Zwitschernde Fische

  • von Andreas Séché
  • Roman
  • ars vivendi verlag  2012   www.arsvivendi.com
  • gebunden
  • mit Schutzumschlag
  • 168 Seiten
  • 16,90 € (D), 17,40 € (A)
  • ISBN 978-3-86913-106-1

ZWISCHEN  DEN  ZEILEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Bereits das Wort LekTÜRE enthält eine Türe, gewissermaßen eine Portalüberschrift, die den aufmerksamen Betrachter darauf hinweist, daß Lesen buchstäblich in eine Geschichte – oder bei Sachbüchern in ein Wissensgebiet – hineinführt.

Buchhändler empfehlen und verkaufen ihren Kunden demnach ein papiernes Mischwesen aus Dauereintrittskarte und Tür, und das Lesen ist dabei der Universalschlüssel; eine Vorstellung, die mir als Buchhändlerin schon immer sehr gefallen hat.

„Zwitschernde Fische“ ist ein federleichtes und herzenstiefes Buch, das wach macht für die Wegweiser der Inspiration, die, wenn man aufgeschlossen dafür ist und gerne hinter die Dinge schaut, sogar im Alltag wohnen und auf Entdeckung und Würdigung warten.

Yannis, unser Romanheld, ist ein junger Mann, der Bücher und Buchhandlungen liebt und für den jeder neue Buchkauf ein Festakt ist, den er zunächst gebührend mit einem guten Frühstück beginnt: „ … Lesen ist ja nichts anderes als Essen mit den Augen.“
(Seite 9)

Buchhandlungen und Stadtparks, findet Yannis, bieten eine ideale Kulisse, um der Traumfrau zu begegnen. Er hat einige wunderschöne, ebenso romantische wie verwegene Gesprächseröffnungsideen (die übrigens ausgesprochen unwiderstehlich- empfehlenswert sind) in seiner Sehnsuchtsvorratskammer gestapelt, aber er ist bisher zu schüchtern gewesen, um seine Worte und Gesten auch in die Tat umzusetzen.

Auf dem Weg zum Buchladen macht er Rast auf seiner Lieblingsparkbank im Athener Stadtpark und denkt darüber nach, ob die Kellnerin aus seinem Lieblingscafé, in die er still, leise und heimlich verliebt ist, ihn aus Zuneigung oder aus professioneller Grund-haltung stets so freundlich anlächele. Diese Frage bleibt unbeantwortet, und Yannis macht sich gedankenversunken wieder auf den Weg.

Doch er verläuft sich und findet sich plötzlich vor einem altmodischen Buchladen mit beinahe undurchsichtigem Schaufenster wieder, in einer Gasse, die seltsam aus der Zeit gefallen scheint. Yannis kommt es fast vor, als sei diese Buchhandlung ein Überbleibsel aus dem Athener Buchhändlerviertel, das vor zweittausendfünfhundert Jahren existiert hat.

Neugierig berührt Yannis den silbernen Drehknauf der verwitterten, hölzernen Eingangstür, die daraufhin langsam und bedächtig aufschwingt. „Es sind schon Kinder durch Türen gegangen und als Erwachsene zurückgekehrt. Hinter Türen können Narren zu Weisen werden, Ziellose zu Menschen mit einer Bestimmung und Ungläubige zu Gläubigen.“ (Seite 17)

Yannis begegnet in den Räumen hinter dieser Türe der geheimnisvollen und sehr attraktiven Lio, und in Verbindung mit Lio kommt es zu zauberhaften neuen Lebens-weichenstellungen…  „Die Haut um ihre Augen offenbarte ein gelachtes Leben und einen Menschen, der sich wenig um die feinen Falten der Erkenntnis scherte.“ (Seite 27)

Der Roman „Zwitschernde Fische“ handelt davon, wie das Leben in Geschichten einfließt und wie gelesene Geschichten das Leben beeinflussen, ja, wie für den inspirations-empfänglichen Menschen in der Tat alles miteinander in geheimnisvoller Korrespondenz steht.

Neben seinem eigenen Geschichtenverlauf weckt dieser Roman beiläufig Leselust auf zahlreiche weitere Bücher. Die angeregten Gespräche, die Lio und Yannis über Klassiker der Weltliteratur führen, die Betrachtungen interessanter bis krimineller schriftstellerischer Hintergrundgeschichten sowie die berühmten Anfangssätze, die sie sich wechselseitig vorlesen, machen abwechslungsreich Appetit auf mehr. „Geschichten sind das Gewürz der Wirklichkeit.“ (Seite 168)

Andreas Séchés Sprache hat einen besonderen melodischen Klang, eine zärtlich-atmende, lebendige Anziehungskraft, die den geneigten Leser sogleich in die Geschichte hineinverführt. Die dramaturgisch geschickt eingewobenen, schimmernd-changierenden Schnittstellen und Reflexionen zwischen Fiktion und Wirklichkeit sowie leibhaftige literarische Anspielungen bewirken – den Musen sei Dank – eine außergewöhnlich traumwandlerische LekTÜRE.

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://arsvivendi.com/Buch/Search/9783869131061-Zwitschernde-Fische

 

Wer gerne die wunderbaren Gesprächseröffnungsideen nachlesen möchte, schaue bitte unter folgendem Link nach, dort auf CHRINOLOS Webseite habe ich mich nämlich auf den ersten Leseblick in dieses Buch verguckt: https://seelenglimmern.com/2018/02/11/hier-konnte-in-einsamkeit-zweisamkeit-erbluehen/

 

Hier entlang zum Buchtrailer:

 

Der Autor:

»Andreas Séché, geboren 1968, schrieb als Journalist für Tageszeitungen und war zwölf Jahre lang Redakteur bei einer Zeitschrift in München, bevor er in seine Heimat, das Rheinland, zurückkehrte. Heute lebt er als Schriftsteller am Niederrhein. Bei ars vivendi sind bisher seine Romane Namiko und das Flüstern (2011), Zwitschernde Fische (2012) und Zeit der Zikaden (2013) erschienen.« http://andreas-seche.de

 

Querverweis:

Wechselwirkungen zwischen Literatur und Leben sind ein unermüdliches und spannendes Thema für Romane. Von einer solchen literarischen Spurensuche, ihren heiter bis wolkigen zwischenmenschlichen Verstrickungen, nebst schelmischen Bezügen zu verlegerischen Buchvermarktungsstrategien, handelt auch „Das geheime Leben des Monsieur Pick“ von David Foenkinos: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2017/05/01/das-geheime-leben-des-monsieur-pick/

 

Leselebenszeichen-Datenschutzerklärung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/datenschutzerklaerung/

Eine Arche ist eine Arche ist eine Arche

  • Verlegerinnenleben
  • von Elisabeth Raabe
  • edition momente   Januar 2016    www.edition-momente.com
  • gebunden, mit Schutzumschlag
  • Fadenheftung und Leseband
  • 240 Seiten mit 212 Fotos
  • Format: 19 x 11,4 cm
  • 22,– €
  • ISBN 978-3-9524433-1-6
    Eine Arche ist eine Arche

HINTER  DER  BÜCHERKULISSE

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Die meisten Leser wollen eine Geschichte lesen, sich romantisch, spannend, geistreich oder amüsant unterhalten lassen, einer Sprachmelodie lauschen oder sich Wissen anlesen; über den Autor macht sich der Leser vielleicht schon beiläufig Gedanken und auch Empfindungen, aber der Verlag und die Menschen, die hinter diesem Verlag stehen, geraten selten in den Fokus der Leseraufmerksamkeit. Dabei ist Literaturgeschichte unmittelbar mit Verlagsgeschichte verbunden.

Die deutsche Lektorin Elisabeth Raabe und die Züricher Buchhändlerin Regina Vitali unterschrieben am 31. Dezember 1982 den Kaufvertrag für den alteingesessenen Züricher Verlag Die Arche, der nach dem Tode seines Gründers Peter Schifferli zum Verkauf stand.

Die beiden Neuverlegerinnen treten das große literarische Erbe eines kleinen, feinen Verlages an: Das erste Buch, das 1945 im jungen Arche Verlag erschien, war „Die Brücke  von San Luis Rey“ von Thornton Wilder. Viele berühmte Autoren folgten: Ezra Pound, Gertrude Stein, Antoine de Saint-Exupéry, Gottfried Benn, Werner Bergengruen, Friedrich Dürrenmatt, Friedrich Glauser …  Texte von Dadaisten (Hans Arp, Hugo Ball, Tristan Tzara u.a.) und Expressionisten (Jakob von Hoddis, Georg Trakl u.a.) … Adolf Muschg, Hugo Loetscher …

1300 Titel befinden sich in der literarischen Vorratskammer – der sogenannten Backlist. In unzähligen Chefinnennachtschichten wird sortiert, welche Titel bleiben, welche gehen und welche in Neuausgaben erscheinen sollen. Der Vertrieb wird neu organisiert und das Rechnungswesen modernisiert.

1983 beginnt die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Buchdesigner, Grafiker und Typographen Max Bartholl, die sich bis in die Gegenwart erhalten hat. Schon 1984 erscheint der erste Arche Literatur Kalender, ein Wochenkalender mit Fotos und Zitaten berühmter Autoren, der sich schnell zum Klassiker entwickelt. Der erste Arche Literatur Kalender steht unter dem Oberbegriff »Beziehungen« und zeigt literarische Paare in Bild und Textdokumenten. Und die Ideen für neue Jahresthemen gehen Elisabeth Raabe in all den folgenden Kalenderjahren (mehr als dreißig sind es inzwischen) keineswegs aus.

Die beiden Verlegerinnen verfügen über literarisches Herzblut, doch die Verlagsführung ist und bleibt sehr arbeitsintensiv, zumal 1994 – für das operative Geschäft mit Deutschland – eine Zweigniederlassung des Verlages in Hamburg gegründet wird und häufiges Pendeln zwischen Zürich und Hamburg sowie Buchmessen usw. den Arbeitsumfang und Zeitaufwand maximieren. Gleichwohl werden auch immer wieder Feste gefeiert: Jubiläen, Geburtstage, Abschiede und außergewöhnliche verlegerische Erfolge sowie – wegen diverser Umzüge des Verlages – Einweihungsfeierlichkeiten.

Wir erfahren von verlegerischen Erfolgen und Mißerfolgen, glücklichen Fügungen und Enttäuschungen, literarischen Entdeckungen und Begegnungen. Es gibt nette Anekdoten, einige Prisen Züricher Lokalkolorit und viele, viele Fotodokumente, welche die bewegte Verlagsgeschichte illustrieren.

Streiflichternd lasse ich zwölf markante Arche-Verlags-Buchtitel aufleuchten, die gewiß den einen oder anderen Wiedererkennungseffekt haben:

1985: „Hanns Dieter Hüsch hat zugegeben…“ Ein Portrait zum 60. Geburtstag des Kabarettisten zusammengestellt von Bernd Schroeder
1986: „Althénopis. Kosmos einer Kindheit“ von Fabrizia Ramondino
1989: „Straßen aus Staub“ von Rosetta Loy
1990: „Ich glaube, ich fahre in die Highlands“ von Margaret Forster
1990: „Spaziergänge durch Goethes Weimar“  von Paul Raabe
1997: „Das Wüten der ganzen Welt“ von Maarten‘t Hart
1998: „Tanz mit dem Jahrhundert“ von Stéphane Hessel
1999: „Blitzeis“ Erzählungen von Peter Stamm
1991: „Im Netz der Zauberer. Eine andere Geschichte der Familie Mann
von Marianne Krüll
2001: „Selbstportrait mit Eltern“ von Nicolaas Matsier
2004: „Familienleben“ Viola Roggenkamps Romandebüt
2007: „Alle sterben, auch die Löffelstöre“ Kathrin Aehnlichs Debütroman

Weiterhin gepflegt werden Titel zum Thema Dadaismus und Expressionismus, das italienische Programmsegment wird ausgebaut mit Autorinnen wie Natalia Ginzburg, Grazia Deledda, Fabrizia Ramondino, Maria Messina, Laura Mancinelli, Elsa Morante u.a.

Im Frühjahr 1995 erscheint ein literarisches Kochbuch von Sybil Gräfin Schönfeldt „Bei Thomas Mann zu Tisch. Tafelfreuden im Lübecker Buddenbrookhaus“ – Auftakt einer literarisch-kulinarischen Buchreihe, der noch einige weitere Titel folgen: „Bei Fontane zu Tisch. Wanderungen durch des Dichters Eßlandschaften“ (1997) und „Gestern aß ich bei Goethe. Bilder einer neuen Gastlichkeit“ (2002). Eine köstliche Nebenwirkung ergibt daraus, daß Gräfin Schönfeldt für die Fotografien sämtliche Speisen nachkocht, historisch getreu tischdekorativ arrangiert und die beiden Verlegerinnen anschließend in den Genuß dieser Speisen kommen.

1996 erscheint der erste Arche Musik Kalender, das musikalische Pendant zum Arche Literatur Kalender.
2005 folgt der erste Arche Küchen Kalender „Literatur & Küche“, ein Wochenkalender mit Rezepten, Tipps und Bildern, hrsg. von Sybil Gräfin Schönfeldt.

Verlagsarbeit ist neben Lektorat, Herstellung, Vertrieb, Lizenzgeschäft, Verwaltung und Pressearbeit auch wesentlich kommunikative Kontaktpflege. So wie Elisabeth Raabe die alltäglichen Verlagsroutinen und die von ihr und Regina Vitali gepflegte persönliche Unternehmenskultur beschreibt, gewinnt man den Eindruck einer angenehm zwischenmenschlich-engagierten Beziehungspflege, die Autoren, Übersetzer, Lithographen, Drucker, Fotografen, Verlagsmitarbeiter und Verlagsvertreter sowie Literaturagenten, Journalisten und Buchhändler mit einschließt. Die Grenzen zwischen beruflichem Kontakt und wertvollen, wachsenden Freundschaften sind oft fließend.

So manches Mal baut ein kleiner Verlag u.a. durch sein akribisch-einfühlsames Lektorat einen unbekannten Autor auf, kaum ist er berühmt und erfolgreich, wird er von einem größeren und zahlungskräftigeren Verlag abgeworben – auch diese Erfahrung bleibt den Arche Verlegerinnen nicht erspart.

Der Buchmarkt hat sich in den letzten drei Jahrzehnten sehr verändert – auch ich als Buchhändlerin weiß ein wehmütiges Lied davon zu singen – ; die zunehmende Konzentration der Marktmacht und des finanziellen Spielraumes bei großen Verlagsgruppen, Supermarkt-Buchhandelsketten und Online-Konzernkraken trägt nicht dazu bei, literarische Diversität, Individualität, Originalität und Textreifungsgeduld zu fördern. Es gibt sehr viele Bücher, aber nur wenig LITERATUR!

Die Arche Verlegerinnen streichen 2008 die Segel und verkaufen ihren Verlag an die Verlagsgruppe Oetinger. Sie gründen die Arche Kalender Verlag GmbH, Hamburg, und konzentrieren sich fortan nur noch auf die drei nach wie vor erfolgreichen und beliebten Wochenkalender, die 2010 noch um den feinen Arche Kinder Kalender ergänzt werden.

Mit „Eine Arche ist eine Arche ist eine Arche“ lesen wir ein interessantes und abwechslungsreiches Stück Zeitgeschichte am Beispiel der Firmengeschichte eines Verlages und der Lebensarbeitsleistung zweier Vollblut-Verlegerinnen.

Vielleicht ist dies eher eine Lektüre für buchhandelsinterne und literaturhistorische Leserkreise, doch Bücher brauchen Leser und Leser brauchen Bücher, aber ohne Verleger, gäbe es wohl kaum Bücher – manchmal sollte man sich dankbar daran erinnern … 

 

Die Autorin:

»Elisabeth Raabe, geboren in Oldenburg. Studium der Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. 1972-83 Lektorin bei Rowohlt, Cecilie Dressler und Otto Maier Ravensburg. Gemeinsam mit Regina Vitali 1983 – 2008 Inhaberin und Verlegerin der Arche Verlag AG, Zürich, 1987 – 94 des Luchterhand Literaturverlags, Darmstadt. 1994 Niederlassung des Arche Verlags in Hamburg. Seit 2008 Verlegerin des Arche Kalender Verlags. 2014 Gründung der edition momente Raabe + Vitali, Zürich-Hamburg.«

Querverweis:

Wer neugierig auf die Arche Kalender geworden ist, kann sich unter den beiden nachfolgenden Links meine illustren Besprechungen vom letzten Jahr dazu ansehen:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/10/14/arche-literatur-kalender-2016/
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/10/18/arche-kinder-kalender-2016

Die Kalender für 2017 werde ich im Oktober/November 2016 rezensieren …

 

PS:
Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang einen kurzen buchhändlerbiographischen Rückblick auf meine Berufserfahrung mit dem Arche Verlag:
1983 begann ich meine Ausbildung zur Buchhändlerin, und 1984 kaufte ich mir mein erstes Arche-Buch „Das Kino im Kopf“ (Hrsg. von Hans Stempel und Martin Ripkens),  eine Anthologie von poetischen und prosaischen Texten zum Thema Kino und Film, verfaßt von berühmten Autoren und Dichtern vom Expressionismus bis zu Konstantin Wecker. Inhaltlich niveauvoll-nostalgisch und äußerlich wunderschön graphisch gestaltet, mit silberfarbenen Vorsatzblättern … Obwohl ich damals noch wenig Berufserfahrung hatte, war mir schon die besonders sorgfältige Gestaltung angenehm ins Auge gefallen. So schärfte ich meinen Blick für Qualität …

Ein ganz besonderes Jahr

  • Roman
  • von Thomas Montasser
  • Thiele Verlag   September 2014  www.thiele-verlag.com
  • 192 Seiten
  • Format 11,5 x 18,5 cm
  • gebunden mit Schutzumschlag & LESEBÄNDCHEN
  • 18,- € (D), 18,50 € (A), 25,90 sFr
  • ISBN 978-3-85179-305-5
    Ein ganz besonderes Jahr

DER  BÜCHER  BLÜTENSTAUB

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Hier geht es um die Liebe zu Büchern, die Verführungskraft von Geschich- ten, die Berührung durch Poesie, die Zauberkraft von Sprache, um schicksalhafte Wendungen, rätselhafte Fügungen, zwischenmenschlich-einflußreiche Buchhändler, phantasievolle Spielräume und nicht zuletzt um den roten Faden der Liebe im allgemeinen und im besonderen.

Mit „Ein ganz besonderes Jahr“ betreten wir den Schauplatz einer kleinen, schönen altmodischen Buchhandlung, deren bescheidene räumliche Ausdehnung in inspirierendem Kontrast zur geistigen Weite und Weltläufigkeit der dort verborgenen literarischen Schätze und Horizonte steht.

Die Inhaberin, die fast achtzigjährige Charlotte, ist einfach verschwunden und hat lediglich einen Zettel hinterlassen mit der Anweisung, ihre Nichte Valerie möge „sich umalles kümmern“. (Seite 13)

Valerie besitzt einen frischen Abschluß in Betriebswirtschaft und hat bereits viele Bewerbungen an erfolgreiche Unternehmen verschickt. Doch sie stellt sich dieser – ihren bisherigen beruflichen Plänen widersprechenden – Herausforderung. Ein wenig widerwillig schließt sie nun die Türe der Buchhandlung „Ringelnatz & Co“ auf und beginnt mit einer systematischen betriebswirtschaftlichen Bestandsaufnahme. Dabei läßt sie auch angenehme Erinnerungen an die in ihrer Kindheit dort glücklich verbrachten Lesezeiten und die fast ein halbes Jahrhundert währende Lebensgeschichte der Buchhandlung Revue passieren.

Nach Valeries desillusionierender Auswertung des handschriftlich geführten Kassen- buches braucht sie erst einmal eine Teepause und setzt Tante Charlottes Samowar in Gang.

Während sie darauf wartet, daß das Wasser kocht, beginnt sie mit der Lektüre eines Romans und merkt erst 248 Seiten später, daß der Samowar gemütlich vor sich hin köchelt und daß sie sich kein bißchen gelangweilt hat. Ja, bereits an dieser Stelle dürfen wir uns der berechtigten Hoffnung hingeben, daß Valerie sich nach und nach, von Lek- türe zu Lektüre und von Buch zu Buch in eine veritable Buchhändlerin verwandeln wird.

Valerie entdeckt bei der Durchsicht von Tante Charlottes ordentlichen Ordnern wunderschöne Dankesbriefe von buchbeglückten Kunden, die bezeugen wie sehr die Lektüre eines Buches Einfluß auf das wirkliche Leben nehmen kann.

Schritt für Schritt arbeitet sich Valerie in die – ohne Computerunterstützung – funktionierende Buch- und Bestellkärtchensystematik von Tante Charlotte ein. En passant kommt auf diesem Wege auch Tante Charlotte zu Wort – mit ihren dort hinterlassenen Notizen, Bewertungen, Charakterisierungen und Empfehlungs- argumenten zu bestimmten Werken.

Valerie geht gewissermaßen in die Lehre bei ihrer abwesenden Tante und den anwesenden Büchern. Der anregende kommunikative Austausch mit einigen ganz besonderen Kunden eröffnet ihr zudem zusätzliche, bereichernde Leseperspektiven und Buchbetrachtungsweisen.

Im Lagerbestand von „Ringelnatz & Co“ entdeckt Valerie ein Buch, dessen Geschichte sie ganz persönlich anspricht, doch dieser Roman mit dem Titel „Ein ganz besonderes Jahr“ verliert sich nach wenigen beschriebenen Seiten in einen Buchblock voll unbeschrie- bener Blätter – offenbar (oder scheinbar?) ein Fehldruck. Ihre Recherche nach Autor und Verlag verläuft im Sande, und so legt sie das Buch in eine Schachtel mit vorläufig noch unentschiedenem Papierkram.

Eines Tages betritt ein sehr attraktiver, elegant-kultivierter Kunde die Bühne der Buch- handlung, der genau diesen unvollständigen Roman schon lange sucht. Andächtig liest er den ersten Satz („Der Wetterumschwung hatte sich durch nichts angekündigt.“) leise vor und fragt nach dem Preis des Buches. Valerie schenkt es ihm spontan. Der junge Mann bedankt und verabschiedet sich, und Valerie schaut ihm nach, während wir – als aufmerksame Leser – schon Amors Flügelschlagen, oder zumindest Amors Pfeilchenjustierung zu hören vermeinen.

Valerie wächst zu ihrer eigenen Überraschung in ihre Buchhändlerinnenrolle hinein, der Blütenstaub der Bücher befruchtet ihren Geist, der Frühling folgt dem Sommer, Valerie stellt einen Stuhl und ein Tischchen auf den Bürgersteig vor „ihrer“ Buchhandlung und trinkt dort ihren Tee. Zwischen Teeblättergenuß und vielseitigem Büchergeblätter lernt sie ihre Nachbarn kennen und verfeinert ihr buchberaterisch-zwischenmenschliches Fingerspitzengefühl.

Gänzlich unerwartet, aber keineswegs unerwünscht, erhält Valerie einen zauberhaften Brief, nebst einem wohlgewählten Buchgeschenk, von jenem sympathischen jungen Mann, dem sie „Ein ganz besonderes Jahr“ geschenkt hat. Das Echo von Valeries Herz- klopfen ist zwischen den Zeilen nicht zu überhören, doch leider hat der Absender keine Adresse und nur eine unleserliche Unterschrift hinterlassen…

Indes habe ich hier schon mehr als genug ausgeplaudert und werde nur noch andeuten, daß Bücher auch Fahrkarten sein können …

Thomas Montassers „Ein ganz besonderes Jahr“ ist ein feines, buchlieb- haberisches Buch, mit erlesenen Leseappetitanregungen auf literarischem Niveau. Formulierungsflirtend lockt uns der Autor auf alte und neue Lese- wege, streut hier und da ein passendes Zitatblütenblatt als literarische Duftnote auf den Weg und fügt diesen Bücherreigen charmant-changierend in den Handlungsverlauf des eigenen Buches ein.

Neben der sprachlich-inhaltlichen Würdigung zahlreicher Werke der Weltliteratur gibt der Autor auch dem Druck- und Buchbindekunsthandwerk sowie der haptischen Qualität der Buchgestaltung die gebührende Ehre und Anerkennung – getreu dem Motto eines Stammkunden von „Ringelnatz & Co“, der sehr treffend bemerkt: Ein Buch ist weit mehr als die Summe seiner Buchstaben! (Seite 94)

So schließt sich der Lesekreis, denn auch das vorliegende Buch ist von liebevoll-sorg- fältiger Ausstattung: eine satte, leseangenehme Typographie auf chamoisfarbenem Papier, 1950er-Jahre Schreibmaschinentastatur-INITIALEN zu jedem Kapitelanfang und Vorsatzblatt- und Schutzumschlagmotive, die schön mit dem Romaninhalt korres- pondieren, sowie ein grünes Stofflesebändchen.

Zum Abschluß noch ein verführerisches Zitatblütenblatt als Leseeinladung:

„Ein Buch zu entdecken, das bedeutet, sich frei über die Notwendigkeiten des Alltags zu erheben und auch das eigene Leben für die Dauer der Lektüre aus dem Hier und Jetzt zu pflücken, um es an einen anderen Ort zu verpflanzen.“ (Seite 147)

 

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.thiele-verlag.com/buch/ein-ganz-besonderes-jahr

 

PS:
Mein besonderer Dank gebührt der erfreulichen Tatsache, daß Thomas Montasser nicht nur ein Herz für Bücher, sondern auch ein Herz für Buchhändler hat. Als „alte“ Buchhändlerin, die sich von Jahr zu Jahr mehr als Mitglied einer vom Aussterben bedrohten Berufsspezies fühlt, ist es tröstlich, ein solch freundlich-emphatisches und liebkosendes Lob echter buchhändlerischer Qualitäten zu lesen.


Querverweis:

Und hier gibt es einen weiteren lesenswerten Roman von Thomas Montasser:
Monsieur Jean und sein Gespür für Glück
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/03/07/monsieur-jean-und-sein-gespuer-fuer-glueck/

 

Der Autor:

»Thomas Montasser arbeitete als Journalist und Universitäts-Dozent und war Leiter einer kleinen Theatertruppe. Er schrieb große Epochenromane (Die verbotenen Gärten), unter dem Pseudonym Fortunato auch Kinderbücher (Zauber der Wünsche). Als Vater von drei Kindern lebt er mit seiner Familie in München. Er ist Literaturagent und kennt nichts Schöneres, als in kleinen Buchhandlungen zu stöbern. Mit Ein ganz besonderes Jahr hat er sich seinen Traum erfüllt, endlich ein Buch über die Macht der Geschichten und über ihren Zauber zu verwirklichen.«

 

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