zuletzt 2016 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis.«

 

 

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Ein Mädchen namens Willow

  • von Sabine Bohlmann
  • mit Illustrationen von Simona Ceccarelli
  • PLANET! Verlag, Januar 2020 www.planet-verlag.de
  • gebunden
  • 256 Seiten
  • Format: 148 x 210 mm
  • 13,00 € (D), 13,40 € (A), 19,50 sFr.
  • ISBN 978-3-522-50664-9
  • Kinderbuch ab 10 Jahren

VON  HEXE  ZU  HEXE

Kinderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Dieses Kinderbuch wahrt eine zauberhafte Balance zwischen Magie und Wirklichkeit und vermittelt eine positive Vorstellung von Hexen als weisen und heilkundigen Frauen. Naturbeziehungsfähigkeit und elementare Zauberkräfte gehen hier Hand in Hand mit kindlicher Lebensfreude, Entdeckungslust, Freundschaftsfindung und Humor.

Das Mädchen Willow zieht mit ihrem Vater in ein altes Haus, das er von seiner Tante Alwina geerbt hat. Willow hatte schon als kleines Kind in diesem Haus gelebt; doch nach dem plötzlichen Unfalltod ihrer Mutter zog es der Vater vor, an anderen Orten zu leben, da ihn dieser heimatliche Ort auf Schritt und Tritt an seine verstorbene Frau erinnerte. Die Arbeit als Auslandskorrespondent brachte es mit sich, daß er und Willow häufig den Wohnort wechselten. Nun will er jedoch an diesen vertrauten Ort zurückkehren und der inzwischen elfjährigen Willow ein beständiges Zuhause bieten.

Tante Alwina hat den zum Haus gehörigen Wald ausdrücklich ihrer Nichte Willow vererbt, und diese erkundet mit aufgeschlossenem Herzen für die Schönheit der Natur ihr neues Reich. Unterwegs bemerkt sie einen Fuchs, der sie neugierig beobachtet. Nach und nach erinnert sie sich auch wieder an ihre Tante, an bestimmte Bäume und an ihre kindlichen Spiele in diesem Zauberreich. Am nächsten Tag setzt Willow die Inspektion ihres Erbes fort und begegnet wieder dem zutraulichen Fuchs. Diesmal führt er sie zu einem verborgenen, von Efeu und Heckenrosen umrankten kleinen Holzhaus.

In diesem malerischen Hexenhäuschen findet Willow u.a. geheimnisvolle alte Bücher, die sich unerklärlicherweise nicht öffnen lassen, und ein Foto, das ihre noch junge Tante zusammen mit drei weiteren jungen Frauen zeigt, sowie eine kleine abgeschlossene Holztruhe, in die Willows Name hineingeschnitzt wurde.

Im Inneren der Truhe liegt ein dickes, ledergebundenes Buch, das auf seiner Buch-deckelmitte ein Muster aus ineinander verwobenen Spiralen trägt und in den vier Ecken des Buchdeckels vier unterschiedliche Symbole für die vier Elemente. Die Truhe enthält außerdem eine Glaskugel, eine Kupferschale, einen Flacon und vier Ketten mit Amu- letten, die vier Symbole zeigen, welche denen vom Dekor des Buches entsprechen. Die größte Überraschung ist für Alwina allerdings der an sie adressierte Brief ihrer Tante.

Aus diesem Brief erfährt Willow, daß sie die Hexenkraft ihrer Tante geerbt habe. Der Brief enthält präzise und liebevoll formulierte Anweisungen, wie diese Kraft – sofern Willow willens ist, sie anzunehmen und konstruktiv zu nutzen – auf sie übertragen werden kann. Als zuverlässiger Ratgeber fungiert das Buch mit den Symbolen. Dieses Buch mit dem Namen „Grimmoor“ beschriftet sich selbst – in federleichter Schönschrift – und beantwortet auf diese buchstäbliche Weise Willows Fragen, gibt Hinweise auf die nächsten magischen Schritte, erklärt Rituale und gemahnt freundlich und bestimmt, immer wieder daran, daß Willow für Problemlösungen, Beurteilungen und Entschei- dungen aufmerksam ihr Herz befragen solle.

So erfährt Willow beim Hexenkraftübertragungsritual, daß ihr Element das Feuer ist und ihr Krafttier der Fuchs. Um die volle Hexenkraft zu erreichen, muß sie drei weitere Mäd-chen finden, die ebenfalls über eine familiäre Hexenbegabung verfügen und die den drei Elementen Luft, Wasser und Erde zugehörig sind.

Die Suche nach diesen Hexenmädchen führt zu einigen Mißverständnissen, da Willow anfangs noch allzu vordergründig und naiv vorgeht. Doch sie lernt aus den Fehlern und Komplikationen und findet nach und nach die richtigen Hexentalente: Die luftige Valentina ist die erste Verbündete, dann folgt Gretchen, die das Wasser beherrscht, und schließlich Lotti, die für das Element Erde zuständig ist. Von Vollmondritual zu Voll- mondritual wachsen die vier Elemente zusammen, und auch die Freundschaft und Vertrautheit zwischen den Mädchen vertieft sich. 

Die Bündelung der Kräfte kommt genau zur rechten Zeit, denn geschäftstüchtige Immobilieninvestoren wollen Willows Vater das Waldgrundstück abkaufen und den Wald abholzen, um dort ein Einkaufszentrum zu bauen. Doch dank Hexenbuchweisheit und vereinter Hexenkraft wachsen in Willows Wald gleich vier seltene und gefährdete Pflanzen, die auf der Roten Liste stehen. Somit wird der Wald zu einem privaten Naturschutzgebiet, und ein Verkauf und eine Abholzung kommen keinesfalls mehr in Frage. Diese gute Nachricht nehmen die Junghexen sogleich zum Anlaß, ein kleines Freudenfest mit Mondlicht-Picknick zu feiern.

Sabine Bohlmann erzählt eine spannende und herzerwärmende Geschichte über Freundschaft, Naturverbundenheit und Magie. Sie wartet ebenso mit phantasievollen Details und attraktiven Zauberrequisiten auf wie mit scha- manischen Anfängerkenntnissen, Mondphasen- und Heilpflanzenwissen.  

Die verwendeten Anrufungen, Hexensprüche und Zauberformeln erscheinen in einfachen Reimen. Auch wenn das Versmaß manchmal etwas hinkt und stolpert, so trägt die Reimform dennoch wesentlich zu einer magischeren Sprachklangebene bei.

Die Illustrationen von Simona Ceccarelli geben den Charakteren und ele- mentaren Saiten der vier Hexenmädchen, den magischen Requisiten und den Krafttieren anschaulich Gestalt. Bemerkenswert sind zudem die illustrierten Buchseiten mit den nächtlichen Szenen, auf denen der Text weiß auf schwarz gedruckt ist, und deren „Lichteffekte“ ganz besonders geheimnisvoll wirken.

Der rote Faden dieser Geschichte ist keineswegs die aggressive Machtaus- übung mit Hilfe von Magie, sondern zwischenmenschliches sowie natur- verbundenes Feingefühl und Miteinander und eine ausgeprägte Herzens- orientierung, die das Werkzeug Magie gleichermaßen in den Dienst des persönlichen menschlichen Lebens wie in den des umfassenderen natürlichen Lebens stellt.

»Es gibt Wissende, Unwissende, glaubende Wissende und wissende Wissende, und dann sind da noch die hoffenden Unwissenden, Scharlatane und Möchtegern-Magier, aber die echten, wissenden wissenden Magier, die Hexen, Hexer, Zauberer und Zauberinnen, arbeiten alle mit der Energie der Erde.« (Seite 173)

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.thienemann-esslinger.de/planet/buecher/buchdetailseite/ein-maedchen-namens-willow-isbn-978-3-522-50664-9/

Die Autorin:

»Geboren wurde Sabine Bohlmann in München, der schönsten Stadt der Welt. Als Kind wollte sie immer Prinzessin werden. Stattdessen wurde sie (nachdem sie keinen Prinzen finden konnte und der Realität ins Auge blicken musste) Schauspielerin, Synchronsprecherin und Autorin und durfte so zumindest ab und zu mal eine Prinzessin spielen, sprechen oder über eine schreiben. Geschichten fliegen ihr zu wie Schmetterlinge. Überall und zu allen Tages- und Nachtzeiten (dann eher wie Nachtfalter). Sabine Bohlmann kann sich nirgendwo verstecken, die Geschichten finden sie überall. Und sie ist sehr glücklich, endlich alles aus ihrem Kopf rausschreiben zu dürfen. Auf ein blitzeblankes, weißes – äh- Computerdokument. Und das Erste, was sie tut, wenn ein neues Buch in der Post liegt: Sie steckt ihre Nase ganz tief hinein und genießt diesen wunderbaren Buchduft.« https://www.sabinebohlmann.com/

Die Illustratorin:

»Nach einem halben Leben als Medizinalchemikerin hat Simona Ceccarelli den Laborkittel gegen den Bleistift eingetauscht, um ihrem Kindheitstraum nachzugehen. Ausgerüstet mit einem Diplom in Illustration und Concept Art der Academy of Arts University in San Francisco illustriert sie seit 2016 Bücher, Spiele und andere Produkte für Kinder. Simona Ceccarelli lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern, drei Nationalitäten und vier Sprachen in Basel.« https://www.smceccarelli.com

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Das ist mein Baum

  • Text und Illustrationen von Olivier Tallec
  • Originaltitel: »C‘est mon arbre«
  • Übersetzung aus dem Französischen von Ina Kronenberger
  • Gerstenberg Verlag, Juli 2020  www.gerstenberg-verlag.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • matt laminiert
  • Format: 20 x 28 cm
  • 36 Seiten
  • durchgehend farbig
  • 13,00 € (D), 13,40 € (A), 16,90 sFr.
  • ISBN 978-3-8369-6069-4
  • Bilderbuch ab 3 Jahren laut Verlag
  • ab 4 Jahren laut meiner Einschätzung

EIN  EIGENTÜMLICHER  MEINLING

Bilderbuchbesprechung  von Ulrike Sokul ©

Das Eichhörnchen aus Olivier Tallecs Bilderbuch „Das ist mein Baum“ ist sehr auf seinen Besitzanspruch an seinen Baum und seine Kiefernzapfen fixiert. Es sorgt sich unent- wegt, daß ein anderes Eichhörnchen Anspruch auf seinen Baum erheben, es sich in seinem Baumschatten gemütlich machen und gar seine Zapfen verspeisen könnte, ja, vielleicht – so die angstvolle Vorstellung – wollten sogar alle anderen Tiere ebenfalls an seinem Baum und dessen Vorzügen teilhaben.

Dem will das Eichhörnchen energisch vorbeugen, denn es ist ein ausgesprochen eigen-tümlicher Meinling. Es erwägt, ein großes Tor aufzustellen, das seinen Baum als sein Eigentum markiert, oder einen Lattenzaun rundherum um seinen Baum zu ziehen. Da ihm diese Maßnahmen immer noch nicht ausreichend erscheinen, baut es eine dicke, hohe und sehr lange Mauer, damit sein Baum vor fremden, unbefugten Zugriffen bestmöglich geschützt sei. Diese Schutzmauer wird so lang, daß sie schließlich an eine andere Mauer stößt.

Illustration von Olivier Tallec © Gerstenberg Verlag 2020

Angesichts dieser Mauer fragt sich das Eichhörnchen, was sich wohl dahinter befinden mag. Sogleich stellt es sich Zapfen vor, die noch viel größer sind als die Zapfen seines Baumes, sowie einen anderen Baum, der viel schöner und noch höher ist und viel mehr Zapfen trägt als sein eigener Baum. Vielleicht ist sogar ein ganzer Wald hinter dieser Mauer zu finden, der nur darauf wartet, vom nimmersatten Eichhörnchen in Besitz genommen zu werden.

Das Eichhörnchen erklettert die Mauer, und auf dem Mauersims eröffnet sich ihm die Aussicht auf einen nahen Wald voller Bäume und jede Menge fröhlich herumspringen- der und -kletternder Eichhörnchen. Da macht es große Augen und staunt, und es wirkt ein bißchen verloren, aber auch sehnsüchtig. Es könnte sein, daß in diesem Meinling durchaus noch ein Miteinanderling verborgen ist …

Illustration von Olivier Tallec © Gerstenberg Verlag 2020

Die Geschichte dieses besitzergreifenden Eichhörnchens wird von Olivier Tallec in ein-fachen kurzen Sätzen mit unmittelbarer Aussage erzählt. Durch die ausdrucksvolle Körpersprache und Mimik zeigen die Illustrationen von Olivier Tallec sehr präzise und zugleich mit einem amüsanten Schmunzeleffekt, was das Eichhörnchen denkt und fühlt.

Einerseits ist das Eichhörnchen ein ausgemachter, am Haben und Behalten orientierter Egoist, andererseits wirkt es trotz seiner wehrhaften Besitzverteidigungsbemühungen ziemlich klein und verletzlich und in einigen Szenen auch sehr einsam. Besonders die Szenen, die in der Mauerecke spielen, machen zudem die Unfreiheit und Verschlossen- heit des Eichhörnchens sehr deutlich. 

Die Geschichte endet mit der Aussicht des Eichhörnchens auf eine andere – mehr auf das Sein und ein auskömmliches, entspanntes, spielerisches Miteinander bezogene – Lebenseinstellung. Es bleibt offen,  ob das Eichhörnchen begreift, daß genug für alle da ist und daß geteilte Freuden möglicherweise ergiebiger sind als einsame ungeteilte Freuden.

So eröffnet die Betrachtung dieses Bilderbuches eine gute Gelegenheit, mit Kindern über angemessene und unangemessene Besitzbedürfnisse zu sprechen sowie über den weiteren Fortlauf der Geschichte und eine mög- liche Einstellungsveränderung des Eichhörnchens zu spekulieren. Wird es sich aus seiner Verschlossenheit befreien, seine anstrengende Besitzan- klammerung loslassen und seine Verlustangst überwinden? Wird es sich auf Kontakt einlassen und zu teilen lernen? Und mit der Frage, welche Lebens- einstellung wohl langfristig freier, glücklicher und zufriedener macht, können sich gerne auch die Erwachsenen beschäftigen.

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite: Das ist mein Baum

Der Autor & Illustrator:

»Olivier Tallec, geboren 1970, hat an der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs in Paris studiert und teilt seitdem seine Zeit zwischen Design und Illustration. Seine Bücher wurden in zahlreichen Ländern veröffentlicht und ausgezeichnet.«

Querverweis:

Ergänzend empfehle ich zudem das Bilderbuch „Zwei für mich, einer für dich“ von Jörg Mühle, das auf sehr amüsante Weise das Thema des gerechten Teilens in Szene setzt.
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2019/02/07/zwei-fuer-mich-einer-fuer-dich/

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Der Bärenvogelschatz

  • Text & Illustration von Stella Dreis
  • NILPFERD Verlag 2018 www.nilpferd.at
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 28 x 28 cm
  • 48 Seiten
  • 18,00 €
  • ISBN 978-3-7074-5216-1
  • Bilderbuch ab 4 Jahren

F I N D E F R E U D E

Bilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Ein kleiner Bär sammelt voller Begeisterung und achtsamer Entdeckerneugier allerlei Fundstücke auf. Er ist kein Sucher, sondern ein Finder, zählt beglückt seine kleinen Schätze und trägt sie mit sich herum.

Text & Illustration von Stella Dreis © Nilpferd Verlag 2018

Doch die anderen Tiere, denen er lebhaft von dem Knopf, der Feder, dem Zauberstock, der Wäscheklammer, dem „Kenne-ich-noch-nicht-Geruch“ und dem schüchternen Fussel erzählt, teilen seine Wertschätzung kleiner Dinge keineswegs. Sie sind zu beschäftigt, zu eilig, zu selbstbezogen oder schlicht uninteressiert.

Geknickt hockt sich der kleine Bär auf den Boden und seufzt vor sich hin. Da landet ein kleiner Vogel auf seinem Kopf und regt an, daß sie  doch gemeinsam auf Schatzsuche gehen könnten. Hocherfreut stimmt der kleine Bär zu, und schon beginnt eine sehr ergiebige Schatzfindung. Im reichen Sammelsurium finden sich schon bald u.a. Kitzelregen, ein Baumrindenboot, Glitzerfische, ein Riesenpilz, ein Leckerwurm, ein Nebelmysterium …

Text & Illustration von Stella Dreis © Nilpferd Verlag 2018

Die beiden machen die erfüllende Erfahrung, daß sich geteilte Schätze und geteilte Freu-den vermehren. Am Abend bestaunen sie den Sternenhimmel, und während sie die Ster-ne und Sternschnuppen zählen, fühlen sie sich wie Könige. Der kleine Vogel schläft auf der Schulter des kleinen Bären ein, und der kleine Bär denkt, kurz bevor er selber ein-schläft, daß der Schatz, der ihm am allerbesten gefällt, der kleine, leise schnarchende Vogel an seiner Seite ist. So träumen die beiden findigen Schatzhüter schließlich voneinander …

Stella Dreis erzählte diese Geschichte in feinen, leichten Worten, die durch zwei unterschiedliche Typographien – eine, die wie gedruckt ausschaut, und eine, die handschriftlich wirkt – um besondere situative Betonungen ergänzt werden.

Die filigranen Illustrationen von Stella Dreis sind in sepiafarbenen Grund- tönen mit zart-bunten Farbtupfern gestaltet. Der kleine Bär und der kleine Vogel sehen sich trotz ihrer artspezifischen Körperformen etwas ähnlich. Denn beide haben ausgeprägte schwarze Augenbrauen, und der rote Schnabel des Vogels korrespondiert mit den roten Wangen des Bären. So werden das harmonische Miteinander und die Seelenverwandtschaft zu-sätzlich verdeutlicht. Über mehrere Doppelseiten hinweg kommt das Geschehen sogar ganz ohne Begleittext aus, da die Zeichnungen beredt genug sind.

Text & Illustration von Stella Dreis © Nilpferd Verlag 2018

„Der Bärenvogelschatz“ strahlt in Bildern und Worten eine ganz unmit- telbare Warmherzigkeit und spielerische Zärtlichkeit aus und inszeniert anschaulich große Wertschätzung für die unzähligen kleinen Freuden des Lebens. So ist dieses Bilderbuch selbst ebenfalls ein herzenswerter Schatz für kleine und große Findefreunde und Freudenfinder.

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.ggverlag.at/produktkatalog/der-baerenvogelschatz/

 

Die Autorin & Illustratorin:

»Stella Dreis, Malerin, Illustratorin und Autorin, wurde 1972 in Plovdiv/Bulgarien geboren. Seit 1995 in Deutschland, studierte sie Modedesign in Hamburg. Heute lebt sie als freischaffende Künstlerin und Illustratorin in Heidelberg. Für ihr Werk wurde Stella Dreis bereits vielfach aus- gezeichnet; u.a. erhielt sie den Hasselt Publication Award, den Troisdorfer Bilderbuchpreis sowie die goldene Plakette der Biennale der Illustration in Bratislava. Ihre Bilder zeigt sie in internatio- nalen Ausstellungen.« http://www.stelladreis.com/

Querverweis:

„Der Bärenvogelschatz“ ergänzt sich thematisch vorzüglich mit den beiden Bilderbüchern von Anne-Gaëlle Balpe (Text) und Eve Tharlet (Illustration):
„Der blaue Stein“ https://leselebenszeichen.wordpress.com/2017/04/24/der-blaue-stein/
und „Der rote Fadenhttps://leselebenszeichen.wordpress.com/2017/04/27/der-rote-faden/

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Wer sich verändert, verändert die Welt

  • Für ein achtsames Zusammenleben
  • von Christophe André
  • Jon Kabat-Zinn
  • Matthieu Ricard
  • Pierre Rabhi
  • Herausgegeben von Ilios Kotsou und Caroline Lesire
  • Aus dem Französischen von Elisabeth Liebl
  • Kösel Verlag, Juli 2018 www.koesel.de
  • gebunden
  • Format: 13,5 x 21,5 cm
  • 224 Seiten
  • mit zahlreichen s/w-Fotos
  • 20,00 € (D), 20,60 € (A), 28,90 sFr.
  • ISBN 978-3-466-34736-0

GLÜCKLICHE  GENÜGSAMKEIT

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Ermutigungen tun gut. Angesichts einer bedrohten Welt sind Ermutigungen zu selbst-wirksamen Veränderungen, die wiederum heilsam auf die Welt ausstrahlen, erfreulich lebensdienlich.

»Eines Tages, so erzählt eine indianische Legende,
brach ein riesiger Waldbrand aus. Bestürzt und
ohnmächtig sahen die Tiere dem Wüten des Feuers
zu. Allein der kleine Kolibri machte sich zu schaffen
und flog immer wieder, um ein paar Tropfen Wasser
zu holen, die er aus seinem Schnabel auf die Flammen
fallen ließ. Nachdem das Gürteltier seinem unsinnigen
Treiben einige Zeit zugesehen hatte, rief es
ihm zornig zu: „He, Kolibri! Bist du eigentlich noch
ganz bei Trost? Mit deinen paar Tropfen Wasser
wirst du dieses Feuer niemals löschen!“ Daraufhin
blickte ihm der Kolibri geradewegs in die Augen und
sagte: „Kann sein. Aber ich tue, was ich tun kann.“  «
(Seite 11)

Mit der obig zitierten indianische Legende wird das Buch „Wer sich verändert, verändert die Welt“ eingeleitet.

Wir können und wir dürfen vom Kleinen zum Großen hin wirken. Achtsamkeitsübungen und Meditation sind dann keineswegs Weltflucht, sondern geistiges Muskeltraining gegen die mentalen Umweltgifte unserer Zeit. Wenn durch innere Sammlung, klärende Selbsterkenntnis und Präsenz sowohl unser Mitgefühl für uns selbst als auch unser Mitgefühl mit anderen Menschen und Mitgeschöpfen wächst, finden wir zu einem konstruktiveren Umgang mit den uns gegebenen Möglichkeiten und Bedingungen.

Im ersten Kapitel benennen die Herausgeber Ilios Kotsou und Caroline Lesire die unge-rechte Wirtschafts- und Sozialordnung, die Ausbeutung und Zerstörung von Natur, Tieren und Menschen, die Fehlentwicklungen und gefährlichen Umweltveränderungen in Hinsicht auf „Klimawandel, Abbau der Ozonschicht, Landnutzung, Süßwasserver- brauch, Verlust der Artenvielfalt, Übersäuerung der Ozeane, Stickstoff- und Phosphor- eintrag in Biosphäre und Meere, Aerosolgehalt der Atmosphäre, Belastung durch Chemi- kalien“ (Seite 33/34) sowie „die Irrwege der industriellen Fleischproduktion“ (Seite 35).

In den folgenden Kapiteln beschreiben Christophe André, Jon Kabat-Zinn und Matthieu Ricard u.a. anhand aktueller psychologischer Studien, wie Achtsamkeitspraxis und Meditation unseren Geist vor den schädlichen Ablenkungen, Zwängen und gewollten Frustrationen des Materialismus, der künstlichen Unzufriedenheit, des Zeitdrucks, des Egoismus und Konkurrenzdenkens schützen können und zugleich hinführen zu mehr Altruismus, Dankbarkeit, Einfachheit, Großzügigkeit, Heilung, Gemeinwohlorientierung und sozialer Verbundenheit sowie zu einem langfristigen Denken, das wesentlich größere Zusammenhänge einbezieht als das sekundenkurze Denken der globalen Finanzwelt.

Pierre Rabhi erweitert den Achtsamkeitsaspekt auf den Umgang mit der Erde und die Kultivierung von Humus, um die Lebenskraft und Fruchtbarkeit der Böden zu bewahren. Durch das kooperative Miteinander zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Natur kommen wir zudem einem zyklischen Zeitverständnis wieder nahe, finden zu „glücklicher Genügsamkeit“ und sind nicht länger bewußtlose Konsummarionetten auf der sinnlosen Jagd nach Selbstwertprothesen.

Die von den Autoren angeregte „Achtsamkeitsrevolution“ wirkt der Natur-  und Selbst-entfremdung entgegen, nährt und bestätigt die in uns angelegten Samen der Liebe, Güte und der Empathie und fördert unsere ganzheitliche Erkenntnisfähigkeit. Das harmonische Zusammenwirken von Geist und Herz führt zu mehr Gelassenheit und Zufriedenheit.

Jeder der Autoren verweist ergänzend auf für ihn vorbildliche Persönlichkeiten, die ihn inspirieren und wartet mit ganz praktischen, unkomplizierten Anregungen für den Lebensalltag auf.

Der Anhang zum Buch informiert kurz und bündig über vielfältige „Projekte, die die Welt bewegen“, nebst entsprechenden Linkadressen und Literaturhinweisen, wie beispiels-weise: www.colibris-lemouvement.org
www.siebenlinden.de
www.mbsr-verband.de
www.foodsharing.de
www.slowfood.de
www.slowfoodyouth.de

»Die Utopie zu leben, das heißt vor allen Dingen zu akzeptieren, dass etwas im Werden begriffen ist. Ein Geschöpf voller Achtsamkeit und Mitgefühl zu sein, ein Geschöpf, das mit seiner Intelligenz, seiner Fantasie und seinen Händen dem Lob des Lebens dient … « (Seite 157)

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPORBE auf der Verlagswebseite:
https://www.randomhouse.de/Buch/Wer-sich-veraendert-veraendert-die-Welt/Christophe-Andre/Koesel/e459714.rhd

Die Autoren:

»Christophe André ist Arzt, Psychiater und Autor erfolgreicher Bücher über die Kraft der Emotionen. Als einer der Ersten hat er Achtsamkeitsmeditation in die Psychotherapie integriert.«

»Jon Kabat-Zinn, emeritierter Professor für Medizin und Bestsellerautor, gilt als Vater der modernen Achtsamkeitsmeditation. Sein Programm MBSR (Stressbewältigung durch Achtsamkeit) wird weltweit unterrichtet.«

»Pierre Rabhi ist Poet, Philosoph und Begründer der Agro-Ökologie, einer von Menschlich-keit geprägten Landwirtschaft. Er entwickelt Projekte für Länder, die an Wassermangel leiden.«

»Matthieu Ricard, Naturwissenschaftler und anerkannter Fotograf, lebt seit über 25 Jahren als buddhistischer Mönch. Der Übersetzer des Dalai Lama setzt sich für zahlreiche humanitäre Projekte ein.«

 

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Der Tierigent

  • Text von Cornelia Boese
  • Illustrationen von Manuela Olten
  • Gerstenberg Verlag Juni 2019 www.gerstenberg-verlag.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 25 x 27 cm
  • 32 Seiten
  • durchgehend farbig
  • 14,00 € (D), 14,40 € (A), 19,50 sFr.
  • ISBN 978-3-8369-6025-0
  • Bilderbuch ab 4 Jahren

EIN  PLATZ  FÜR  DEN  SPATZ

Bilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

„Der Tierigent“ zeigt Kindern in heiteren Bildern und – dank des gelungenen vers-förmigen Begleittextes von Cornelia Boese – auch sprachmelodisch, die Vielsaitigkeit von Musikinstrumenten. Der Hauptcharakter, ein niedlicher Spatz mit einem festlichen Zylinder auf dem Köpfchen, weckt spontan Sympathie und Empathie, und man wünscht ihm unwillkürlich, daß sein unermüdlicher musikalischer Eifer zum Ziel führen möge.

Im Stadtpark auf der Freilichtbühne probt eine Schar von Tieren für ein Konzert. Der Spatz möchte gerne mitmusizieren, aber egal bei welchem Tier er nachfragt: keines traut ihm ein Instrument zu.

Bei den Streichern wird ihm gesagt, er sei zu klein, für die Holzblasinstrumente fehlten ihm die Tatzen, für die Blechblasinstrumente fehlte ihm der lange Atem, das Schlagzeug ist dem Spatz zu laut, und auch ein zartes Schnabelzupfen an der Harfe führt nicht zum gewünschten Erfolg. Und von seinem Spatzentschilp-Gesang wollen die Musikantentiere auch nichts hören.

Inzwischen hat sich ein kunterbuntes Publikum eingefunden, und der betrübte Spatz setzt sich ganz still dazu.

Illustration von Manuela Olten © Gerstenberg Verlag 2019

Das Konzert beginnt, doch von Wohlklang und Harmonie ist es weit entfernt. Alle spielen durcheinander und versuchen sich zu übertönen. Da hat der Fuchs ein weises Einsehen, bittet um Ruhe und erklärt, daß sie einen Leiter brauchten, der über Einsatz, Rhythmus, Ton und Takt bestimmt, und er wüßte da auch schon:

 „ein künstlerisch begabtes Tier,
 das alle Instrumente kennt.
 Herr Spatz, sei du der Dirigent!“

Hochmotiviert betritt der Spatz die Bühne, verbeugt sich und dirigiert als wahres Natur-talent mit beflügeltem Rhythmus die Vielfalt der Instrumente und Musiker zu einem harmonisch-klangvollen und fröhlichen Miteinander.

Illustration: Manuela Olten © Text: Corneilia Boese © Gerstenberg Verlag 2019

Im Anschluß an die Geschichte werden die beanspruchten vierzehn Musikinstrumente (Tuba, Horn, Trompete, Posaune, Fagott, Klarinette, Oboe, Querflöte, Schlagzeug, Harfe, Geige, Bratsche, Cello, Kontrabaß) auf einer Doppelseite noch einmal solo in Wort und Bild dargestellt.

Illustration von Manuela Olten © Gerstenberg Verlag 2019

Die Illustrationen von Manuela Olten geben der Handlung ein farbenfrohes und dynamisches Bilderbuchbühnenbild mit abwechslungsreichen, lustigen Tiercharakteren.

Diese tierisch musikalische Geschichte wird von Cornelia Boese in heiteren Reimen und Dialogen erzählt, so daß die Sprache selbst – sofern der geneigte Vorleser redlich mitmacht – auch als Instrument erklingen kann.

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.gerstenberg-verlag.de/Kinderbuch/Bilderbuch/Der-Tierigent.html?noloc=1

Die Autorin:

»Cornelia Boese, geboren 1970 in Würzburg, studierte an der Hochschule für Musik und arbeitete als Opernsouffleuse, Bühnenmusikerin und Kinderkonzertmoderatorin. Seit 2015 lebt sie als freischaffende Dichterin. Der Tierigent ist ihr drittes Buch bei Gerstenberg.« http://www.boesesouffleuse.de/

Die Illustratorin:

»Manuela Olten, geboren 1970, ist Fotografin und Diplom-Designerin. Sie studierte Illustration an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, wo sie heute noch lebt. Manuela Olten wurde mit dem Troisdorfer Bilderbuchstipendium und dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet und war für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.«

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Alte Sorten

  • von Ewald Arenz
  • Roman
  • Dumont Buchverlag   März 2019  www.dumont-buchverlag.de
  • gebunden
  • LESEBÄNDCHEN
  • 256 Seiten
  • ISBN 978-3-8321-8381-3
  • 20,00 € (D)

WACHSENDES  VERTRAUEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Literarische Figuren, die eine solch atmende Wahrhaftigkeit ausstrahlen wie in Ewald Arenz‘ Roman „Alte Sorten“ haben Seltenheitswert.

Es ist Spätsommer, und die siebzehnjährige Sally wandert einen Weinberg hinauf. Sie verfolgt kein Ziel; sie will einfach nur weg, weg von der Klinik, in der ihre Magersucht geheilt werden soll, weg von den Menschen, die sie nicht in Ruhe und nicht so sein lassen wollen, wie sie ist, und Sallys Wut mit ihrer therapeutischen Sanftmut erst recht zur Weißglut treiben. Noch scheint ihre Flucht nicht aufgefallen zu sein, und Sally überlegt, ob sie sich zutraut, draußen in der Natur oder vielleicht in einer Scheune im Heu zu übernachten.

Die Landwirtin Liss ist zwischen ihren Weinstöcken mit dem Anhänger ihres Traktors in einer Rinne stecken geblieben und fragt Sally, ob sie ihr kurz helfen könne, das Rad zu befreien. Sally ist von dieser direkten Frage und einfachen Bitte angenehm überrascht und packt unwillkürlich mit an. Nachdem der Wagen wieder an den Traktor angekuppelt ist, bietet Liss Sally spontan eine Übernachtung auf ihrem Hof an.

Sally wundert sich, aber sie nimmt das Angebot mit mißtrauischer Dankbarkeit an. Am nächsten Morgen – Liss ist längst mit Hofarbeiten beschäftigt – findet Sally auf dem Küchentisch eine abgedeckte Schale mit kleingeschnittenem Obst, Nüssen und Honig sowie eine Kanne mit schwarzem Tee. Als Sally vorsichtig vom Obst nascht, schmecken ihr die Birnenstückchen überraschend gut.

Sally, das Stadtkind, bleibt auf dem Bauernhof und findet schnell Gefallen am Land- leben. Sie hilft Liss bei der Kartoffel- und Obsternte, beim Holzstapeln, bei der Bienen- pflege und beim Brotbacken. Liss ist Mitte bis Ende vierzig, sie ist groß und stark und bewirtschaftet ihren Hof alleine; offensichtlich leisten ihr außer einer Schar Hühnern nur noch unzählige Bücher Gesellschaft. Sallys Fragen nach ihrer Vergangenheit weicht sie aus.

Beide Frauen haben enttäuschende, schlechte, verletzende Erfahrungen mit zwischen-menschlicher Nähe gemacht, beide lieben ihre Freiheit, reagieren allergisch auf Manipu-lationsversuche und verhalten sich gewohnheitsmäßig eher spröde bis abweisend. Aus regelmäßigen Erinnerungsrückblenden erfahren wir nach und nach von ihren jeweiligen biographischen und emotionalen Werdegängen.

Naturerfahrungen, die körperlich anstrengende, gleichwohl sichtbar-sinnerfüllte Arbeit, die einfachen Speisen und die Freiheit, die Liss Sally läßt, führen dazu, daß Sally wieder Geschmack am Leben findet, daß sie besser geerdet ist und zu sich findet. Liss, die sich in ihrer Einsamkeit eingerichtet hat und eingeschmiegt in die Gesetzmäßigkeiten der Jahreszeiten alle notwendigen Landarbeiten mit meditativer Präzision erledigt, empfindet zaghafte Freude an der Gesellschaft und an der lebhaften Mithilfe und Wißbegier von Sally.

Die Entwicklung des für beide Frauen ungewohnten zwischenmenschlichen Vertrauens verläuft keineswegs reibungslos. Die beiden Außenseiterinnen ringen oft um Worte und Erklärungen, bewegen sich aufeinander zu und entfernen sich wieder. Es gibt Mißver-ständnisse und unbeabsichtigte Verletzungen, und besonders Sallys jugendlicher Zorn ist vorschnell, oft maßlos und durchaus anstrengend, doch auch Liss‘ besonnene, lebenserfahren-selbstreflektierte Wesensart hat – in Anbetracht ihrer nicht undrama- tischen Lebensgeschichte – Grenzen, die nicht überstrapaziert werden dürfen.

Hier begegnen sich zwei Seelenverwandte, deren vorsichtige Öffnung und wechsel- seitige Zuneigung sich durch alte Wunden, Krusten, Narben, Ängste und Vermeidungs- strategien kämpfen müssen. Liss rettet Sally das Leben, indem sie ihr den Raum läßt, wirklich zu werden und ein ungezwungenes Miteinander zu erfahren.

Es bleibt nicht aus, daß andere Menschen sich störend einmischen, denn Sally wird ja polizeilich gesucht … Diese Einmischung und die damit verbundenen Konsequenzen stürzen Liss in eine existenzielle Sinnkrise, aus der sie wiederum von Sally gerettet wird.

Am Ende steht eine sturmerprobte Freundschaft, die für Liss und Sally deutlich kon- struktivere und zuversichtlichere Lebensweichenstellungen möglich macht.

Ewald Arnez gelingen in diesem Roman nicht nur sehr überzeugende, einfühlsame Psychogramme und feinsinnige Sprachbilder für alle Gefühlslagen, sondern er schafft dabei auch eine greifbar sinnliche, ebenso poetische wie handfest-elementare ländliche Atmosphäre. Man spürt den Sommer auf dem Lande beim Lesen, man riecht, schmeckt, hört und fühlt mit. Eine Textpassage aus einer Szene im Obstgarten, in der Sally ver-schiedene Birnensorten verkostet, möge diese ansprechende literarische Sinnlichkeit illustrieren:

„Sally schnitt sich diesmal ein größeres Stück ab. Sie wollte das Rot und das Weiß schmecken. Es war schwer, ein Wort für diese Mischung aus fest und zergehend zu fin-den, die das Fleisch im Mund hatte. Und sie meinte, das Rot süßer zu schmecken und im Weiß eine winzige Spur Bitterkeit, und zusammen war es ein Geschmack, der … vielleicht würde Sonnenlicht so schmecken, wenn es nach einem langen Sommer durch das weite Blau des Himmels und dann durch das alte Grün hoher Bäume direkt auf die Zunge fiele.“ (Seite 114)

Die buchgestalterische Aufmachung des Romans korrespondiert optisch und haptisch mit der Sinnlichkeit des Textes. Das leicht angeraute an grobes Leinen erinnernde Ein- bandpapier und die mit glänzendem Prägedruck aufgebrachte botanische Illustration eines fruchtenden Birnbaumzweiges sowie der zarte Sonnenstrahl des leuchtend gelben Lesebändchens geben einen stimmigen Vorgeschmack auf die Lektüre.

„Alte Sorten“ ist ein bemerkenswerter Roman voller lebenszärtlicher Betrachtungen, inniger Naturverbundenheit und beiläufiger, gleichwohl eindrucksvoller Weisheit und berührender Herzenstiefe.

„Es war so selten, dass die Dinge im Gleichgewicht waren. Ohne Glück und ohne Trauer. Oder anders: dass Glück und Traurigkeit in einem so in der Schwebe waren, in so einer perfekten Balance, dass man sich nicht bewegen wollte. Vielleicht fühlten sich Seil- tänzer so, wenn sie hoch oben waren, in dem einen Moment, in dem eine gerade Linie genau durch die Mitte des Körpers geht und genau durch die Seele des Seils und bis zum Boden und dann bis zum innersten Kern der Erde; in dem einen bewegungslosen Moment der Mitte.“ (Seite 127)

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der  Verlagswebseite:
http://www.dumont-buchverlag.de/buch/arenz-alte-sorten-9783832183813/
Hier entlang zur inzwischen erschienenen Taschenbuchausgabe:
https://www.dumont-buchverlag.de/buch/tb-arenz-alte-sorten-9783832165307/

Hier entlang zu Bris Rezension, die mich dankenswerterweise als erste auf Ewald Arenz‘ Roman aufmerksam machte: https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2019/05/19/der-eine-bewegungslose-moment-der-mitte/

Der Autor:

»Ewald Arenz, 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Der Autor lebt mit seiner Familie in der Nähe von Fürth.«

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