Die Markierung

  • von Fríða Ísberg
  • Roman
  • Originaltitel: »Merking«
  • Aus dem Isländischen von Tina Flecken
  • Hoffmann und Campe Verlag, September 2022 http://www.hoffmann-und-campe.de
  • gebunden
  • 288 Seiten
  • 23,00 €

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T E S T G E S E L L S C H A F T

Rezension von Ulrike Sokul ©

Läßt sich die Wahrscheinlichkeit ethischen Verhaltens durch einen neurologischen Test messen und vorhersagen? Die nahzukünftige Gesellschaft, die Fríða Ísberg in ihrem Roman beschreibt, ist auf dem Weg, einen Empathie-Test zur bürgerlichen Pflicht zu machen. Wer die empathischen Mindestwerte nicht erreicht, bekommt Therapieangebote, um sich zu bessern und später einen erneuten Test zu absolvieren. Auf diese Weise sollen Aggressionen, psychopathologisches Verhalten und Kriminalität vorbeugend vermieden bzw. ausgeschlossen werden.
Wer sich dem Test unterzieht und ihn besteht, wird  entsprechend digital markiert und in ein öffentlich einsehbares Register eingetragen. Auch Firmen, Geschäfte, Restaurants, Schulen, Wohnhäuser, ja, ganze Stadtviertel können sich markieren lassen, um als sichere Orte klassifiziert zu werden.
Unmarkierte Menschen, die den Test ablehnen oder nicht bestanden haben, können dann solche privaten Sicherheitszonen und diverse Bereiche des öffentlichen Lebens nicht mehr betreten oder werden beispielsweise von entsprechend markierten Geschäften nur noch über eine Luke bedient. Denn allgegenwärtige Gesichtsscanner an Eingangstüren, Kameraüberwachungen, smarte Uhren und holografische KI-Assisten- ten erfassen fast lückenlos die Identität und die Bewegungsprofile der Menschen.  
Die abwertende Ausgrenzung und Nötigung, der in diesem Roman unmarkierte Menschen ausgesetzt werden, erinnern – wahrscheinlich nicht von ungefähr – lebhaft an die Diskriminierung, Entrechtung und Schikane, denen Ungeimpfte vor noch gar nicht langer Zeit in unserer Sicherheitsgesellschaft ausgesetzt wurden.
Für eine gesetzliche Markierungspflicht setzen sich diverse Interessensgruppen ein und es gibt selbstverständlich auch eine Antimarkierungsbewegung. Da es in Folge von nicht bestandenen Empathietests zu einigen Selbstmorden von männlichen Jugend- lichen kommt sowie zu Depressionen und Suchterkrankungen in Folge der medika- mentösen Behandlung angeblich unzureichender Empathie, schwanken die gesell- schaftlichen und zwischenmenschlichen Haltungen zur geplanten Sicherheits- architektur.
Die Tests führen zu Ausgrenzung  und Traumatisierung der Empathietest-Versager. So kann ein Betroffener in einen Teufelskreis geraten. Denn eine psychisch belastende Situation und soziale Stigmatisierung können die Fähigkeit zur Empathie erst recht einschränken.
Erschwerend kommt hinzu, daß beispielsweise eine Familie, die in einem markierten Stadtteil lebt, mit einem Familienmitglied, das den Empathietest nicht besteht, in einen unmarkierten Stadtteil umziehen muß, da sie als Sicherheitsrisiko eingestuft wird – ganz zu schweigen davon, daß unmarkierte oder beim Test durchgefallene Menschen kaum noch legale Chancen haben, einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz oder eine Wohnung zu bekommen.
Besonders sicherheitsfanatische Kreise streben sogar eine alljährliche Wiederholung des Tests an – also sozusagen ein regelmäßiger Psycho-TÜV, der markiert, ob man zu den „guten“ Menschen gehört oder zu den potentiell gefährlichen.
Die gesellschaftliche Entwicklung und die Spaltung in Befürworter, Kritiker und Opfer des Testverfahrens spiegeln sich in den wechselnden Perspektiven und Erfahrungen verschiedener Charaktere, die alle auf ihre Weise vom Empathie-Test betroffen sind.
Die Autorin verleiht jeder Figur mit einem individuellen eigenen Sprachduktus und Wortschatz sehr lebhafte, ja, geradezu nahbare Gestalt. Argumente für und wider den Empathie-Test werden in zahlreichen Gesprächen, Interviews, Briefwechseln, philoso-phischen Gedankenspielen und auch durch steiflichternde Einblicke in diverse sozial-mediale Stellungnahmen vielseitig dargestellt.
Der gesellschaftliche Druck hin zur Empathie führt auch zu seltsam weichgespülten politisch korrekten Formulierungen, beispielsweise spricht man nicht mehr von Psychopathen, sondern von „Menschen mit moralischen Störungen“.  Eine weitere Nebenwirkung ist die zunehmende Verflachung der Diskussionsfähigkeit, des konstruktiven Streitens:
„Auch andere haben angefangen zu schweigen. Zu schweigen und zuzuhören, zu über-legen, beide Seiten zu verstehen und sich nicht zu trauen, eine Ansicht zu vertreten, weil eine Ansicht Verallgemeinerung ist und Verallgemeinerung Gewalt ist, und deswegen ist es besser, zuzuhören und zu verstehen, anstatt sich zu streiten und recht haben zu wollen.“ (Seite 57)
Der Roman „Die Markierung“ illustriert anschaulich, daß gesundheitsgesetzlich verordnete Empathie nicht wirklich Empathie fördert, sondern viel eher voraus- eilenden Empathie-Gehorsam erzeugt sowie die üblichen Mitläufereffekte, um gesellschaftliche Vorteile und die offizielle Anerkennung als ethisch-qualifizierter Mitmensch. Der im Roman vorgestellte Empathie-Test ist zudem recht simpel gestrickt und wird der Komplexität persönlicher empathischer Grundvoraussetzungen wohl kaum gerecht.  
In diesem Roman haben die Weltverbesserungsideologen das Bedürfnis nach einer Berechenbarkeit von Gut und Böse. Es ist schon mehr als zweifelhaft, einzig die Fähigkeit zur Empathie als relevanten Meßfaktor für ethisches Verhalten zu behaupten, umso fragwürdiger ist der erziehungsdiktorische Therapie-Tugendterror solcher Sicherheitsfanatiker.
Gewiß ist Empathie eine wünschenswerte Eigenschaft, die das zwischenmenschliche und gesellschaftliche Miteinander zu fördern vermag. Indes bedarf es für ein komplexes Miteinander auch Eigenschaften wie Selbstvertrauen, Individualität, Begeisterungsfähigkeit, Eigeninitiative, Freiheit, Güte, Humor, Mündigkeit, Nonkonformismus, Originalität, Reife, Verbundenheit und Weisheit.
Fríða Ísberg zeigt in ihrem Roman deutlich die Schattenseiten einer Gesellschaft, welche die Freiheit des Individuums einem maßlos überzogenen Sicherheitsbedürfnis opfert und im selbstherrlichen Versuch, Schaden prophylaktisch abzuwenden, selber Schaden anrichtet.

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://hoffmann-und-campe.de/products/59741-die-markierung?variant=42798827700451

Hier entlang zu einer weiteren Besprechung von Hauke Harder auf LESESCHATZ: Frida Isberg: Die Markierung

Die Autorin:

»Fríða Ísberg, geboren 1992, ist eine isländische Lyrikerin und Prosaautorin. Ihre Lyrikbände und die Kurzgeschichtensammlung „Kláði“ waren für alle wichtigen isländischen Literaturpreise nominiert, „Kláði“ u.a. für den Literaturpreis des Nordischen Rates 2020. Ihr erster Roman „Die Markierung“ wurde mit dem Literaturpreis des isländischen Buchhandels ausgezeichnet.«

Die Übersetzerin:

»Tina Flecken arbeitet seit vielen Jahren als freie Literaturübersetzerin. Sie hat u.a. Auður Ava Ólafsdóttir, Andri Snær Magnason und Sjón ins Deutsche übertragen. 2021 wurde sie für ihre herausragenden Übersetzungen mit dem isländischen Übersetzungs-preis Orðstír ausgezeichnet.«

ANATOMIE

  • Das faszinierende Innenleben des Menschen
  • von Hélène Druvert
  • in Zusammenarbeit mit Jean-Claude Druvert
  • Originaltitel: »Anatomie«
  • Aus dem Französischen von Sarah Pasquay
  • Gerstenberg Verlag   Januar 2018  http://www.gerstenberg-verlag.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 25,5 cm x 36,5 cm
  • 40 Seiten, durchgehend farbig
  • mit Ausklappseiten und Lasercut-Scherenschnitten
  • 26,00 € (D), 26,80 € (A), 32,70 sFr.
  • ISBN 978-3-8369-5989-6
  • Sachbilderbuch ab 8 Jahren

VON  KOPF  BIS  FUSS

Sachbilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

So ästhetisch-entspannt, verspielt-informativ und heiter-lebendig haben Sie anatomische Darstellungen noch nicht gesehen. Dieses ANATOMIE-Bilderbuch von Hélène Druvert ist von beeindruckender Qualität und Sehenswürdigkeit.

Illustration von Hélène Druvert © Gerstenberg Verlag 2018

Charmant eingestimmt wird man schon gleich zu Beginn mit dem Anblick des noch  bekleideten anatomischen Modells, das einen flotten Strandanzug im Retrostil und einen feschen Schnurrbart trägt. Klappt man das Modell um, so trägt es immerhin noch eine gepunktete Unterhose, und erst auf der sich daran anschließenden Illustration können wir die freigelegte Muskulatur bewundern, ergänzt um einen einführenden Text über Muskelarten und –Funktionen und zusätzliche Abbildungen, die das Zusammen- spiel von Sehnen und Muskeln beim Hantelheben des Modells zeigen, sowie einige weitere Details zum Thema Muskeln.

Illustration von Hélène Druvert © Gerstenberg Verlag 2018

Die nächsten Seiten illustrieren und erklären Verdauungssystem, Blutkreislauf, Atmung, Nervensystem und Skelett. Man erhält einen einprägsamen, räumlich-dreidimensio- nalen Eindruck des Körpers. Besonders deutlich und ansprechend ist dies bei den Scherenschnitt-Darstellungen der ebengenannten Körpersysteme und Kreisläufe, die hintereinander aufgereiht einen wunderbar filigran-faszinierenden Durchblick eröffnen.

Illustration von Hélène Druvert © Gerstenberg Verlag 2018

Nachfolgende Illustrationen mit aufklappbaren Körperregionen und Organen vertiefen schichtweise vom Allgemeinen zum Detaillierten körperinnere Strukturen und Funktionen. Die Begleittexte konzentrieren sich auf Basiswissen, ergänzt um interessante Einzelheiten.

Jedem der fünf Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) ist eine Doppelseite gewidmet. Auch hier führen aufklappbare Schautafeln und präzise Erläuterungen an-schaulich zu anatomischen Feinheiten. So sind beispielsweise beim Tastsinn außer den freien Nervenenden für Temperatur und Schmerz noch weitere Rezeptoren aktiv: Die Pacini-Körperchen, die hauptsächlich in den Fingern vorkommen, sind für die Wahrnehmung von Druckveränderungen und Vibrationen zuständig, die Meissner-Körperchen in der Handfläche lassen uns Beschaffenheit und Form eines Objekts erkennen, und die Ruffini-Körperchen in den Gelenken lassen uns Dehnungen der Sehnen spüren.

Zum guten Schluß gibt es noch einen Einblick ins männliche und weibliche Fortpflanzungssystem, nebst der Aussicht auf ein kleines neues Leben …

Dieses Buch vermittelt Grundlagenwissen über die menschliche Anatomie und lehrt zugleich das Staunen über die Komplexität körperlicher Strukturen und Kreisläufe. Es eignet sich für Kinder und Eltern, für den Grundschulunterricht und für den anatomisch interessierten Laien sowie für Kinderärzte und fürs Arztwartezimmer.

Der Verlag empfiehlt dieses Buch ab acht Jahren. Dies erscheint mir auch in Hinblick auf die Textinformationen angemessen, die mit sehr gut erklärten, jedoch anspruchsvolleren medizinischen Einzelheiten und Fachbegriffen aufwarten. Die Illustrationen dürften gleichwohl auch schon deutlich jüngere Kinder interessieren und faszinieren, so daß man es bei diesen einfach einmal auf den Betrachtungsversuch ankommen lassen kann.

Die großartige Anschaulichkeit der Laser-Scherenschnitte, die detaillierten Aufklapptafeln und die in einfachen, konzentrierten Sätzen formulierten Begleittexte bieten einen sinnlich-analogen, wissenswundervollen Einblick in den menschlichen Körper und seine Funktionsweise. Eine mögliche und wünschenswerte Nebenwirkung der Beschäftigung mit diesem Sachbilder- buch ist eine erkenntnisvertiefte Nähe und Vertrautheit mit dem eigenen Körper.

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.gerstenberg-verlag.de/Kinderbuch/Sachbuch/Anatomie.html?noloc=1

Die Illustratorin:

»Hélène Druvert, ausgebildete Textil-Designerin, ist seit ihrem Abschluß an der École Duperré, Paris, freiberuflich tätig. Sie lebt in Paris und im Baskenland, wo sie ihre Siebdruckwerkstatt hat. Perspektivische Scherenschnitte sind ein Schwerpunkt ihrer vielfältigen Tätigkeit.«

Der Autor:

»Jean-Claude Druvert, der Vater der Illustratorin, zeichnet für den Text verantwortlich. Er ist praktizierender Arzt.«

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