Gesang der Fledermäuse

  • Roman
  • von Olga Tokarczuk
  • Originaltitel: »Prowadź swój pług przez kości umarłych«
  • aus dem Polnischen von Doreen Daume
  • Kampa Verlag 2019 www.kampaverlag.ch
  • gebunden
  • 320 Seiten
  • 24,00 € (D), 24,70 € (A), 32,50 sFr.
  • ISBN 978-3-311-10022-5

RÜCKLÄUFIGER   MERKUR

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Janina Duszejo lebt in einer kleinen Siedlung auf einem extrem windigen Hochplateau, nahe der polnisch-tschechischen Grenze. Die meisten Häuser dienen nur als Sommer-residenz betuchter Städter, da der Winter in dieser Einöde sehr lang, sehr, sehr schnee-reich und sehr, sehr, sehr kalt ist. Nur Janina, ihr akkurater Nachbar Magota und ihr brutaler Nachbar Big Foot bleiben auch über den Winter dort.

Janina war einst Brückenbauingenieurin. Krankheitsbedingt wechselte sie in den Lehr- beruf und unterrichtete Englisch als Fremdsprache, was ihr durchaus Freude machte. Inzwischen hütet sie in der Wintersaison die verlassenen Häuser der abwesenden Nach-barn und entfernt bei ihren regelmäßigen Rundgängen durch den Wald heimlich die Drahtschlingenfallen, die ihr Nachbar Bigfoot zum Wildern auslegt.

Sie pflegt freundschaftlichen Kontakt mit Dyzio, einem ehemaligen Englischschüler, dem sie bei seinen Übersetzungen von William-Blake-Texten ins Polnische hilft. Einmal pro Woche macht sich Dyzio auf den im Winter mühsamen Weg von der Stadt zum Hoch- plateau, Janina kocht etwas Leckeres, sie befassen sich mit der Übersetzung und unterhalten sich angeregt.

Immer wieder wird deutlich, wie sehr Janina unter dem achtlosen Umgang der Men- schen mit der Natur und den Tieren leidet; dabei changiert ihre Betroffenheit zwischen weiß-glühendem Zorn und dunkler Trauer. Sie verfügt über einen ganzheitlichen Blick auf das Leben und eine durchdringende Menschenkenntnis, die durch die ernsthafte Beschäftigung mit Astrologie eine faszinierende Ergänzung findet.

Eines Nachts wird Janina von ihrem Nachbarn Magota aus dem Schlaf gerissen, da er die Leiche von Big Foot gefunden hat. Der Tote liegt auf seinem schmuddeligen Küchenbo-den, erstickt an einem Rehknochen, der ihm im Halse stecken geblieben ist. Zwar hegte Janina alles andere als Sympathie für den tierquälerischen Nachbarn und empfindet dabei seine Todesart sogar als ausgleichende Gerechtigkeit, dennoch hat sie zugleich ein allgemein menschliches Mitgefühl mit seiner Sterblichkeit.

Die Polizei bewertet den Tod von Big Foot als Unfall, und Janinas Auffassung, daß er auf gewundenen Wegen an der Rache der gequälten Tiere gestorben sei, wird nur verächt- lich belächelt. Daß sie außerdem astrologische Berechnungen zum Todeszeitpunkt und zur Todesart anführt, macht ihre Betrachtungsweise für die Polizei erst recht unglaub- würdig. Nun, Janina läßt sich davon nicht entmutigen, sie recherchiert einfach weiter.

Wenig später gibt es einen weiteren Toten, an dessen Fundort sich auffällig zahlreiche Rehspuren im Schnee befinden. Außerdem trägt der Tote sehr viel Bargeld bei sich, was aus Polizeiperspektive Vermutungen auf mögliche mafiöse Verbindungen nahelegt. Janina bleibt indes stur bei ihrer Theorie ausgleichenden Naturrechts und findet Parallelen zum Tod von Big Foot. Tapfer folgt sie Spuren, die gewöhnliche Menschen nicht wahrnehmen …

Die Sprache der Autorin ist niveauvoll und facettenreich und wird durch das astrologische Vokabular sinnvoll ergänzt und bereichert. Für Leser, die allerdings nicht mit der Systematik und Symbolik der Astrologie sowie mit den dazugehörigen psychologischen Archetypen vertraut sind, könnten die Textpassagen mit den Horoskopbeschreibungen willkürlich und unver-ständlich wirken.

Auf jedes Kapitel wird mit einem William-Blake-Zitat eingestimmt. Obwohl sich die Handlung über ein ganzes Jahr erstreckt und der Wechsel der Jahreszeiten die landschaftliche Kulisse verändert und begrünt, wirken die Szenerien stets wie Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit einigen Tupfern beleben- den Rots, also ähnlich, wie der Kampa-Verlag die Titelbildgrafik gestaltet hat. Zwar gibt es den literarischen Begriff  „In-Schwarz-Weiß-geschrieben“ nicht, aber hier erscheint er mir angebracht.

Dieser außergewöhnliche Roman verbindet kriminalistische Spannung mit philosophischen Betrachtungen zur Stellung des Menschen in Natur und Ge- sellschaft. Einerseits finden wir hier schmerzhaft-glasklare Psychogramme einiger recht unangenehmer Zeitgenossen, andererseits auch einen feinen, schelmischen Humor sowie eine anrührende Zärtlichkeit gegenüber Tieren und tiefe Demut vor der Natur.

 

»Jede unserer Taten, in winzige Vibrationen der Photonen verwandelt, fliegt letztlich in den Kosmos, wie ein Film, und die Planeten werden sie bis ans Ende der Tage ansehen.« (Seite 54)

»Die Tiere sagen etwas über das Land. Die  Beziehung zu den Tieren verrät, wie es um das Land bestellt ist. Wenn sich die Menschen den Tieren gegenüber bestialisch ver-halten, dann hilft ihnen keine Demokratie und auch sonst nichts.« (Seite 120)

»Die Welt ist ein großes Netz, eine Ganzheit, und es gibt nichts, was nicht dazugehört. Auch das allerkleinste Stückchen Welt ist mit anderen verbunden, durch den kompli-zierten Kosmos der Korrespondenz, der mit dem normalen Verstand nicht leicht zu ergründen ist.« (Seite 71)

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://kampaverlag.ch/der-gesang-der-fledermaeuse/

 

Die Autorin:

»Olga Tokarczuk,  1962 im polnischen Sulechóv geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Sie zählt zu den bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen über-setzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für die „Jakobsbücher“, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, ausgezeichnet und 2018 mit dem Jan-Michalsky-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für „Unrast“ (im Frühjahr 2019 im Kampa Verlag erschienen) für den sie auch 2019 wieder nominiert war: Ihr Roman „Der Gesang der Fledermäuse“ stand auf der Shortlist. 2019 wurde Olga Tokarczuk mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet. Zum Schreiben zieht sich Olga Tokarczuk in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.«

 

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