Alte Sorten

  • von Ewald Arenz
  • Roman
  • Dumont Buchverlag   März 2019  www.dumont-buchverlag.de
  • gebunden
  • LESEBÄNDCHEN
  • 256 Seiten
  • ISBN 978-3-8321-8381-3
  • 20,00 € (D)

WACHSENDES  VERTRAUEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Literarische Figuren, die eine solch atmende Wahrhaftigkeit ausstrahlen wie in Ewald Arenz‘ Roman „Alte Sorten“ haben Seltenheitswert.

Es ist Spätsommer, und die siebzehnjährige Sally wandert einen Weinberg hinauf. Sie verfolgt kein Ziel; sie will einfach nur weg, weg von der Klinik, in der ihre Magersucht geheilt werden soll, weg von den Menschen, die sie nicht in Ruhe und nicht so sein lassen wollen, wie sie ist, und Sallys Wut mit ihrer therapeutischen Sanftmut erst recht zur Weißglut treiben. Noch scheint ihre Flucht nicht aufgefallen zu sein, und Sally überlegt, ob sie sich zutraut, draußen in der Natur oder vielleicht in einer Scheune im Heu zu übernachten.

Die Landwirtin Liss ist zwischen ihren Weinstöcken mit dem Anhänger ihres Traktors in einer Rinne stecken geblieben und fragt Sally, ob sie ihr kurz helfen könne, das Rad zu befreien. Sally ist von dieser direkten Frage und einfachen Bitte angenehm überrascht und packt unwillkürlich mit an. Nachdem der Wagen wieder an den Traktor angekuppelt ist, bietet Liss Sally spontan eine Übernachtung auf ihrem Hof an.

Sally wundert sich, aber sie nimmt das Angebot mit mißtrauischer Dankbarkeit an. Am nächsten Morgen – Liss ist längst mit Hofarbeiten beschäftigt – findet Sally auf dem Küchentisch eine abgedeckte Schale mit kleingeschnittenem Obst, Nüssen und Honig sowie eine Kanne mit schwarzem Tee. Als Sally vorsichtig vom Obst nascht, schmecken ihr die Birnenstückchen überraschend gut.

Sally, das Stadtkind, bleibt auf dem Bauernhof und findet schnell Gefallen am Land- leben. Sie hilft Liss bei der Kartoffel- und Obsternte, beim Holzstapeln, bei der Bienen- pflege und beim Brotbacken. Liss ist Mitte bis Ende vierzig, sie ist groß und stark und bewirtschaftet ihren Hof alleine; offensichtlich leisten ihr außer einer Schar Hühnern nur noch unzählige Bücher Gesellschaft. Sallys Fragen nach ihrer Vergangenheit weicht sie aus.

Beide Frauen haben enttäuschende, schlechte, verletzende Erfahrungen mit zwischen-menschlicher Nähe gemacht, beide lieben ihre Freiheit, reagieren allergisch auf Manipu-lationsversuche und verhalten sich gewohnheitsmäßig eher spröde bis abweisend. Aus regelmäßigen Erinnerungsrückblenden erfahren wir nach und nach von ihren jeweiligen biographischen und emotionalen Werdegängen.

Naturerfahrungen, die körperlich anstrengende, gleichwohl sichtbar-sinnerfüllte Arbeit, die einfachen Speisen und die Freiheit, die Liss Sally läßt, führen dazu, daß Sally wieder Geschmack am Leben findet, daß sie besser geerdet ist und zu sich findet. Liss, die sich in ihrer Einsamkeit eingerichtet hat und eingeschmiegt in die Gesetzmäßigkeiten der Jahreszeiten alle notwendigen Landarbeiten mit meditativer Präzision erledigt, empfindet zaghafte Freude an der Gesellschaft und an der lebhaften Mithilfe und Wißbegier von Sally.

Die Entwicklung des für beide Frauen ungewohnten zwischenmenschlichen Vertrauens verläuft keineswegs reibungslos. Die beiden Außenseiterinnen ringen oft um Worte und Erklärungen, bewegen sich aufeinander zu und entfernen sich wieder. Es gibt Mißver-ständnisse und unbeabsichtigte Verletzungen, und besonders Sallys jugendlicher Zorn ist vorschnell, oft maßlos und durchaus anstrengend, doch auch Liss‘ besonnene, lebenserfahren-selbstreflektierte Wesensart hat – in Anbetracht ihrer nicht undrama- tischen Lebensgeschichte – Grenzen, die nicht überstrapaziert werden dürfen.

Hier begegnen sich zwei Seelenverwandte, deren vorsichtige Öffnung und wechsel- seitige Zuneigung sich durch alte Wunden, Krusten, Narben, Ängste und Vermeidungs- strategien kämpfen müssen. Liss rettet Sally das Leben, indem sie ihr den Raum läßt, wirklich zu werden und ein ungezwungenes Miteinander zu erfahren.

Es bleibt nicht aus, daß andere Menschen sich störend einmischen, denn Sally wird ja polizeilich gesucht … Diese Einmischung und die damit verbundenen Konsequenzen stürzen Liss in eine existenzielle Sinnkrise, aus der sie wiederum von Sally gerettet wird.

Am Ende steht eine sturmerprobte Freundschaft, die für Liss und Sally deutlich kon- struktivere und zuversichtlichere Lebensweichenstellungen möglich macht.

Ewald Arnez gelingen in diesem Roman nicht nur sehr überzeugende, einfühlsame Psychogramme und feinsinnige Sprachbilder für alle Gefühlslagen, sondern er schafft dabei auch eine greifbar sinnliche, ebenso poetische wie handfest-elementare ländliche Atmosphäre. Man spürt den Sommer auf dem Lande beim Lesen, man riecht, schmeckt, hört und fühlt mit. Eine Textpassage aus einer Szene im Obstgarten, in der Sally ver-schiedene Birnensorten verkostet, möge diese ansprechende literarische Sinnlichkeit illustrieren:

„Sally schnitt sich diesmal ein größeres Stück ab. Sie wollte das Rot und das Weiß schmecken. Es war schwer, ein Wort für diese Mischung aus fest und zergehend zu fin-den, die das Fleisch im Mund hatte. Und sie meinte, das Rot süßer zu schmecken und im Weiß eine winzige Spur Bitterkeit, und zusammen war es ein Geschmack, der … vielleicht würde Sonnenlicht so schmecken, wenn es nach einem langen Sommer durch das weite Blau des Himmels und dann durch das alte Grün hoher Bäume direkt auf die Zunge fiele.“ (Seite 114)

Die buchgestalterische Aufmachung des Romans korrespondiert optisch und haptisch mit der Sinnlichkeit des Textes. Das leicht angeraute an grobes Leinen erinnernde Ein- bandpapier und die mit glänzendem Prägedruck aufgebrachte botanische Illustration eines fruchtenden Birnbaumzweiges sowie der zarte Sonnenstrahl des leuchtend gelben Lesebändchens geben einen stimmigen Vorgeschmack auf die Lektüre.

„Alte Sorten“ ist ein bemerkenswerter Roman voller lebenszärtlicher Betrachtungen, inniger Naturverbundenheit und beiläufiger, gleichwohl eindrucksvoller Weisheit und berührender Herzenstiefe.

„Es war so selten, dass die Dinge im Gleichgewicht waren. Ohne Glück und ohne Trauer. Oder anders: dass Glück und Traurigkeit in einem so in der Schwebe waren, in so einer perfekten Balance, dass man sich nicht bewegen wollte. Vielleicht fühlten sich Seil- tänzer so, wenn sie hoch oben waren, in dem einen Moment, in dem eine gerade Linie genau durch die Mitte des Körpers geht und genau durch die Seele des Seils und bis zum Boden und dann bis zum innersten Kern der Erde; in dem einen bewegungslosen Moment der Mitte.“ (Seite 127)

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der  Verlagswebseite:
http://www.dumont-buchverlag.de/buch/arenz-alte-sorten-9783832183813/
Hier entlang zur inzwischen erschienenen Taschenbuchausgabe:
https://www.dumont-buchverlag.de/buch/tb-arenz-alte-sorten-9783832165307/

Hier entlang zu Bris Rezension, die mich dankenswerterweise als erste auf Ewald Arenz‘ Roman aufmerksam machte: https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2019/05/19/der-eine-bewegungslose-moment-der-mitte/

Der Autor:

»Ewald Arenz, 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Der Autor lebt mit seiner Familie in der Nähe von Fürth.«

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Das bleibt in der Familie

  • Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten
  • von Sandra Konrad
  • PIPER Verlag,  April 2013    https://www.piper.de/
  • gebunden, mit Schutzumschlag
  •  304 Seiten
  • 19,99 €, 20,60 € (A), 26,90 sFr
  • ISBN 978-3-492-05526-0
  • Taschenbuchausgabe: August 2014
  • 11,00 € (D), 11,40 € (A)
  • ISBN 978-3-492-30530-3
    Das bleibt in der Familie]

AHNENFORSCHUNG  AUF  PSYCHOLOGISCH

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

„Das bleibt in der Familie“  ist ein allgemeinverständliches, interessantes und sogar spannendes Sachbuch über transgenerationale Übertragungen. Die Autorin stellt jedem Kapitel ein treffendes Zitat voran − häufig aus belletristischen Werken –, das den Sach- buchcharakter um einige zusätzliche zwischenmenschliche und allgemeinverbindliche Dimensionen erweitert und der Einstimmung in die Thematik sehr dienlich ist.

Sandra Konrad vermittelt in einfühlsamer und klarer Sprache Einsichten in verborgene familiäre Wirkmechanismen, generationenübergreifende emotionale Wechselwirkungen und Schicksalskreisläufe. Die zahlreichen berührenden Fallbeispiele illustrieren anschaulich und einleuchtend, wie sehr jeder Mensch − zumindest auf psychischer Ebene  − „in der Familie bleibt“, selbst wenn er räumlichen Abstand hält.

Mit unserer Geburt betreten wir die Bühne unserer Familie, und wir werden Teil einer Familiengeschichte, die schon lange vor uns angefangen hat. Es gibt leichte und schwere Rollen, komische und tragische Ereignisse, Liebe und Haß, Gebote und Verbote, Geheim- nisse, Konflikte, Scham und Schuld, Traditionen, Tabus, ausgesprochene und unausge- sprochene Erwartungen, Enttäuschungen, Verletzungen, Heilungen, Träume und Hoffnungen – wir haben unsere  familiäre emotionale Mitgift. Die Zeitschichten und Lebensläufe verschiedener Generationen überschneiden sich mit unserer Gegenwart und nehmen auf sie Einfluß. Der Fachbegriff dafür heißt transgenerationale Übertragung.

Die Autorin ist Diplompsychologin und arbeitet seit 2001 als systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin. Sie hat sich auf die  Analyse und Therapie  familiärer Gegebenheiten unter dem Einfluß  transgenerationaler Übertragung spezialisiert.

Mit Hilfe eines psychologischen Familienstammbaumes über drei Generationen hinweg werden neben den äußeren Lebensdaten psychologisch bedeutsame Ereignisse erfaßt, darunter vor allem biographische Einschnitte (z.B. Auswanderungen, besonders schmerzliche Verluste, Kriegserfahrungen, Trennungen, sozialer Auf- oder Abstieg, Krankheiten), Charakterstärken- und Schwächen, schwarze Schafe und Helden, Probleme und wunde Punkte. Durch solch ein Genogramm ist es möglich, Muster, Schwerpunktthemen und Wiederholungsschleifen zu erkennen und konstruktive Lösungen zu erarbeiten, um freier für neue Wege der Lebensgestaltung zu werden.

Auch unverarbeitete oder verschwiegene traumatische Erlebnisse, die im familiären Erbe bis zu ihrer Lösung nachwirken, können durch die therapeutische Belichtung erkannt, eingeordnet und behandelt werden.

Manchmal ist für diese psychologische Ahnenforschung detektivischer Spürsinn notwendig, aber je mehr ans Licht kommt, desto besser gelingt es, alte Lasten abzulegen und aus früheren Fehlern zu lernen, ohne sie unbewußt zu wiederholen. Manche Themen sind offensichtlich, manche erscheinen in Verkleidung, z.B. als Krankheitssymptom, das ein unbewußtes Geheimnis durch Körpersprache „reinszeniert“.

Die Lektüre eines Buches ersetzt keine Therapie, aber die Lektüre von „Das bleibt in der Familie“  ist auf jeden Fall eine gute erste Hilfe beim Entwirren familiärer Verstrickungsfäden und eine konstruktive Ermutigung, ange- sichts der Gefühlsladung des familiären Erbes zu bewußterem Wissen zu kommen.

„Jeder Schritt hin zu einer durchsichtigen Geschichtsschreibung hilft zu verstehen, wie sich ein positives oder ein quälendes Lebensgefühl über die Zeit und die Generationen hinweg vermitteln konnte. Wer Gefühle von Familienmitgliedern übernommen hat, kann sie leichter loslassen, wenn er sie den jeweiligen Personen zuordnen kann und deren Kontext versteht.
Es gibt leichtere und schwierigere Fragen. Einige Antworten können wir uns selbst geben, für andere brauchen wir die Hilfe unserer Familie. Und manchmal brauchen wir einen geschulten Blick von außen und therapeutische Hilfe, um aus dem emotionalen Dickicht herauszufinden.“
(Seite 281)

Im Vordergrund der therapeutischen Betrachtung stehen zunächst die „schlechten“, leidtragenden Weitergaben aus der familiären Vergangenheit; doch nachdem man sich den Schattenseiten und Schmerzen der Vergangenheit stellen konnte, lassen sich auch lichte Seiten, gute Gaben und lohnende Schätze im emotionalen Familienerbe finden.

Aus eigener Erfahrung kann ich nur jedem empfehlen, einen solchen seelischen Familienhausputz zu wagen. Befreit von klebrigen, emotionalen Spinnweben, läßt sich viel leichter der eigene rote Faden erkennen.

Ergreifen Sie also Ihren roten Faden, und weben Sie ein heilsames, schönes neues Muster in Ihr persönliches Familiengewebe!

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.piper.de/buecher/das-bleibt-in-der-familie-isbn-978-3-492-30530-3

 

Die Autorin:

»Sandra Konrad ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit 2001 als systemische Einzel,- Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Hamburg. http://www.paar-und-familientherapie.de/ Im Rahmen ihrer Doktorarbeit untersuchte sie mehrgenerationale Weitergaben, besonders in Bezug auf Traumata. Sie ist Co-Autorin des Buches »Der geheime Code der Liebe«. «

PS:
Meine persönliche familiäre Reise in die Vergangenheit hat mich räumlich durch halb Europa und zeitlich bis ins Jahr 1870 geführt. Obwohl es noch einige weiße Flecken auf der Seelen- landkarte meiner Herkunftsfamilie gibt, habe ich jetzt schon Stoff für einen reichhaltigen historischen Abenteuer- und Liebesroman, und vielleicht beherrsche ich eines Tages auch sieben Sprachen – wie mein Großvater…

QUERVERWEIS:

Dieses Sachbuch ergänzt sich hervorragend mit dem Roman
Als der Sommer eine Farbe verlor von Maria Regina Heinitz.
Hier entlang zu meiner Besprechung:

Als der Sommer eine Farbe verlor

 

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