Frau Kassel will Wunder

  • von Ulrike Schwieren-Höger
  • Roman
  • Verlag Hergarten-Media GmbH Juli 2015
  • Kartoniert
  • 224 Seiten
  • 12,90 €
  • ISBN 978-3-936822-96-0
    Frau Kassel will Wunder

H E I L U N G S P A R C O U R S

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Wenn Sie zu den Menschen gehören, die sich im Krankheitsfalle nicht nur behandeln lassen wollen, sondern auch selbstbestimmt handelnd an ihrer Heilung mitwirken möchten, finden Sie in „Frau Kassel will Wunder“ ein gutes Vorbild, inklusive Risiken, Chancen und Nebenwirkungen. Die Autorin schreibt nicht eindimensional GEGEN Schulmedizin und FÜR Alternativmedizin, sondern sie strebt die Erweiterung des Heilungsspielraums um viele Wege und wahlweise auch Wunder an.

Charlotte Kassel, eine Anwältin, ist an Krebs erkrankt und befindet sich zwecks Chemotherapie in einem Kölner Krankenhaus. Ihre Frage nach alternativen, naturheilkundlichen oder einer ganzheitlich mehrere Methoden verbindenden Behandlung wird mit der Begründung abgewimmelt, es gäbe zu wenig seriöse Studien und man wolle nicht herumexperimentieren.

Dr. Paul Junckers, ein Onkologe, ist unzufrieden mit der Schulmedizin. Es reicht ihm nicht, nur den Körper zu behandeln, er möchte Geist und Seele in die Therapie einbeziehen. Deshalb hat er gekündigt und sich in ein einsames, altes Bauernhaus in der Eifel zurückgezogen, wo er nun erste Schritte als Geistheiler unternimmt und die Tradition der Eifler Spruchheiler und Gesundbeter erforscht.

Eines Nachts schleicht sich Charlotte trotzig aus der Klinik, einfach um mal andere Luft zu atmen und normales Leben zu spüren. Weit kommt sie nicht, die körperliche Schwäche veranlaßt sie dazu, sich auf die Stufen vor dem Eingang hinzusetzen. Ein Passant spricht Charlotte besorgt an, setzt sich neben sie und zieht sogar seinen Parka aus, um sie damit zu wärmen. Sie kommen ins Gespräch, und der Mann zeigt Charlotte eine Glaskugel und behauptet, daß er darin Wunder sammle.

Kurz darauf erscheint ein Pfleger und bringt Charlotte zurück in ihr Zimmer. Aber sie hat die E-Mail-Anschrift ihrer Zufalls-Treppenbekanntschaft und beginnt einen lebhaften Briefwechsel mit dem freundlichen Unbekannten namens Paul. Diesem Brieffreund vertraut sie im ausführlichen Schriftgespräch ihre Gedanken, Empfindungen, Entdeckungen, Zweifel und Hoffnungen an. Paul ermutigt sie und vermittelt ihr auch philosophisch-therapeutische Hinweise.

Im Gespräch mit ihrer Ärztin erfährt Charlotte, daß sie eine schleichende Form des Krebswachstums hat, was einerseits die Behandlung erschwert und andererseits einen gewissen Zeitspielraum ermöglicht. Während die Ärzte noch prüfen wollen, ob eine Stammzellentransplantation sinnvoll sei, verläßt Charlotte die Klinik und besucht ihre Schwester, die in der Eifel lebt. In dieser ländlichen Umgebung erhofft sich Charlotte bessere Besinnungsmöglichkeiten und Erholung vom Großstadtleben.

Die fürsorglich-zugewandte Begegnung auf der Kliniktreppe und der briefliche Austausch mit Paul haben den Impuls und die Hoffnung in Charlotte geweckt, sich eigenverantwortlich nach alternativen, ganzheitlichen Heilungsmöglichkeiten umzusehen.

Zwar wurden auch zuvor schon diverse wohlgemeinte Heilversprechen an Charlotte herangetragen, sei es die ewige Gesundheit durch Rohkosternährung, die Früherkennung von Schockerlebnissen, die sich im Hirnscann ablesen ließen oder Transzendentale Meditation, aber jetzt wächst Charlottes Wunsch und Wille, ihren eigenen Weg zu gehen und mutig einiges auszuprobieren.

Mit ihrer Schwester, die sich der matriarchalen Naturreligion verbunden fühlt und einem Wicca-Kreis angehört, reflektiert sie über ihre familiären und religiösen Prägungen und über das Überschreiten familiärer und religiöser Verbote und Grenzen.

Charlotte sucht und findet, befaßt sich mit Achtsamkeitsübungen, Naturverbundenheit, Lichtmeditation, Quantenphysik und Quantenmedizin sowie Geistheilung. Sie lernt ihren Atem zu lenken, besser im Augenblick verankert zu SEIN und weniger zu denken, sie besucht spirituelle Zentren (Findhorn, Tempel von Damanhur) und erfährt Glaubwürdiges und Zweifelhaftes, sie trifft einen verspielten Weisen und eine liebevolle Heilerin, ihre Achtsamkeit und ihr Vorstellungsvermögen wachsen sowie ihr Gespür für das, was ihr wirklich gut tut. Schließlich empfängt sie sogar im Traum eine heilsame Botschaft von ihrer verstorbenen Großmutter.

Kurz: Sie kommt sich selbst wirklich näher, sie schöpft Hoffnung und Zuversicht, und eine Andeutung von Liebe liegt offenbar auch auf ihrem weiteren Weg …

Nicht umsonst hat sich Charlotte einen Spruch von Albert Einstein als neues Lebensmotto erwählt: „Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles eines.“

Eingebettet in die spannende Rahmenhandlung der Heilungssuche und Lebenssehnsucht Charlotte Kassels öffnet dieser Roman anschaulich-anregende Perspektiven auf Krankheit und Heilung, Angst und Vertrauen, Normalität und Verrücktheit, Transformation und Stagnation, Leben und Tod, Selbstakzeptanz und Mut. Wer diesen Wegweisern gerne vertiefend folgen möchte, findet im Anhang eine entsprechende Literaturliste.

Zufällig habe ich eines der dort empfohlenen Bücher ebenfalls besprochen und zwar im Stil eines Medikamenten-BEIPACKZETTELS:
Das Geheimnis der Heilung. Wie altes Wissen die Medizin verändert“ von Joachim Faulstich: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/05/15/das-geheimnis-der-heilung/

Die Autorin:

»Ulrike Schwieren-Höger, 1951 geboren, hat lange Zeit als Redakteurin für große Tageszeitungen gearbeitet und in mehreren Verlagen Reiseführer sowie Bildbände veröffentlicht.
Eine schwere Erkrankung führte sie in Grenzbereiche. Sie besuchte alternative Zentren, trat in Kontakt mit Geistheilern und erkannte, dass Heilung ein Prozess ist, der Körper Geist und Seele gleichermaßen umfasst, und zum Umdenken auffordert. Ihre Erfahrungen verarbeitete sie einfühlsam zu dem Roman „Frau Kassel will Wunder“.«

Mehr auf:   https://schwierenhoeger.com/

PS:
Eine weitere feine Rezension dazu gibt es bei REINGELESEN: https://reingelesen.wordpress.com/2016/05/25/frau-kassel-will-wunder-noch-ein-blogparaden-special/

 

Delirium

  • (amor deliria nervosa)
  • Band 1 der AMOR-Trilogie
  • von Lauren Oliver
  • Übersetzung aus dem Englischen von Katharina Diestelmeier
  • Carlsen Verlag 2011                               http://www.carlsen.de
  • 978-3-551-58232-4
  • 409 Seiten, 18,90 €
  • Taschenbuchausgabe, März 2013
  • 978-3-551-31200-6
  • 8,99 €
  • ab 14 Jahren
    9783551582324

STAATSFEIND  NUMMER 1: LIEBE

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Lena lebt in einer äußerst restriktiven Gesellschaft, in der Liebe als ansteckende und tödlich endende Krankheit definiert wird. Dementsprechend werden alle Menschen durch einen neurologischen Eingriff gegen diese die gesellschaftliche Stabilität und Volksgesundheit gefährdende Krankheit immunisiert.

Klassiker der Weltliteratur wie z. B. „Romeo und Julia“ sind schulische Pflichtlektüre im Fach Gesundheitslehre, um vor den Gefahren und tödlichen Folgen unkontrollierter Emotionen zu warnen. In den Schulen herrscht strikte Geschlechtertrennung, um einem Aufkeimen der Krankheit „ Amor deliria nervosa“ so wenig Gelegenheit wie nur möglich zu geben. Die neurologische Operation, die vor der Liebe schützen soll, kann frühestens mit achtzehn Jahren erfolgen, und somit gelten alle Kinder und Jugendlichen als Ungeheilte, die des besonderen Schutzes und der besonderen Kontrolle bedürfen.

Es gibt jedoch Menschen, bei denen der Eingriff nicht funktioniert und die nach wie vor ein lebendiges Gefühlsspektrum zur Verfügung haben. Wenn es ihnen nicht gelingt, ihre Gefühle zu verbergen, werden sie entweder erneut zwangsoperiert oder, in unheilbaren Fällen, in sogenannte Grüfte weggesperrt. So wurde Lenas Mutter von einer Patrouille dabei beobachtet, wie sie über einem Foto ihres verstorbenen Mannes weinte. Angeblich zog sie den Freitod der Gefangenschaft und Unterdrückung vor.

Das ist der Grund, warum Lenas sozialer Status besonders verletzlich ist, allein ihre Herkunft und genetische Mitgift machen sie verdächtig. Wäre Lena nicht von ihrer Tante aufgenommen worden, müßte sie in einem staatlichen Waisenhaus leben; für diese Rettung vor dem endgültigen sozialen Abstieg ist sie dankbar.

Die amerikanische Küstenstadt, in der Lena lebt, ist von einem bewachten hohen Elektrozaun umgeben, der die Stadt von der Wildnis abgrenzt. In dieser Wildnis leben noch Menschen, die nicht gegen Liebe bzw.  „Amor diliria nervosa“ immun sind und die das von der Gesellschaft verordnete  „Heilmittel“  ablehnen. Offenbar gab es vor der Errichtung des Schutzzaunes eine Massenflucht von Menschen, die der Liebe treu bleiben wollten. Diese „Wilden“ gelten als Staatsfeinde und werden abfällig als „Invalide“  bezeichnet.

Auch bei den „geheilten“  Mitgliedern der Gesellschaft gibt es noch „ Sympathisanten“ der Liebe. Wobei in der Bezeichnung Sympathisant eine unfreiwillige Selbstironie des liebesfeindlichen Systems liegt, denn die Vertreter und insbesondere die exekutiven Vertreter dieser Gesellschaftsordnung sind ausgesprochen unsympathisch und zeigen im harmlosesten Fall einfach keine Empathie und im schlimmsten Fall ausdrücklichen Sadismus.

Es gibt sehr grausame Strafen, Umerziehungsmaßnahmen, Sperrstunden, Kontrollen, Razzien und den gebührenfreien Deliria-Präventionsnotruf: eine Einladung zur Denunziation von Personen, die angeblich Symptome der „Amor deliria nervosa“  zeigen.

Die Geschichte beginnt 95 Tage vor Lenas Immunisierungseingriff. Lena geht auf dem Weg zum Prüfungslabor mit ihrer Tante noch einmal die einstudierten Antworten für das Evaluierungsgutachten durch. Diese Gesinnungsprüfung und peinliche Begutachtung, bei der die Prüflinge, nur mit einem durchsichtigen Plastikkittel bekleidet, befragt, betrachtet und nach einem Punktesystem bewertet werden, hat entscheidenden Einfluß auf die zukünftigen beruflichen Möglichkeiten und die Zuordnung eines passenden Ehepartners. Die Gutachter entscheiden sogar darüber, wieviele Kinder ein Paar zu bekommen hat.

„Wir werden erwachsen sein, geheilt, markiert, etikettiert, identifiziert, mit einem Partner versehen und ordentlich auf unseren Lebensweg gesetzt, perfekte runde Murmeln, die in gleichmäßigen, gespurten Bahnen rollen.“

Während Lenas Befragung kommt es zu einer Störung: Plötzlich rennt eine Herde panischer Kühe durch die Laborräume, Lena rettet sich hinter einen OP-Tisch, die Kühe knabbern die Notizen der Gutachter an, und im allgemeinen Chaos bemerkt nur Lena den unbekannten Jungen, der von der Tribüne aus amüsiert diesen Sabotageakt beobachtet und ihr zuzwinkert.

Am  nächsten Tag bespricht Lena mit Hana, ihrer besten und einzigen Freundin, den Vorfall im Labor. In den offiziellen Nachrichten  ist von einem Lieferfehler die Rede. Hana, die eigenwilliger und rebellischer ist als Lena, macht sich über die offizielle Erklärung lustig. Sie erwartet  keineswegs sehnlich den bevorstehenden Immunisierungseingriff, sondern hinterfragt ihn kritisch.

Lena, die sich bemüht, alle Regeln zu befolgen und nicht negativ aufzufallen, reagiert ängstlich und abwehrend auf Hanas Freiheitsverlangen. Als Hana auch noch von einer ganzen Subkultur berichtet, wo sich Mädchen und Jungen heimlich an entlegenen Orten zu Konzerten und Tanz treffen und unkontrolliert begegnen, fühlt sich Lena einsamer als je zuvor.

Verwirrt und widerwillig folgt Lena Hana zu einer solchen Veranstaltung und ist schon allein durch die ungewohnt emotionale  – und natürlich verbotene – Musik,  die sie dort zu hören bekommt, so aufgewühlt, daß sie gleich wieder fortgehen will. Doch dann trifft sie den geheimnisvollen und anziehenden Jungen aus dem Labor wieder. Sie kommen ins Gespräch, tanzen sogar miteinander, und Lena zeigt erste Anzeichen von „Amor deliria  nervosa“ 

Es dauert eine Weile,  bis sich Lena von dem indoktrinierten Glauben an die Krankhaftigkeit der Liebe und der damit verbundenen körperlichen Symptome freimachen kann. Doch schließlich entwickelt sich, trotz der widrigen Umstände, eine schöne, gefühlvolle – allerdings auch tragische – Liebesgeschichte.

Ob dieses vorläufig tragische Ende eine positive Wende nehmen wird, erlesen wir dann hoffentlich in der Fortsetzung…

Lauren Oliver beschreibt sehr anrührend, wie Lena sich von den inneren und äußeren Verboten, Vorschriften und Vorurteilen emanzipiert und – nach anfänglichem Zögern und verständlicher Unsicherheit – ihrem  Herzen folgt und lernt, ihren Gefühlen zu trauen.

 „Sie können Mauern bis zum Himmel bauen, und ich werde doch darüber hinwegfliegen. Sie können mich mit hunderttausend Armen festhalten, und ich werde mich doch wehren. Und es gibt viele von uns da draußen, mehr als ihr denkt. Menschen, die in einer Welt ohne Mauern leben und lieben. Menschen, die gegen Gleichgültigkeit und Zurückweisung anlieben, aller Vernunft zum Trotz und ohne Angst.“

Auch in ihrem zweiten Jugendroman erweist sich Lauren Oliver als eine überzeugende und leidenschaftliche Anwältin der Liebe.

Querverweis:

Hier entlang zur Rezension des ersten Jugendromans von Lauren Oliver:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/02/25/wenn-du-stirbst-zieht-dein-ganzes-leben-an-dir-bei-sagen-sie/

Und hier geht es zur Fortsetzung von Delirium:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/04/24/pandemonium/ von


Die Autorin:

»Schon als Kind hat Lauren Oliver leidenschaftlich gern Bücher gelesen und dann Fortsetzungen dazu geschrieben. Irgendwann wurden daraus ihre eigenen Geschichten. Sie hat Philosophie und Literatur studiert und kurz bei einem Verlag in New York gearbeitet. Lauren Oliver lebt in Brooklyn.«