- fünfter Rico-und-Oskar-Band
- von Andreas Steinhöfel
- mit farbigen Illustrationen von Peter Schössow
- CARLSEN Verlag 2020 www.carlsen.de
- gebunden
- Format: 15 x 21 cm
- 336 Seiten
- 16,00 € (D), 16,50 € (A), 23,50 € sFr.
- ISBN 978-3-551-55783-4
- Kinderbuch ab 10 Jahren
FREUNDSCHAFT MIT NOSTALGIE-EFFEKTEN
Kinderbuchrezension von Ulrike Sokul ©
Rico und Oskar sind zwei sehr ungleiche Freunde. Rico ist tiefbegabt, Oskar hingegen hochbegabt. Rico ist ein einfühlsamer Herzmensch, er hat eine Rechtslinksschwäche, verheddert sich auch oft in den Himmelsrichtungen und verirrt sich zudem gelegentlich im Assoziationsfeuerwerk seiner sensiblen Detailwahrnehmung. Oskar jedoch ist ein wissensvoller Kopfmensch, der anspruchsvolle Sachbücher liest und sogar versteht, klassischer Musik (momentan Eric Satie) lauscht und andere Kinder und Erwachsene gerne belehrt.
Während Oskar wortgewandt und schlagfertig ist, ist Rico ausgesprochen wortkreativ und schreibt neue Begriffe, die er gelernt hat, stets in originellen Worterklärungs- kästchen auf. Das hört sich dann folgendermaßen an:
» CHARISMA: Eine gewinnende Ausstrahlung. Manche Leute haben eine eher verlierende Ausstrahlung, aber dafür gibt es kein passendes Fremdwort. Tja, Pech gehabt.«
(Seite 148)
Die beiden Freunde ergänzen sich mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen. Ihre innige Freundschaft hat sich seit dem vorherigen Band (siehe meine Besprechung vom 14.12. 2017 Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch) um einen beachtlichen Kreis von Kindern erweitert, die sich regelmäßig auf einem alten Hinterhof mit einem heruntergekom- menen – gleichwohl für die Kinder attraktiven – Spielplatz treffen. Dieser Hinterhof ist eine von einer Mauer umgebene Baulücke mit einem schmalen Zugang vom Bürgersteig aus.
Nun soll dieses Grundstück verkauft und bebaut werden. Die Kinder sind bestürzt und überlegen gemeinsam, was sie tun könnten, um Magda Pommer, die Besitzerin des Grundstücks und des Nebenhauses, umzustimmen. Von einer Mieterin erfahren sie, daß Magda Pommer in der Vergangenheit einige tragische zwischenmenschliche Verluste erlitten habe – u.a. sei ihr Bruder vor fünfzig Jahren spurlos verschwunden. Deshalb sei sie kühl und unnahbar geworden. Dennoch habe sie durchaus Mitgefühl; so wurden von ihr beispielsweise die Mieten für die langjährigen Mieter nicht erhöht.
Dies läßt die Kinder hoffen. Doch da Rico und Oskar in einen heftigen Streit geraten und beide eine ganze Weile unversöhnlich bleiben, gehen Rico und Oskar diesmal getrennte Wege, um das Problem zu lösen. Oskar beschattet gemeinsam mit der jugendlichen Hackerin Miray und einigen anderen Kindern den suspekten Immobilienmakler, und Rico folgt zusammen mit Sarah einigen Hinweisen, die zum geheimen Aufenthaltsort des verschollenen Bruders von Magda Pommer führen könnten.
Diese Nachforschungen erfordern sogar eine Reise nach Hessen, was sich zufällig her-vorragend mit den Reiseplänen von Frau Dahling, Ricos Nenn-Oma, zusammenfügt. Frau Dahling will nämlich ihren Verlobten in der Rehaklinik in Bad Wildungen besuchen und ist einer Entourage aus Rico und dem „Checker“, dem ältesten Jungen aus der Kinder-gruppe, sehr zugeneigt.
Frau Dahling hat als Reiselektüre zwei Romane von Hedwig Courths-Mahler mitge-nommen, und Rico verschlingt auf der Zugfahrt ihren Roman „Griseldis“ und ist ganz hingerissen vom „kurzgemalerten“ Schreibstil und dem altmodischen Zeitkolorit. Dies hat weitreichende Folgen für die Art, wie in diesem Band, die unterschiedlichen parallelen Handlungsstränge erzählt werden.
Alle Rico-und-Oskar-Bände wurden bisher immer aus Ricos Perspektive erzählt. Doch diesmal erzählt Rico phasenweise aus der Perspektive Oskars ganz im Stile von Hedwig Courths-Mahler und versetzt die Berliner Stadtkulisse, alle Personen und alle Requisiten in den Anfang des 20. Jahrhunderts, was zudem durch den Einsatz einer altertümlichen Typographie und Druckfarbe anschaulich untermalt wird.
So streift also ein begehrockter Oskar mit „elastischem Hirn“ durch das alte droschken-befahrene, von Gaslaternen belichtete Berlin und „eruiert“ mit Hilfe der Telefonistin Miray, daß der dubiose Immobilienmakler mit manipulierten Telefonnummern ein nicht existentes Maklerbüro simuliert und betrügerische Absichten bezüglich des anstehen- den Verkaufs von Magda Pommers Grundstück hegt.
Es ist wahrlich eine originelle Leseköstlichkeit, wie der Autor bzw. Rico die nostalgischen Handlungspassagen sprachlich an den romantisch-empfindsamen Stil der Hedwig-Courths-Mahler-Romane anschmiegt. So wird aus Magda Pommer die „Gräfin Magdalene von Pommery“, aus dem Checker wird der „Blicker“ und aus der Hackerin Miray eine junge Telefonistin, die mit Oskar über die rasante technische Entwicklung des Telefo-nierens und die Aussicht auf eine dereinst mögliche Selbstwählvermittlung fachsimpelt. Und Oskar weint Rico mit folgenden wehmütigen Worten nach „… jenem guten Freund, den das Schicksal ihm vor einigen Jahren zugesellt, nun aber grausam wieder entrissen hatte.“ (Seite 106)
In „Rico, Oskar und das Mistverständnis“ führen die detektivischen Ermittlungen der Kinder zur Verhinderung eines großen Betrugs, zur guten Lösung einer alten, tragischen familiären Verstrickung und zur Klärung des Mißverständnisses, das zum Streit zwischen Rico und Oskar geführt hat. Neben den spannenden Handlungselementen werden kindgemäß tiefsinnige Gedanken und Erkenntnisse über Freundschaft, Eifer- sucht, Streit, Versöhnung, Mitgefühl und Liebe formuliert. Die zunächst zerbrochene freundschaftliche Harmonie zwischen Rico und Oskar fügt sich zu neuem und besserem Selbst- und Fremdverständnis und vertieft schließlich diese Freundschaft.
Gewiß ist diese Lektüre anspruchsvoller, als es die vorhergehenden vier Bände waren. Die parallelen Handlungsstränge pendeln zwischen dem Sprachstil und den Gegeben-heiten der Gegenwart und denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zudem sind die altmodischen Passagen mit dem romantischen, ja, edelkitschigen, gleichwohl aber auch seltsam attraktiven Zuckerguß des Hedwig-Courths-Mahler-Stils garniert. Die nostal- gischen Kostproben anschaulich in Szene gesetzter höflicher Umgangsformen und Redewendungen dürften nicht nur amüsieren, sondern vielleicht sogar ein wenig abfärben.
Eine solche Lektüre erweitert den sprachlichen und historischen Horizont und vermittelt Kindern auf leichtfüßige Weise eine wünschenswerte Variationsbreite sprachlichen und emotionalen Ausdrucksvermögens.
„Wie mit goldener Tinte war jedes einzelne Wort, das er mit ihr im Flackerschein der Straßenlaternen gewechselt hatte, seiner jungen Seele eingeschrieben.“ (Seite 265)
Mit „Rico, Oskar und das Mistverständnis“ ist Andreas Steinhöfel erneut eine warmherzige Komposition aus spannender, humorvoller Handlung und abwechslungsreichen zwischenmenschlichen Begegnungen gelungen. Hier tragen nicht nur die vielfältigen lebensechten Charaktere, Milieuschilde-rungen und einfühlsamen Darstellungen kindlicher Gefühls- und Wahr- nehmungsperspektiven zur Herzensbildung und Welterschließung bei, sondern ebenso der wahrlich feinköstliche Sprachspielsinn.
Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE oder wahlweise auch HÖRPROBE auf der Verlagswebseite: https://www.carlsen.de/hardcover/rico-oskar-und-das-mistverstandnis-rico-und-oskar-5/978-3-551-55783-4
Hier entlang zum Vorgängerband „Rico Oskar und das Vomhimmelhoch“:
Rico, Oskar und das Vomhimmelhoch
Der Autor:
»Andreas Steinhöfel wurde 1962 in Battenberg geboren. Er ist Autor zahlreicher, vielfach preisgekrönter Kinder- und Jugendbücher, wie z. B. »Die Mitte der Welt«. Für »Rico, Oskar und die Tieferschatten« erhielt er u. a. den Deutschen Jugendliteraturpreis. Nach Peter Rühmkorf, Loriot, Robert Gernhardt und Tomi Ungerer hat Andreas Steinhöfel 2009 den Erich Kästner Preis für Literatur verliehen bekommen. 2013 wurde er mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für sein Gesamtwerk ausgezeichnet und 2017 folgte der James-Krüss-Preis. Zudem wurde er für den ALMA und den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert. Andreas Steinhöfel ist als erster Kinder- und Jugend-buchautor Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seine Serie über Rico und Oskar wurde sehr erfolgreich fürs Kino verfilmt. Zusätzlich zu seiner Autoren-tätigkeit arbeitet er als Übersetzer und Rezensent und schreibt Drehbücher. Seit 2015 betätigt er sich in seiner Filmfirma sad ORIGAMI als Produzent von Kinderfilmen.«
Der Illustrator:
»Peter Schössow, Jahrgang 1953, gehört zu den renommiertesten deutschen Illustratoren. Nach seinem Studium an der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg arbeitete er unter anderem für Spiegel, Stern und »Die Sendung mit der Maus«. Darüber hinaus hat er eine Vielzahl von Kinderbüchern verfasst und illustriert, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Troisdorfer Bilderbuchpreis und dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Peter Schössow lebt in Hamburg.«