- Wie sie sehen, riechen und sich erinnern
- von Daniel Chamovitz
- Aus dem Englischen von Christa Broermann
- Hanser Verlag 2013 http://www.hanser-literaturverlage.de
- gebunden, mit Schutzumschlag
- 206 Seiten, mit Illustrationen
- 17,90 € (D), 18,40 € (A)
- ISBN 978-3-446-43501-8
SINN UND SINNLICHKEIT IM PFLANZENREICH
Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©
Als Trägerin des grünen Daumens und Liebhaberin fast aller Pflanzen (außer Begonien) habe ich das Buch „Was Pflanzen wissen“ mit wachsender Neugier verschlungen.
Daniel Chamovitz ist Biologe und Direktor des „Manna Center for Plant Biosciences“ an der Universität von Tel Aviv. Der Autor verknüpft in jedem Kapitel geschickt historische Forschung mit moderner Forschung, und er stellt stets die menschliche Körperlichkeit der pflanzlichen Körperlichkeit gegenüber. Dieser Vergleich macht die sehr komplexen Darstellungen anschaulich und faszinierend.
Wir erfahren, daß Pflanzen auf genetischer Ebene komplexer sind als viele Tiere, doch sie verfügen weder über ein Gehirn noch über ein zentrales Nervensystem. Dennoch haben Pflanzen die Fähigkeit der Eigenwahrnehmung (Propriozeption), und sie können sehen, riechen, fühlen und sich erinnern.
Daß sich Pflanzen dem Licht zuwenden (Phototropismus), hat wohl jeder schon – auch ohne Forschungs- und Laborbedingungen – beobachten können. Die Wissenschaft bestätigt in der Tat, daß Pflanzen sehen können, nicht in Bildern, wie wir Menschen sehen, sondern sie erkennen Licht und Farben (darunter Farben wie ultraviolettes Licht, die wir nicht sehen können), werten sie aus und lenken ihr Wachstum entsprechend.
Für eine Pflanze ist Licht zugleich ein Signal sowie lebenswichtige Nahrung (Photosynthese); mit Hilfe ihrer Photorezeptoren kann sie ihr Wachstum präzise an die Lichtverhältnisse anpassen. Menschen sehen mit Hilfe ihrer Photorezeptoren vom Gehirn erstellte Bilder, die interpretiert werden und auf die reagiert wird.
Pflanzen und Menschen haben auch einen gemeinsamen Rezeptor für blaues Licht: Cryptochrom. Die innere Uhr bzw. der circadiane 24-Stunden-Rhythmus, der für unsere Körpervorgänge bestimmend ist, wird durch die Wahrnehmung blauen Tageslichtes reguliert und gegebenenfalls korrigiert. So erkennen auch Pflanzen Tag-Nacht-Zyklen und wechselnde Jahreszeiten.
Pflanzen duften nicht nur, sie können auch selber riechen. Ich kannte den Haushalts- tipp, zwecks Reifungsnachhilfe einen Apfel neben unreife Bananen zu legen. Der Autor beschreibt die familiär überlieferte Empfehlung, eine reife Banane mit einer unreifen Avocado in eine Papiertüte zu stecken, um die Avocado schneller weich, also reif zu bekommen.
Der „Zaubertrick“ dabei heißt Ethylen, ein Reifungsgas, das von reifenden Früchten in die Umgebung abgegeben wird und dadurch die Reifung ihrer unmittelbaren Nachbarn anregt, aber auch über größere Distanzen wirkt. Blütendüfte umwerben bestäubende Insekten, und Fruchtdüfte locken tierische und menschliche „Freßfreunde“ an, die durch den Verzehr und Weitertransport die Samen in den Früchten in einem größeren Radius verteilen.
Inzwischen haben Forscher herausgefunden, daß Pflanzen bei Raupenfraß an ihren Blättern Pheremone an die Luft abgeben und somit ihre Nachbarblätter und auch Nachbarpflanzen dazu anregen, den Phenol- und Tanningehalt in den Blättern zu erhöhen, was den gefräßigen Raupen den Geschmack verdirbt und das Raupen- wachstum hemmt.
Am Beispiel des Teufelszwirns (Cuscuta pentagona), einer parasitären Pflanze, die Tomatenpflanzen anzapft, konnte nachgewiesen werden, daß der Teufelszwirn stets in Richtung der bevorzugten Wirtspflanze wächst, selbst wenn nur ein „Tomatenduft- wasser“ angeboten wurde. Der Teufelszwirn erriecht nicht nur seine unwiderstehliche Lieblingsspeise, er wendet sich z.B. auch von Weizenpflanzen ab, die eine chemische Substanz enthalten, die er nicht „mag“.
Alle Pflanzen können bei Bedarf durch die Bildung von Salicylsäure ihr Immunsystem stärken und sich gegen bakterielle und virale Infektionen wehren. Infizierte Blätter senden ein Gas namens Methylsalicylat aus, das die befallene Pflanze zur Bildung von Saliclysäure animiert. Nachdem der wasserlösliche Botschafter Salicylsäure über die pflanzeninternen Leitbündel die ganze Pflanze über einen bakteriellen Angriff informiert hat, reagieren die gesunden Pflanzenteile darauf, indem sie um den infizierten Bereich eine Blockade aus abgestorbenen Zellen (ein lokal begrenzter Zellenselbstmord zur Selbstverteidigung des Pflanzenganzen) bilden, die eine Ausbreitung der Infektion verhindert.
Menschen nutzen übrigens bereits seit der Antike die Salicylsäure aus Weidenrinden zur Fiebersenkung und Schmerzlinderung.
Über einen Hörsinn verfügen – laut gegenwärtigem Wissenschaftsstand – Pflanzen nicht. Es lassen sich sogar Taubheitsgene in Pflanzen finden. Vermutlich ist die Hörfähigkeit für eine im Erdboden fest verwurzelte Lebensform, die nur über sehr langsame Bewegungsabläufe verfügt, nicht überlebenswichtig.
Der Autor nutzt diese Gelegenheit, sich ein wenig lustig zu machen über die Versuche, Pflanzen einen bestimmten, angeblich wachstumsförderlichen Musikgeschmack zu unterstellen. Er meint, daß diese Experimente mehr etwas über den Musikgeschmack der menschlichen Wissenschaftler aussagen, als über WIRKliche akustische Resonanzen.
Bei der Propriozeption geht es sowohl bei Pflanzen wie bei Menschen um die Eigen- wahrnehmung. Dank dieses inneren Sinns „wissen wir, wo sich unsere verschiedenen Körperteile im Verhältnis zueinander befinden, ohne dass wir hinschauen müssen“. „Propriozeption umfasst nicht nur unseren Gleichgewichtssinn, sondern auch die koordinierte Bewegung- “ (Seite 117)
Mit Hilfe von Otolithen (Ohrsteine), die auf die Schwerkraft reagieren, wissen wir, wie unsere räumliche Position gelagert ist. Wir Menschen haben Gravirezeptoren im Innenohr, und Pflanzen haben Gravirezeptoren verteilt in Wurzeln und Stängeln, die Statolithen heißen.
Die Entwicklung der Raumfahrt ermöglichte Experimente zur Bedeutung der Schwer- kraft für die räumliche Orientierung von Pflanzen. In Schwerelosigkeit zeigten Pflanzen keine gravitropische Krümmung, sie konnten also nicht mehr spüren, wo oben oder unten ist.
Auch die Circumnutation (der „Spiraltanz“, den Pflanzen vollziehen – in je nach Art unterschiedlich großem Radius und unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Bewegungsmustern) steht in Zusammenhang mit der durch das Pflanzenwachstum bedingten Verlagerung der Gravirezeptoren und bringt die Pflanze ins Gleichgewicht.
Daniel Chamovitz geht in einem weiteren Kapitel auf den Tastsinn ein und beschreibt spannende Forschungsergebnisse zur Berührungssensibilität von Venusfliegenfallen und Mimosen.
Im letzten Kapitel holt er aus der aktuellen Forschungsvorratskammer Erkenntnisse über das Erinnerungsvermögen von Pflanzen. Ich lasse jetzt einmal die epigenetischen und biochemischen Ausführlichkeiten weg und beschränke mich darauf, daß wissen- schaftlich nachgewiesen werden konnte, daß Pflanzen – ähnlich dem menschlichen Immungedächtnis – ein „prozedurales Gedächtnis, also ein Gedächtnis dafür, wie man etwas macht“ (Seite 164), haben.
Bemerkenswert fand ich allerdings, daß Pflanzen typisch menschliche Glutamat- rezeptoren besitzen, obwohl sie kein Gehirn haben.
Die Lektüre von „Was Pflanzen wissen“ bereichert den Leser mit interessanten Informationen über das Innenleben von Pflanzen und ihre Wahrnehmungs- besonderheiten.
Sehr sympathisch finde ich den betonten Hinweis des Autors, daß wir völlig auf Pflanzen angewiesen sind: Sie schenken uns nicht nur Nahrungs-, Genuß- und Heilmittel, sondern liefern auch den materiellen Grundstoff für unzählige alltägliche Dinge.
Ein Rundgang durch meine Wohnung und ein Blick auf die Kleidung, die ich trage genügt und ich finde Buchen (Bücherregale), Eichen (antikes Küchenbufett und Eßtisch), Nußbäume (Stühle), Leinöl (Linoleumbodenbelag), Bambus (diverse Obstkörbe), Kork (Untersetzer), Zirbelkiefer (Schneidbrett), Baumwolle, Leinen, Kautschuk und Papier.
Und unsichtbar und unentbehrlich: Sauerstoff. Was, wenn die gesamte Pflanzenwelt in einen kleinen Photosynthesestreik treten würde?
PS:
In diversen Fußnoten weist der Autor – jeweils passend zum beschriebenen Thema – auf Webseiten hin, die Zeitraffer-Filme von Pflanzen zeigen. Das sind sehr sehenswerte und beeindruckende Ergänzungen zum Text.
Der Autor:
»Daniel Chamovitz, geboren 1963, ist Direktor des Manna Center for Plant Biosciences an der Universität von Tel Aviv. Er gibt Vorlesungen in der gesamten Welt. Nature und Scientific American berichten regelmäßig über seine Forschung. Der Autor lebt in der israelischen Stadt Hod haSharon. Sein Buch „Was Pflanzen wissen“ erschien in14 Ländern.«