- Roman
- von Kim Ho-Yeon
- Originaltitel: » 불편한 편의점 «
- Übersetzung aus dem Koreanischen von Jan Henrik Dirks
- Verlag hanserblau, April 2024 www.hanser-literaturverlage.de
- gebunden
- 320 Seiten
- 22,00 € (D), 22,70 € (A)
- ISBN 978-3-446-28000-7
M A I S B A R T T E E
Rezension von Ulrike Sokul ©
Frau Yeom ist eine pensionierte Geschichtslehrerin, die in Seoul einen 24-Stunden-Laden führt. Der Laden wirft kaum Gewinn ab, aber er bietet drei Menschen einen Arbeitsplatz und ein bescheidenes Auskommen, und deshalb möchte Frau Yeom ihren Laden keines-falls schließen.
Für ihre jüngste Angestellte, die siebenundzwanzigjährige Si-hyeon, die sich nach ihrem Bachelor-Universitätsabschluß auf die »Prüfung für Beamte neunten Ranges« vorbe- reitet, hegt sie mütterliche Gefühle. Viele Studenten, die zunächst keine Anstellung finden, arbeiten vorübergehend in 24-Stunden-Läden, um finanziell über die Runden zu kommen und Berufserfahrungen zu sammeln.
Am Hauptbahnhof von Seoul wird Frau Yeom eines Tages ihr Portemonnaie gestohlen. Ein Obdachloser verfolgt die Diebe, kämpft mit ihnen und bringt Frau Yeom das Porte-monnaie zurück. Aufgeregt und erleichtert bedankt sie sich und will ihm einige Geld-scheine schenken, doch der Obdachlose lehnt die Gabe ab. Daraufhin bittet sie den Obdachlosen, sie zu begleiten, damit sie ihm wenigstens eine Lunchbox und ein Getränk anbieten kann. Darauf läßt sich der Obdachlose zögernd ein.
Während der Obdachlose sehr manierlich und würdevoll den Inhalt dieser Lunchbox ver-speist, verkündet Frau Yeom spontan, daß er in Zukunft jeden Tag kommen dürfe, um sich eine kostenlose Mahlzeit in ihrem Laden abzuholen. Ungläubig fragte er nach, ob sie die abgelaufenen Lunchboxen meine, aber das verneint Frau Yeom und betont aus-drücklich, daß er nur neue Lunchboxen bekommen solle – sie werde ihre Angestellten entsprechend instruieren. Der Obdachlose – er nennt sich Dok-go – bedankt sich mit einer Verbeugung und kehrt zum Bahnhof zurück.
Kurz nach dieser Begegebenheit kündigt der Angestellte, der für die Nachtschicht zuständig ist, da er wieder eine Anstellung in seinem gelernten Beruf gefunden habe. Frau Yeom bietet Dok-go an, die Nachtschicht zu übernehmen, allerdings unter der Bedingung, daß er keinen Alkohol mehr trinke. Dok-go stimmt zu, denn der Winter steht bevor und das Überleben auf der Straße ist hart. Frau Yeom schickt ihn für eine gründ- liche Reinigung in eine Sauna, kleidet ihn neu ein und organisiert eine Schlafzelle, in der er tagsüber schlafen kann.
Si-hyeon übernimmt die Aufgabe, Dok-go in die Arbeitsabläufe und die Bedienung von Kasse und Kartenterminal einzuarbeiten. Dok-go hat eine gute Auffassungsgabe und lobt Si-hyeons Fähigkeit, Dinge gut und verständlich zu erklären. Er regt sogar an, daß sie YouTube-Erklärvideos machen solle, weil viele Aushilfen in den 24-Stunden-Läden einer solch kompetenten Einführung bedürften. Diese Anregung greift Si-hyeon tatsächlich auf und eröffnet damit für sich neue, unerwartete berufliche Aussichten.
Dok-go kann sich zunächst nicht mehr an sein Leben vor der Obdachlosigkeit erinnern, aber Frau Yeom meint, je länger er keinen Alkohol mehr trinke, desto eher würden seine Erinnerungen reanimiert. Um sich von seinem Alkoholdurst abzulenken, trinkt Dok-go regelmäßig Maisbarttee – ein heilsamer Kräutertee aus den Haaren des Maiskolbens.
Dok-go ist sehr aufmerksam und zugewandt sowie ein guter Zuhörer und genauer Beobachter. Er vermittelt sowohl seinen beiden Kolleginnen als auch einigen Stamm-kunden wertvolle Impulse für konstruktive Lebensweichenstellungen. Man könnte sagen, daß seine eigene Verletzlichkeit ihm die Stärke verleiht, bei anderen Menschen den Finger in die Wunde zu legen und gleichzeitig Heilmittel und Hoffnung anzubieten. Seine gewissermaßen therapeutischen Gespräche und seine Hilfsbereitschaft führen dazu, daß der Laden immer besser läuft. Dank der vielen zwischenmenschlichen Begegnungen kommt Dok-go zudem nach und nach seinem früheren Leben wieder auf die Spur…
Der Fortlauf der Romanhandlung wird aus verschiedenen, sich abwechselnden Personenperspektiven dargestellt, die alle um Frau Yeoms Laden und den außerge- wöhnlichen neuen Angestellten Dok-go kreisen. So wird ein interessanter, lebhafter und abwechslungsreicher Rundumblick auf Dok-gos unkonventionelles Wirken und ein sozialkritischer Einblick in koreanische Arbeitsbedingungen und ihre teilweise ent- fremdenden Auswirkungen auf das Familienleben gewährt.
Der Autor beschreibt eine Gesellschaft, in der ausgeprägter Leistungsdruck und beruf-licher Konkurrenzkampf vorherrschen. Dieser extreme wettbewerbsorientierte Erfolgs-druck beeinträchtigt, ja, beschädigt das zwischenmenschliche Einvernehmen und auch die verbindliche Nähe zwischen Familienangehörigen. Manche Menschen lassen sogar eine Schönheitsoperation vornehmen, um ihre Erfolgschancen bei Bewerbungsge-sprächen zu erhöhen.
Die sehr herzliche Frau Yeom und der einfühlsame Dok-go sind charakterstarke Gegen-entwürfe hierzu und verdeutlichen vielleicht einen gesellschaftlichen Wandel oder weisen auf den Wunsch nach einem kommunikativen und kooperativen Miteinander hin. Dok-go formuliert dies folgendermaßen:
»Ich würde helfen, wo ich helfen konnte, würde teilen, was ich teilen konnte, und ich würde nicht nach meinem Anteil gieren. Ich würde mich bemühen, andere mit den Fähigkeiten zu retten, mit denen ich mich selbst gerettet habe.« (Seite 317)
Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/kim-ho-yeon-frau-yeoms-kleiner-laden-der-grossen-hoffnungen-9783446280007-t-5255
Hier entlang zur Hörbuchausgabe und Hörprobe:
https://www.penguin.de/Hoerbuch-MP3/Frau-Yeoms-kleiner-Laden-der-grossen-Hoffnungen/Ho-yeon-Kim/Random-House-Audio/e628616.rhd
Der Autor:
»Kim Ho-yeon, geboren 1974 in Seoul, war lange Zeit als Redakteur und Drehbuchautor tätig, bevor er 2013 seinen ersten Roman veröffentlichte. „Frau Yeoms kleiner Laden der großen Hoffnungen“ ist sein bisher erfolgreichster Roman und wird derzeit in Korea als Theaterstück und fürs Fernsehen adaptiert.«