Zwischen zwei Sternen

  • von Becky Chambers
  • Roman
  • Originaltitel: »A Closed and Common Orbit«
  • Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karin Will
  • Wayfarer-Universum Band 2
  • Fischer TOR Verlag   Februar 2018  www.tor-online.de
  • Taschenbuch
  • 464 Seiten
  • 9,99 € (D), 10,30 € (A)
  • ISBN 978-3-596-03569-4

INTERGALAKTISCH

Buchbesprechung  von Ulrike Sokul ©

Wie ich in der Besprechung des ersten Bandes aus dem Wayfarer-Universum schon an- gekündigt hatte, gewährt uns der zweite Band einen ausführlichen Blick in das Leben der Technikerin Pepper. Doch zuvor bedarf es eines kurzen Rückblicks zum Ausgang des ersten Bandes.

Die Wayfarer ist ein Tunneler-Schiff und bohrt im Auftrag der GU (Galaktische Union) an bestimmten Koordinaten stabilisierte Wurmlöcher ins All. Bei der letzten Bohrung wurde die Wayfarer von einem Raumschiff der kriegerischen Toremi mit einer Strahlen- dosis beschossen, wodurch es zu einem katastrophalen Kaskadenversagen kam, in dessen Folge die empfindungsfähige KI des Raumschiffs kollabierte. Das Wurmloch konnte nicht stabilisiert werden, und es gelang den vereinten Kräften der Crew nur knapp, das beschädigte Schiff aus der Gefahrenzone zu manövrieren.

In all den Jahren der Zusammenarbeit ist die KI der Besatzung ans Herz gewachsen, sie wird von allen liebevoll mit dem Spitznamen „Lovey“ angesprochen, und der Comptech Jenks ist sogar in die KI verliebt. Jenks hatte vor dem letzten Bohrauftrag seine alte Freundin Pepper gebeten, ein Bodykit für Lovey zu beschaffen, um sie eines Tages vom Schiff in einen mobilen Körper zu transferieren.

Der Neustart der KI-Systeme birgt die Gefahr, daß die alte „Lovey“ mit ihrer im Aus-tausch mit der Crew geformten Persönlichkeit gelöscht wird und nur das jungfräuliche Startprogramm einer Schiffs-KI übrig bleibt. Genau dies geschieht, doch da Jenks die vage Hoffnung hegt, daß die alte Lovey in der neuen Lovey datenspeichermäßig wieder-erwacht, bittet er Pepper, die neue Lovey  im Bodykit mitzunehmen und sich um sie zu kümmern. Das ist zwar illegal, denn die Gesetze der GU verbieten sogenannte „Mime-tische KI-Gehäuse“, aber Pepper kümmert das wenig, und sie reist mit der KI auf den neutralen Planeten Port Coriol, wo sie einen Schrott- und Reparaturladen betreibt.

Die KI sucht sich den neuen Namen Sidra aus und kämpft sich durch den reduzierten Wahrnehmungshorizont eines „menschlichen“ Körpers. Als multitaskingfähige Schiffs-KI wurde sie darauf programmiert, stets alles über diverse Kameras rundum im Überblick zu behalten, jede Bewegung und jede Veränderung zu registrieren und auszuwerten, was angesichts der räumlichen Unbegrenztheit und der unendlichen Detailfülle eines mulitispeziär besiedelten Planeten und des organisch-eingeschränkten Blickwinkels einer menschlichen Körperkonstruktion eine kognitive Herausforderung darstellt.

Pepper steht Sidra hilfreich zur Seite, und sie findet auch nach und nach technische Lösungen für Sidras Anpassungsschwierigkeiten. Besonders gefährlich und kniffelig ist ein internes Protokoll, daß es Sidra unmöglich macht, zu lügen oder direkte Handlungs- aufforderungen zu übergehen.

Als Sidra fragt, warum Pepper das Risiko eingehe, eine KI bei sich zu Hause aufzuneh-men, antwortet Pepper, daß sie etwas gutzumachen habe, denn sie sei von einer KI großgezogen worden.

In Rückblenden erfahren wir nun von Peppers Lebenslauf. Pepper wurde auf dem Plane-ten Aganon geboren bzw. gezüchtet. Auf Aganon befindet sich die letzte Kolonie der Bewegung „Bessere Menschheit“, die wegen ihrer extremen klassengesellschaftlichen Orientierung aus der GU ausgeschlossen wurde. Die Verbesserer manipulieren die Gene entsprechend der gesellschaftlichen Rolle und der Arbeit, die ein Mensch später ausfüllen soll. Menschen, die für niedere Arbeiten als Arbeitssklaven gezüchtet werden, bekommen nur zwei Genmanipulationen: Sie haben keine Körperbehaarung und sie sind unfruchtbar.

Damals hieß Pepper Jane 23, sie war eine von vielen Janes einer Generation, die in einer riesigen Fabrik Schrott säubern und wiederverwertbare Teile aussortieren. Erzogen und bewacht werden die Janes von maschinellen Müttern ohne Gesicht, sie lernen nur die Sachverhalte und Wörter, die für ihre Arbeitsaufgaben gebraucht werden. Jedes Jahr bekommen sie etwas anspruchsvollere Schrottaufgaben und ziehen in einen anderen Teil der Fabrik um.

Jede Jane hat eine dauerhafte Schlafpartnerin, da die „Mütter“ der Ansicht sind, daß diese Form der Nestwärme und zwischenmenschlichen Nähe für die Janes gesundheits-förderlich sei. Jane 23 teilt sich mit Jane 64 das Bett, und die beiden verstehen sich gut und haben einander wirklich gern.

Jane 23 findet Gefallen an ihrer Arbeit, sie ist aufgeweckt und tüftelt sich gerne durch schwierige Schrotteile, wofür sie von den Müttern gelobt wird. Als Jane zehn Jahre alt ist, kommt es zu einer Explosion, bei der einige Janes sterben und viele verletzt werden. Jane 23 erblickt durch die aufgerissene Fabrikwand zum ersten Mal den blauen Himmel und die unendliche Schrotthaldenlandschaft außerhalb der Fabrik. Dies macht einen solch nachhaltigen Eindruck auf sie, daß sie nach einigen Tagen heimlich nächtens gemeinsam mit Jane 64 in die Fabrikhalle zurückgeht, um Jane 64 den blauen Himmel zu zeigen.

Diesmal ist der Himmel zwar nicht blau, sondern schwarz, aber dafür voller silbrig funkelnder Lichter und Monde, was Jane 23 nicht minder fasziniert, und sie traut sich einige Meter nach draußen, während Jane 64 noch zögert. Jane 23 geht noch etwas weiter, bis eine Mutter auftaucht, Jane 64 festhält und Jane 23 befiehlt, sofort zurück-zukommen. Jane 23 schwankt kurz zwischen ihrer Anhänglichkeit an Jane 64 und ihrem Freiheitsdrang, und als Jane 64 ihr zuruft „Lauf!“, da läuft sie und läuft und läuft, und sie wird nicht verfolgt.

Nach einer Weile wird Jane 23 jedoch von wilden Hunden gejagt und ist fast am Ende ihrer Kräfte, nur reiner Überlebenswille hält ihre Beine in Bewegung. Plötzlich hört sie eine Stimme, die ihr zuruft, sie solle zu ihr laufen, sie könne sie beschützen. Jane sieht ein altes Shuttle aufleuchten und eine geöffnete Tür. Sie erreicht das Shuttle, die Tür schließt sich hinter ihr und die Hunde bleiben draußen.

Das Shuttle verfügt über Solarzellen, und deshalb hat es ausreichend Energie, um die schiffseigene KI sowie einige Bord-Funktionen aktiv zu halten. Die KI hat den Namen Eule und kümmert sich fortan um Janes Schutz und Bildung. Es gibt noch brauchbare Vorräte, Medikamente, Kleidung, Werkzeuge, ein Wasserfiltersystem usw.

Eules einfühlsame Erziehung eröffnet Jane neue Horizonte, sie erfährt von anderen Planeten, Spezies und Gesellschaftsformen, sie lernt lesen und schreiben, und ihr Wort-schatz erweitert sich beträchtlich. Denn in der Fabrik gab es nur gutes und schlechtes Benehmen, falsch und richtig sowie mechanisch-technisch-physikalische Adjektive, jedoch keine differenzierten Gefühlsausdrücke. Wieviel Welterschließung und Selbster-kenntnis in Worten liegt, wird bei Janes Wortschatzwachstum sehr anschaulich und anrührend deutlich.

Jane bringt technisches Grundwissen mit und unerschöpfliche Wißbegier, und sie beginnt kleinere Reparaturen am Shuttle vorzunehmen. Die unendliche Schrotthalde hat den Vorteil, daß genügend Ersatzteile und brauchbare Materialien zur Verfügung stehen, und den Nachteil, daß dort außer einem eßbaren Pilz keine Nahrungsmittel wachsen. Außerdem muß Jane aus einiger Entfernung Wasser herbeiholen, was wegen der wilden Hunde gefährlich ist. Mit Eules Hilfe baut sich Jane eine Waffe und kann sich erfolgreich gegen die Hundeangriffe verteidigen.

Eule ermutigt Jane, das Shuttle zu reparieren, damit sie den Planeten verlassen und den Einflußbereich der GU erreichen können. Es dauert neun Jahre, bis Jane das Shuttle soweit in Stand gesetzt hat, daß man damit fliegen kann. Treibstoff organisiert sie von einem in größerer Entfernung befindlichen Frachtdrohnenlandeplatz, wo der Schrott abgeladen wird. Dort findet sie in Laurian, einem Wachmann, einen unerwarteten Ver-bündeten. Laurian war eigentlich für eine Führungskraftrolle gezüchtet worden, wegen seines Stotterns wurde er dann jedoch aussortiert und zum Wachdienst versetzt.

Jane, Laurian und Eule gelingt die Flucht, und sie werden von der GU aufgenommen. Das Shuttle, inklusive der integrierten KI, wird allerdings beschlagnahmt, da es gegen diverse Raumflugsicherheitsvorschriften verstößt – Bürokratie ist wahrlich universell.

Auf dem Planeten Port Coriol beginnen Jane und Laurian miteinander ein neues Leben. Jane nennt sich fortan wegen ihrer Begeisterung für Gewürze Pepper und Laurian nennt sich Blue. Pepper arbeitet weiter als Schrott- und Reparatur-Technikerin, und Blue wird Maler.

Niemals gibt Pepper die Suche nach dem Verbleib des alten Shuttles auf, weil die Ki-Eule für sie gleichsam ein Familienmitglied ist. Eines Tages erhält sie die Information, daß ihr altes Shuttle in einem „Museum für interstellare Migration“ gestrandet sei …

Die Rückblenden in Janes/Peppers Kindheit und Jugend wechseln sich ab mit den Erfah-rungen Sidras auf Port Coriol. Das ergibt interessante Perspektivwechsel. Jane wird von der KI-Eule in Hinsicht auf das Leben mit Menschen und anderen Spezies geschult, u.a. durch das Erlernen der Sprache Klip, der gemeinsamen Sprache aller GU-Mitglieder, und durch kosmopolitischen Biologie- und Geschichtsunterricht.

Umgekehrt bemüht sich Pepper, die KI-Sidra mit dem wirklichen Leben und echten zwischenmenschlichen Interaktionen vertraut zu machen. Theoretisches Wissen ist kein Problem für Sidra, sie kann sich benötigtes neues Sachwissen oder Sprachkenntnisse einfach herunterladen und integrieren, aber unmittelbare Kontakte mit Menschen und anderen Spezies und körperliche Gefühlsreaktionen und echte Sinneserfahrungen sind anfangs eine große – teilweise aber auch angenehme – Herausforderung für Sidra.

Auch der zweite Wayfarer-Band wartet mit detailverliebt-einfallsreicher, zukunfts- musikalischer Technik und komplexer, intergalaktischer Gesellschaftsordnung sowie vielfältigen, teilweise buchstäblich kunterbunten Spezies auf. Faszinierend-unkonven- tionelle, interspeziäre, dreigeschlechtliche Variationen familiären Zusammenlebens spielen eine inspirierende Nebenrolle. Spannung und Humor kommen dabei auch diesmal nicht zu kurz.

Durch die beiden sehr ausgereiften Hauptfiguren Jane/Pepper und Sidra werden mit lebhafter Anschaulichkeit ethische, philosophische und sozialkritische Betrachtungen rund um Genmanipulation, künstliche und organische Intelligenz, Freiheit und Unfrei- heit, Bildung und Bindung sowie Lebenssinn und Bestimmung inszeniert.

„Bei den Sternen“: Davon will ich noch viel mehr lesen. Band drei der Wayfarer-Serie ist schon in greifbarer Sichtweite …

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite: https://www.fischerverlage.de/buch/becky_chambers_zwischen_zwei_sternen/9783596035694

Hier entlang zu einer weiteren begeisterten Rezension auf dem Buch-Blog „Feiner reiner Buchstoff“: https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2018/02/12/flowerpower-goes-scifi-die-zweite/

Hier entlang zum ersten Band: Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten
Zum dritten Band: Unter uns die Nacht
Zum vierten Band: Die Galaxie und das Licht darin

Die Autorin:

»Becky Chambers ist als Tochter einer Astrobiologin und eines Luft- und Raumfahrttechnikers in Kalifornien aufgewachsen. Die Zeit zum Schreiben ihres ersten Romans hat sie sich durch eine Kickstarter-Kampagne finanziert. Das Buch wurde prompt zu einem Überraschungserfolg.«

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Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten

  • von Becky Chambers
  • Roman
  • Originaltitel: »The Long Way to a Small Angry Planet«
  • Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karin Will
  • Wayfarer-Universum, Band 1
  • Fischer TOR Verlag  Oktober 2016  www.tor-online.de
  • Taschenbuch
  • 544 Seiten
  • 9,90 € (D), 10,30 € (A)
  • ISBN 978-3-596-03568-7

INTERGALAKTISCH

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Bei den Sternen – das ist exorbitant lesenswert! Dieser Science-Fiction-Roman gewährt uns eine Horizonte öffnende und ebenso amüsant-abenteuerliche wie feinsinnig-vielschichtige Lesereise, die einen nachhaltig-bedenkenswerten Eindruck hinterläßt.

Gewiß geschieht es immer wieder, daß uns Romanfiguren ans Herz wachsen, doch Becky Chambers schafft es, daß uns sogar gänzlich fremde Spezies vertraut werden und man sie keineswegs weniger schätzen lernt als Vertreter der eigenen Art. Ich will jedoch sogleich vorwegnehmen, daß die Menschheit in der Galaktischen Union (im weiteren Verlauf abgekürzt GU genannt) nicht den besten ethischen Ruf genießt, aber das ist eine Einschätzung, zu der wir selbst ebenfalls nicht allzu selten neigen.

Rosemary Harper hat triftige Gründe, ihren Heimatplaneten Mars zu verlassen und ihr bisheriges, privilegiertes Leben zu vergessen. Sie tritt eine Stelle als Verwaltungskraft auf einem Tunnelerschiff an. Tunnelerschiffe bohren an bestimmten Koordinaten stabile Wurmlöcher ins All und verbessern durch diese Interspace-Passagen exorbitant die Reisegeschwindigkeit für alle Mitglieder der GU.

Ashby Santoso, der Kapitän des Raumschiffs Wayfarer, freut sich, daß ihm in der Person Rosemary Harpers nun endlich jemand den lästigen Verwaltungskram abnimmt. Sein Algaeist, Artis Corbin, bemängelt zwar die Einstellung einer jungen Frau, die noch keine Erfahrung mit Langstreckenflügen hat, aber Ashby verteidigt diplomatisch seine Perso- nalauswahl. Ein Algaeist ist – nebenbei bemerkt – zuständig für die Wartung der Algen- tanks und der darin befindlichen Algen, die den Treibstoff für das Raumschiff produ- zieren. Da dies eine lebenswichtige Aufgabe ist, erträgt die gesamte Besatzung, mehr oder weniger gelassen, die mißmutigen Launen des Algaeisten.

Die weiteren Besatzungsmitglieder der Wayfarer sind wesentlich umgänglicher und nehmen Rosemary mit offenen Armen, Tentakeln und Krallenhänden auf: Da sind Kizzy Shao, die chaotische Mechtech und der kleinwüchsige Jenks, der Comptech, dann die attraktive Pilotin Sissix, die zur echsenähnlichen Spezies der Aandrisks gehört, sodann der sechsbeinige, raupenförmige, sehr lebensweise und kräuterkundige Dr. Koch, der zur aussterbenden Spezies der Grum gehört und dessen Aufgaben an Bord der Wayfarer medizinischer und kulinarischer Natur sind. Außerdem gibt es den Navigator, Ohan, der ein Sianat ist und dank der Symbiose mit einem Neurovirus, dem sogenannten Flüste- rer, den multidimensionalen Raum wahrnehmen kann. Und nicht zu vergessen Lovelace: die empfindungsfähige KI des Raumschiffs, die von allen liebevoll mit dem  Spitznamen Lovey angesprochen wird.

Der Comptech Jenks ist in Lovey verliebt. Diese Liebe wird von Lovey erwidert, und die beiden planen heimlich, ein Bodykit (einen synthetischen menschlichen Körper) zu organisieren und die KI nach Abschluß des  letzten Wayfarer-Auftrages dort hinein zu transferieren. Nach den geltenden Gesetzen der GU haben empfindungsfähige KIs keine Bürgerrechte. Es ist verboten, sie außerhalb der für sie vorgesehenen Funktionen zu installieren – ganz zu schweigen davon, sie in einem mobilen Bodykit unterzubringen, was es fast unmöglich machen würde, sie von biologischen Lebewesen zu unter- scheiden.

Die Besatzung pflegt einen familiären Umgangston miteinander, und alle erfüllen ebenso ihre Pflichten, wie sie sich der Entspannung und dem kommunikativen Aus- tausch widmen. Es gibt eine universelle Sprache „Klip“, die von allen Spezies der GU beherrscht wird. Doch auch Begriffe oder Handgesten aus der einen oder anderen inter- galaktischen Fremdsprache dienen der Verständigung, wenn sie von besonderer kommunikativer Angemessenheit sind.

Das Tunnelbohren ist eine ganz gewöhnliche Arbeit im Kontext der GU, auch wenn sie besonders vom Navigator und Piloten minutiöse Präzision erfordert. Für Rosemary ist das noch Neuland, und ihre Kollegen geben sich große Mühe, alle astrophysikalischen Phänomene und technischen Vorgänge anschaulich zu erklären, die damit in Zusam- menhang stehen, so daß wir als Mitleser auch einen kleinen Schimmer davon erhaschen.

Kapitän Ashby bekommt von der GU einen außergewöhnlichen Auftrag für eine Tunnel-bohrung bei Hedra Ka. Der Auftrag ist vielversprechend und lukrativ: sechsunddreißig Millionen Credits, zuzüglich Spesen! Das Gebiet, in das sie reisen müssen, gehört allerdings dem kriegerischen Volk der Toremi, mit dem die GU neuerdings in Verhand- lungen getreten ist, da die Toremi über große Mengen von Ambi, einem begehrten Treibstoff-Rohstoff, verfügen.

Kurz bevor sich die Wayfarer auf den langen Weg nach Hedra Ka macht, besucht die Besatzung den neutralen Planeten Port Coriol, der sich durch seine multispeziäre Vielfalt, zahllose unkonventionell-kreative Technikfreaks und Künstler und eine dementsprechende Warenvielfalt auszeichnet, wozu auch illegale Technologie und diverse Rauschmittel gehören.

Der Comptech Jenks nutzt die Gelegenheit, seine alte Freundin Pepper zu besuchen, die einen Schrott-Reparaturladen führt und auf Port Coriol sehr gut vernetzt ist. Er bittet Pepper, sich nach einem Bodykit für Lovey umzusehen. Nachdem Pepper Jenks eindring-lich ins Gewissen geredet hat, welch große Verantwortung er damit übernimmt, eine KI in einem mobilen Körper und die damit verbundenen Wahrnehmungseinschränkungen unterzubringen, willigt sie ein, ihre Beziehungen spielen zu lassen.

Die illegale Seite dieser Angelegenheit ist für Pepper nebensächlich, denn angesichts ihrer dramatischen Vergangenheit ist ein illegales Bodykit eine Sache, die man – bei aller gebotenen Vorsicht – spielerisch angehen kann. Peppers lebensläufiger Hintergrund wird im zweiten Band der Wayfarer-Reihe („Zwischen zwei Sternen“) noch ausführlich thematisiert werden.

Auf dem langen Weg nach Hedra Ka gibt es spannende Zwischenstopps und Erholungs-pausen auf anderen Planeten. Sissix kann sogar in Begleitung der Crew für einige Tage ihre Familie besuchen und Rosemary ein tieferes Verständnis für die gänzlich anderen Familienstrukturen und die berührungsintensive Kommunikationsweise der Aandrisks vermitteln.

Bei einem weiteren Zwischenstopp auf dem Mond Zirp, auf dem neben alten Bekannten von Kizzy auch angriffslustige Ketlinge, eine Art Riesengrashüpfer, leben, besorgt Kizzy einige maschinelle Ersatzteile und Schutzschilde und versucht vergeblich, Kapitän Ashby davon zu überzeugen auch ein paar Waffen zur Verteidigung der Wayfarer anzuschaffen.

Bei der Tunnelbohrung im Gebiet der Toremi wird es schließlich äußerst gefährlich …

Der Reiz dieses SF-Romans liegt in der differenzierten Figurengestaltung. Die verschie-denen Spezies werden nicht nur mit ihren körperlichen Merkmalen, sondern einfühlsam und phantasievoll mit ihrem kulturellen und historischen Hintergrund sowie mit ihren sprachlichen Feinheiten dargestellt. Beispielsweise kommunizieren die feingliedrigen, silbrig, schuppenhäutigen Äluoner untereinander über das Farbschimmern auf ihren Wangen, für die Kommunikation mit anderen Spezies benutzen sie jedoch eine implantierte Sprachbox.

Kleine Rückblenden auf die individuellen, biographischen Herkunftsgeschichten und die dramaturgischen Entwicklungen und unterschiedlichen Geisteshaltungen, die sich da- raus ergeben, runden die lebhaften Charakterisierungen anschaulich ab. Die Perspek- tive anderer Spezies auf die Menschheit gibt neckischen Anmerkungen zur fehlenden Reife der Menschheit viel Raum. So wird etwa die Stellungnahme eines Quelin-Abge- ordneten erwähnt, in der von der Aufnahme dieser pubertären und unbedeutenden Spezies in die GU dringend abgeraten wird, da sie nicht aus sich selbst heraus zu einer globalen Einheit gefunden habe und deshalb viel zu labil sei, um Teil der GU zu werden.

Ebensoviel Raum nimmt jedoch auch die wechselseitige Anziehungskraft und aufge-schlossene Neugier zwischen den Spezies ein, und es gibt durchaus Liebesbeziehungen zwischen verschiedenen Spezies.

Futuristische Technik spielt selbstverständlich ebenfalls eifrig mit. So schreibt man mangels Papier, das ein Luxusartikel ist, mit dem Scribus, einer Art Tablet-Computer mit Pixelstift und einem Pixelbildschirm, der durch eine Handbewegung ein- und ausge- schaltet wird. Imunobots, die in der Blutbahn patrouillieren und je nach Bedarf modifiziert oder ausgetauscht werden, sind ebenso selbstverständlich wie ein kleines Unterarmimplantat, das alle relevanten Persönlichkeitsdaten, die ID, die Bankverbin- dungen und ein medizinisches Interface für die Imunobotskommunikation enthält.

Bei den Dentalbots, die man sich zum delegierten Zähneputzen in den Mund wirft,  sollte man jedoch darauf achten, diese nicht zu verschlucken. Dies wäre zwar nicht lebensbedrohlich, könnte aber Bauchschmerzen verursachen, da sie einfach weiterputzen, egal wo sie sich gerade befinden.

Die digitale GU-Standardwährung sind sogenannte Credits, und es gibt eine GU-Standard-Zeit, die in Tagzehnten strukturiert ist. Raumschiffe und Raumstationen verfügen über ein Artigrav-Netz, das bei Bedarf die Schwerkraft ausschaltet usw.…

Becky Chambers gelingt mit dem ersten Band der Wayfarer-Reihe eine attraktive Balance aus zukunftsmusikalischer Raumfahrt- und Alltagstechnik und komplexem, zwischenspeziärem Miteinander. Der ebenso tiefsinnige wie unterhaltsam-verspielte, philosophisch-sozialkritische und phantasievoll-visionäre Facettenreichtum dieses SF-Romans fasziniert von der ersten bis zur letzten Seite.

Ich kann es kaum abwarten, Ihnen auch den zweiten Band leseschmackhaft zu machen.

Nachfolgend noch ein Zitat-Kostprobe:

»Gelehrte, die sich mit intelligentem Leben beschäftigen, haben festgestellt, dass alle jungen Zivilisationen ähnliche Entwicklungsstadien durchlaufen, ehe sie bereit sind, ihre Entstehungsplaneten zu  verlassen. Das vielleicht wichtigste Stadium ist das »intra-speziäre Chaos«. In dieser Phase der unbeholfenen Pubertät entscheidet sich, ob eine Spezies zu einer globalen Einheit findet oder in verfeindetet Fraktionen zerfällt, die zum Aussterben verurteilt sind – sei es durch Krieg oder durch ökologische Katastrophen, die so groß sind, dass man sie nur gemeinsam meistern kann.« (Seite 414)

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.fischerverlage.de/buch/becky_chambers_der_lange_weg_zu_einem_kleinen_zornigen_planeten/9783596035687

Hier entlang zu einer weiteren begeisterten Rezension auf dem Bücher-Blog „Feiner reiner Buchstoff“: https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2017/02/12/spacegirls/

Hier entlang zum zweiten Band: Zwischen zwei Sternen
Zum dritten Band: Unter uns die Nacht
Zum vierten Band:
Die Galaxie und das Licht darin

Die Autorin:

»Becky Chambers ist als Tochter einer Astrobiologin und eines Luft- und Raumfahrt-technikers in Kalifornien aufgewachsen. Die Zeit zum Schreiben ihres ersten Romans hat sie sich durch eine Kickstarter-Kampagne finanziert. Das Buch wurde prompt zu einem Überraschungserfolg.«

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