Vom Krähenjungen

  • von Sonja Kettenring
  • Roman
  • Edition W GmbH, Februar 2024  www.edition-w.de
  • gebunden
  • 224 Seiten
  • Format: 13 x 21  cm
  • 24,00 € (D), 24,70 € (A)
  • ISBN 978-3—949671-1-4

9783949671104 Vom Krähenjungen

T I E F K Ü H L G E F Ü H L E

Rezension von Ulrike Sokul ©

Dieser Roman hat eine unheimliche Lesesogwirkung, und zwar eine buchstäblich unheimliche.

In Moosbruck, einem kleinen Dorf in der Nähe Münchens, meiden alle den Waldsee, der im Winter niemals zufriert. Der Sage nach ist dieser See in einer Wintersturmnacht mit Gewitter und zahlreichen Blitzeinschlägen sowie nachfolgendem Starkregen plötzlich entstanden, und auf dem Grunde des Sees brenne immer noch das von den Blitzen ausgelöste Feuer.

Nur einer schwimmt furchtlos in diesem See, der sogenannte Krähenjunge, der Groß- neffe von Edgar, dem der Lechnerhof in der Nähe des Sees gehört. Der Krähenjunge heißt mit bürgerlichem Namen Samuel, und als Kind ist er nur gelegentlich zu Besuch im Dorf. Niemand will etwas mit dem Krähenjungen zu tun haben, alle haben Angst vor seinen dunklen, dunklen Augen mit dem Blick eines viel älteren Menschen und vor seinem Lächeln.

Sein Großvater hatte einst die dörfliche Bäckereiverkäuferin Anna (Edgars Schwester) vom Fleck weg geheiratet und mit nach München genommen. Anna bekam eine Tochter, und die Dörfler munkelten, daß dies dem Münchner gewiß nicht gefallen habe, denn er sei einer, der einen Sohn bevorzuge. Später bekam Annas Tochter Zwillinge: Raffael und Samuel.

Inzwischen ist Samuel Anfang Zwanzig, und er kehrt nach längerer Abwesenheit und dem Tode Edgars zurück ins Dorf und zieht im Lechnerhof ein. Die alten Frauen bekreuzigen sich und greifen nach dem Rosenkranz, wenn von ihm die Rede ist.

Karoline, alleinerziehende Mutter der fünfjährigen Emmi, arbeitet als Verkäuferin in der Dorfbäckerei und wird von ihrer Chefin eindringlich darauf hingewiesen, sich vom Krähenjungen fernzuhalten. Doch Samuel betritt die Bäckerei, verlangt zwei Rosinen-brötchen – und Karoline ist verloren. Seltsam ferngesteuerte wie auf vorbestimmten Bahnen festgelegte zwangswiederholungshafte Entwicklungen nehmen ihren tragischen und tödlichen Verlauf. Nur ein winziger Lichtschimmer öffnet sich ganz zum Schluß.

Dieser Roman wird aus unterschiedlichen Personenperspektiven erzählt. Puzzlestück für Puzzlestück setzt sich langsam ein ganzes Bild zusammen, bei dem indes bis zum Schluß ungesagte Leerstellen bleiben. Die Hauptfiguren kommen oft zu Wort und manche Personen nur einmal, so beispielsweise verschiedene ehemalige Mitschüler Samuels, die eine bestimmte Facette seines verschlossenen Wesens aus ihrem Erleben beschreiben. Stets geht dabei von Samuels Präsenz eine unerklärliche, dunkle, fast suchtauslösende Anziehungskraft und hörbare Stille aus.

Die Passagen, in denen der Krähenjunge selbst erzählt, sind im Buch mit einer Krähen-vignette markiert. Obwohl Samuel nur wenige Details klar und deutlich benennt und sich in kryptischen Andeutungen ergeht, erfährt man, daß er von seinem Großvater einem rigorosen Überlebenstraining unterzogen wurde.

Samuel kann in eiskaltem Wasser schwimmen, er kann jagen und Wild zerlegen, Hunger, Durst und Schmerzen aushalten. Der Großvater ist zwar inzwischen gestorben, wirkt aber nach wie vor wie ein böser Geist in ihm. Samuel sehnt sich zutiefst danach, von dieser verfluchten, großväterlichen Willensüberwältigung frei zu werden, ja, eigentlich möchte er aufhören zu sein. Doch die lieblose traumatische familiäre Verstrickung hält ihn fest in ihrem Bann. Egal, welche waghalsigen Risiken Samuel eingeht, stets überlebt er die lebensgefährlichen Situationen, in die er sich absichtlich begibt, um sich von diesem fremdbestimmten Leben und Leiden zu befreien.

Der Schreibstil der Autorin ist sehr atmosphärisch und eindringlich, der See und der Wald in dieser Geschichte sind gewissermaßen von menschlicher Bosheit vergiftet, ja, denaturiert. Es ist keine angenehme Atmosphäre, es gibt nur wenige Lichtblicke, und während der Lektüre wurde mir andauernd kalt.

Karoline und Samuel sowie einige Nebenfiguren sind Marionetten unausweichlicher Verstrickungen, und ihre Gefühlsskala kann ich nur als tiefgekühlt oder schockgefrostet beschreiben. Und auch die Dorfbewohner, die als Zuschauer der Tragödie fungieren, sind mir zu ängstlich, ohnmächtig, unterwürfig und zu willenlos. Alle Personen, die sich auf den Krähenjungen näher einlassen, werden in buchstäbliche Mitleidenschaft gezogen, und manche  finden – wenn auch von Samuel unbeabsichtigt – den Tod. Ich sage es ganz offen: Obwohl es fiktive Charaktere sind, hätte ich ihnen gerne eine systemische Familientherapie verordnet!

Emmi, mit ihrer Hellsichtigkeit und ihrer kindlichen Unbefangenheit, Dinge einfach an- und auszusprechen, ist eine der wenigen Lichtgestalten in diesem Buch. Die Erwachsenen verschweigen zu viel, doch das Verschweigen macht das Geschehene nicht ungeschehen, im Gegenteil, es evoziert unweigerlich eine beinahe archaische Reininszenierung, um endlich ans Licht zu kommen.

Obwohl mich die magische Anziehungskraft der dunklen menschlichen Seite und bös-williger charakterlicher Abgründe abschreckt, nahmen mich diese Schattenfiguren, Düsterwälder und vergifteten emotionalen Gewässer beim Lesen unwillkürlich gefangen. Die Sprache und die außergewöhnliche erzählerische Dramaturgie dieses Romans entfalten einen bemerkenswerten Lesemagnetismus, der noch lange nachhallt.   

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://westendverlag.de/Vom-Kraehenjungen/2060

Hier entlang zu einer weiteren Rezension aus der Feder des bloggenden Buchhändlers Hauke Harder: Leseschatz Sonja Kettenring Vom Krähenjungen

Die Autorin:

»Sonja Kettenring, 1978 in Heidelberg geboren, lebt im Kraichgau. Sie studierte Wirtschaftsinformatik, entwickelte Software und lernte, wie man Programmcode von überflüssigem Ballast befreit. Eine Fähigkeit, die sich auch auf das Schreiben von Geschichten positiv auswirkt. Geschichten schreibt sie mittlerweile viel lieber als Programme.«

Feuchtgebiete

HIMMEL, ARSCH UND ZWIRN!

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Zu  „Feuchtgebiete“  möchte ich gerne ein Zitat von Arno Schmidt wiedergeben:
„Der Mensch ist eine Mischung aus Scheiße und Mondschein.“
Auf Mondlicht warten wir bei diesem Buch indes vergeblich!

Helen, ein18-jähriges Scheidungskind, das die innere Liebesleere mit Sex zustopft, liegt im Krankenhaus. Sie hat sich bei der Intimrasur geschnitten und eine Analfissur erlitten. Da liegt sie nun allein mit ihren Schmerzen, langweilt sich und läßt ihre Gedanken um ihre angeblich geilen, sexuellen Gewohnheiten kreisen. Das macht sie sehr anschaulich und unverblümt. Sie offenbart eine anal- und genitalfixierte, rohe, zärtlichkeitsferne und im Grunde beziehungslose Sexsucht.

Neben ihrem fast wahllosen Einsamkeitsverdrängungssex kultiviert sie eine trotzige Antiintimhygiene. Ekeleffekthascherisch kommen alle erreichbaren Körpersekrete, in frischer und abgelagerter Konsistenz, auf die Speisekarte. Dazwischen tropft sie noch ein paar Scheidungstraumatränen, damit sich in den Lesewiderwillen doch noch ein wenig Mitleid mischt. Dabei erspare ich Ihnen hier die Avocadokernnummer.

Diese ganze penetrante Sexbesessenheit ist so lustvoll wie Stacheldraht, so sinnlich wie Urinstein und so erotisch wie Schmirgelpapier.

Daß die breite Masse auf ein Tabubrechmittel hereinfällt, ist nicht erstaunlich, aber die positiven Kommentare von bekannten Intellektuellen auf der Buchrückseite haben mich doch sehr befremdet. Wahrscheinlich ist das, insbesondere im Falle von Roger Willemsens Lobgehudel, kuschelkollegiale Strategie: Ich lobe dein Buch, dann lobst du mein Buch und dann lobst du meine Sendung und ich deine usw.

Außerdem glaube ich, daß dieses Buch mit ganz kühlem, marktorientiertem Kalkül verfaßt wurde und nicht aus irgendeinem Bekenntnisbedürfnis. Nun denn, so gibt es ein weiteres Buch, das ein drastisches Beispiel für die Entsinnlichung unserer Gesellschaft bietet und die Autorin finanziell überaus bereichert. An betriebswirtschaftlicher Inspiration fehlt es Frau Roche jedenfalls nicht.

Meine Empfehlung: als Klopapier benutzen, dann finden Form und Inhalt zu unübertrefflicher Kongruenz – obwohl, wenn ich es recht bedenke: solche Blätter haben ziemlich scharfe Schnittkanten, und man könnte sich verletzen und sogar eine Analfissur provozieren… Ach ne, und dann geht die ganze Geschichte wieder von vorne los (oder doch von hinten?).

Dann doch lieber zum Altpapier geben und dem unschuldigen Werkstoff die Chance auf eine Wiedergeburt in einem besseren Buch ermöglichen.

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/feuchtgebiete-9783548280400.html

Die Autorin:

»Charlotte Roche wurde 1978 in High Wycombe/England geboren und wuchs in Deutschland auf. Für ihre Arbeit als Fernsehmoderatorin u.a. für Viva, arte und das ZDF wurde sie mit dem Grimme-Preis und dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Charlotte Roche lebt in Köln, sie ist verheiratet und hat ein Kind. Sie veröffentlichte die Romane ›Feuchtgebiete‹ (die Originalausgabe erschien bei DuMont im Frühjahr 2008) und ›Schoßgebete‹ (2011).«

Querverweis:

Dieser Verriß ergänzt sich mit meinen Verriß von »Blaue Blumen« Blaue Blumen
sowie mit meiner therapeutischen Abrechnung mit  »Alle meine Wünsche« von Grégoire Delacourt
Alle meine Wünsche
und mit der liebesleeren Eiszeitlektüre »Dieses klare Licht in den Bergen«
Dieses klare Licht in den Bergen

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