Das schräge Haus

  • Roman
  • von Susanne Bohne
  • Rowohlt Verlag, Dezember  2019 http://www.rowohlt.de
  • Taschenbuch mit dickem Pappeinband
  • 352 Seiten
  • 15,00 € (D), 15,50 € (A)
  • ISBN 978-3-499-00051-5

STÖPSKEN, GLÜHWÜRMCHEN  &  HERZPUCKERN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Ella hat eine wunderbare Großmutter, deren Warmherzigkeit und unakademisches psychologisches Fingerspitzengefühl sie seit ihrer Kindheit erhellend und haltgebend begleiten. Sie nennt ihre Großmutter nicht Oma, sondern Mina, und Mina wiederum nennt Ella meist nicht Ella, sondern Stöpsken. Stöpsken oder Stöppken ist ein ruhr- deutscher Kosename für ein kleines Kind.

Das Verhältnis zwischen Ella und ihrer Mutter ist distanziert, da sich die Mutter deutlich mehr für Ellas kleinen Bruder interessiert. Ella nimmt trotz ihres zarten Alters von acht Jahren deutlich wahr, daß sie und ihre Mutter „an getrennten Flussufern“ stehen.

Wir lernen Ella und Mina im Sommer 1986 im Schrebergarten beim Auslesen von Stachelbeeren kennen. Mina hat eine besondere Fähigkeit, in Menschen hineinzusehen und das, was sie dort als Gefühlsgemengelage erkennt, beschreibt sie stets im Bild eines Hauses mit vielen architektonischen und innenarchitektonischen Details, Farben, Formen, Lichtverhältnissen und landschaftlichen Aussichtsperspektiven. So spiegelt die Großmutter etwa Ellas Wesen als ein kleines, blaues windschiefes Haus mit mimosen- blütenblättrigen Fensterläden, die sich sehr schnell von alleine schließen, mit zwei Eingängen – einer schmiedeeisernen Tür mit großem Riegel und einem versteckten, kleinen unverschlossenen Holztörchen …

Ella hofft, daß sie eines Tages auch in der Lage sein werde, die inneren Häuser der Menschen zu sehen, um besser zu verstehen, wie es in ihnen aussieht, und um etwas Hilfreiches für sie tun zu können.

Zum Schrebergartenkosmos gehören der ehemalige Bergmann Manfred, der Minas Rasen kleingartenvorschriftmäßig ziseliert und ansonsten freundlich-depressiv im Liegestuhl ruht und sich sonnt, und die betagte, gleichwohl ganz flotte Ilse, die so schnell spricht, daß alle Wörter ohne Punkt und Komma zu beeindruckenden Ein- wortsätzen verschmelzen, etwa so „DeinFöttchenhatgleichKirmesdatkannichdir- abbasagenwennichdicherwischedukleinerHosenscheißer!“ (Seite 29)

An diesem Sommertag 1986 findet das alljährliche Kleingartensommerfest statt. Mina brutzelt Frikadellen fürs Buffet, und Ella stromert mit ihrer besten Freundin Yvonne durch die Gartensiedlung. Yvonne ist im Gegensatz zu Ellas zurückhaltender Wesensart sehr direkt und extrovertiert und spricht furchtlos aus, was sie denkt und fühlt. Auf Ellas Frage, wie sie das mache, antwortet Yvonne, sie müsse bloß tief einatmen und dann die Worte ausatmen. Aber Ellas Worte bleiben oft auf halbem Wege stecken, weil sie das Echo fürchtet, das ihre Worte auslösen könnten. Außerdem neigt Ella dazu, in emotional belastenden oder aufregenden Situationen in einem „Zeitpudding“ zu erstarren, aus dem sie sich nicht leicht wieder befreien kann. 

Ella findet im Verlauf des Sommerfestabends einen plötzlich verstorbenen Schrebergar-tennachbarn. Dieses Erlebnis löst ein zwar unangebrachtes, aber hartnäckiges Schuldge-fühl in ihr aus, nimmt ihr die kindliche Unbeschwertheit und vertieft die „Schräglage“ ihrer Lebenseinstellung.

Sechsundzwanzig Jahre später hat Ella eine psychotherapeutische Praxis. Mit viel Zunei-gung beschreibt sie ihre Patienten und deren unterschiedliche Verschrobenheiten; sie freut sich, wenn sie ihnen zu einem heilsamen Erkenntnisschritt und besserer Selbstfür-sorge verhelfen kann. Sowohl in ihrer beruflichen Praxis als auch in ihrer persönlichen Suche nach dem passenden Liebespartner findet sie immer wieder lebhafte Bestätigung für Minas alte Weisheit: „Wenn die Menschen nur noch mit sich selbst beschäftigt sind, dann vertrocknen sie. Innerlich.“ (Seite 117) Genau diesen Vertrocknungsprozeß möchte sie bei ihren Patienten aufhalten, ja, möglichst sogar in Richtung reanimierender Bewässerung umkehren.

Dabei fehlt es Ella auch keineswegs an Selbstironie: „Sie hatten verlernt, das zu betrach-ten, was sie hatten, und weinten bloß darüber, was sie nicht hatten. So wie ich. Ich saß ja auch in diesem Kreuzfahrtschiff der Wehklagenden und ließ mich übers Tränenmeer schippern.“ (Seite 166)

Doch dat Stöpsken Ella lernt schließlich, trotzt aller Verletzlichkeit, innerer Schräglagen und unvermeidlicher Abschiedswehen, sich dem unberechenbaren Verlieren und Finden des Lebens hinzugeben, sich selbst mehr zu vertrauen und ihr Herz befreit zu öffnen. Oder wie die lebensweise Mina raten würde: „Geh raus, lüfte und hör auf zu warten.“  (Seite 201)

Die Autorin Susanne Bohne hat ihren Roman „Das schräge Haus“ in einem warmherzigen, vielsaitig-zwischenmenschlichen Tonfall geschrieben. Es gibt berührende Szenen inniger Nähe, aber auch ausgesprochen situations- komische Dialoge. Ihre Kleingartenmilieustudie ist köstlich und voller nostalgischer Details (Frisuren, Schlagerhits), die Figurenzeichnung ist äußerst lebendig und ebenso anrührend wie amüsant, und die vorbildliche Herzensbildung von Oma Mina wirkt geradezu beglückend. Dieser Roman enthält sehr anschauliche Sprachbilder für emotionale Gestimmtheiten, Verhaltensmuster und Charakterzüge und begleitet mit großherzigem Schmunzeln und gütigem Blick menschliche Stärken und Schwächen. Minas liebevolles Herzpuckern durchströmt unüberhörbar den ganzen Text!

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.rowohlt.de/taschenbuch/susanne-bohne-das-schraege-haus.html

 

Die Autorin:

»Susanne Bohne, selbst ein Ruhrpott-Kind, studierte Germanistik und arbeitete als Designerin, bevor sie – inspiriert von ihrer Tochter – anfing, Kinderbücher zu schreiben und zu illustrieren. Sie findet, dass Humor eine gute Überlebensstrategie ist und dass die kleinen Dinge des Lebens oft größer sind, als sie scheinen. Davon erzählt auch ihr Roman „Das schräge Haus“.«
Hier entlang zu Susanne Bohnes Webseite: https://halloliebewolke.com/
und hier entlang zu einem Radio-Bericht zu Buch und Autorin : https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-westblick-serien/audio-susanne-bohne-das-schraege-haus-100.html

Querverweis:

Die sehr intensive Großmutter-Enkel-Beziehung und die schrägen Charaktere erinnern leiseleicht an Mariana Lekys Roman „Was man von hier aus sehen kann“, siehe meine Besprechung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2017/12/22/was-man-von-hier-aus-sehen-kann/

 

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36 Kommentare zu “Das schräge Haus

  1. Mir gefällt an diesem Buch besonders, dass die Stimmung von damals zum Vorschein kommt. Beim Lesen spürte ich sie wieder.
    Mir scheint von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die Leichtigkeit des Lebens verloren zu gehen.
    Herzliche Grüße an Dich, Barbara

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    • Das erfreut mich nun besonders, liebe Barbara,
      daß es mir gelungen ist, die Zeitgestimmheit des Romans bis in meine Rezension zu transportieren.
      Was Du über die sich von Lebensjahrzehnt zu Lebensjahrzehnt verlierende Leichtigkeit des Lebens schreibst, kann ich bestätigen.
      Ich nehme einfach den Ernst des Lebens (persönlich und gesellschaftspolitisch) ernster und auch die biographischen Knicke, Schraffuren und Verluste tragen dazu bei. Zugleich wächst aber auch die Dankbarkeit für die schönen Dinge, konstruktiven Begegnungnen und Entwicklungen des Lebens.
      Herzliche Grüße von mir zu Dir ❤

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      • Bezüglich Dankbarkeit für das Erlebte geht es mir ähnlich wie Dir.
        Mir war nur bis zu Deiner Rezension gar nicht bewusst, wie besonders die Zeit zumindest für mich war. Allein für das Erinnern daran bin ich dankbar. Ich schätze, dass das auch der eigentliche Schreibanlass war.

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  2. Das klingt vielversprechend! So eine Generationenbeziehung bietet reichlich Stoff, den man zum Teil bei sich selbst wiederfindet. Eine Einladung also…
    Und: “ …dass die kleinen Dinge des Lebens oft größer sind, als sie scheinen“ … das mag ich gern unterschreiben.

    Liebe Grüße,
    Syntaxia

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  3. Ich kenne den Steppke und den Stoppel auch. *g*
    Lesemahlzeiten wie diese mag ich sehr. Es sind die, die entspannen und nicht zu seicht geschrieben sind, daß man sie nach einigen Seiten schon wieder weglegen muß, weil man das Seichte nicht mehr ertragen kann. Aber solches werden wir wohl auch nie bei Dir finden, liebe Ulrike.
    Liebenswert, goldrichtig für mich klingt es, denn ich kenne „Was man von hier aus sehen kann“ und das gefiel mir auch sehr.
    Danke für diese feine Information, liebe Ulrike und liebe Grüße von mir an Dich

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    • Liebe Bruni,
      hab‘ Dank für Deine zugeneigte Resonanz.
      Ganz gewiß wirst Du auf meiner Webseite nie eine Empfehlung für ein seichtsinniges Buch finden, höchstens vielleicht einmal in Form eines saftigen Verrisses. 😉
      „Das schräge Haus“ hält eine lebensnahe Balance aus Tiefsinn und Vergnügen, die Dir gewiß leseschmecken wird.
      Herzensgruß von mir zu Dir

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  4. Das klingt ganz nach einer nahrhaften und dabei doch sehr bekömmlichen Lesemahlzeit. 🙂 Bildlich gesprochen würde ich sagen: hier sind die Persönlichkeiten mit ganz feinen Strichen sehr detailreich gezeichnet – und mit fantasiereich-liebevollen Kringeln und anderen kleinen Schnörkeln verziert. Dergestalt, dass sie ein klares Profil mit einer liebenswürdigen Ausstrahlung vereinen. Und die lebendige Sprache koloriert das ganze mit zwar unaufdringlicher aber farbenreicher Palette. Dadurch erscheint das Leseerlebnis erfrischend lebendig und leicht – obwohl inhaltlich ja doch einige Knacknüsse lauern.
    [So kömmt mir das in etwa vor – wenn ich deine Zeilen recht zu deuten weiß…]

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    • Herzlichen Dank für Deinen feingezeichneteten Kommentar, der die liebevolle schriftstellerische Figurenzeichnung und das liebenswerte Sprachmilieu sehr schön erfaßt.
      Das Leseerlebniskommt leichtfüßig daher, aber keineswegs oberflächlich, dafür sorgen schon die Knacknüsse, die zu knacken sind.

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    • Hab‘ Dank für Deine begeisterte und berührte Rückmeldung!
      Ich dachte mir schon beim Lesen, daß dies ein Roman nach Deinem Gusto sei.
      Schön ist auch, Deine enkelerfahrene Bestätigung enkeleigenwilliger Namensgebungen für Großmütter.

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    • Hab‘ Dank für Deine zugeneigte Resonanz.
      Mina und Ella, aber auch viele andere Figuren in diesem Buch sind einfach leibhaftig sympathisch. Ich verstehe gut, daß Du sie zum Kaffekränzchen einladen möchtest – mir geht es nämlich ganz ähnlich.

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  5. Das klingt nach einem Buch für Schlechtwettertage und ich danke Dir herzlich für Deine so warmherzige Vorstellung. Das Stöppken kenne ich als Steppke🤗 Hab einen gemütlichen Abend und lass es Dir gut gehen. Lieber Gruss Karin

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    • Vielen Dank, liebe Karin,
      für Dein lebhaftes Leseinteresse. Da dieser Roman hauptsächlich im Sommer spielt, bietet er nicht nur in zwischenmenschicher Hinsicht eine Lektüre, die Schlechtwettertage erhellen und erwärmen kann.
      Das Stöppken kenne ich hier aus Solingen (Bergisches Land) als Ströppken. 😀
      Herzensgruß von mir zu Dir

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      • Dann will ich an dieser Stelle die Ösi-Variante für Steppke o. ä. anbringen: hier, zumindest im Osten, nennt man sie zuweilen ‚Stoppel‘; aber auch Steppke ist bekannt – möglicherweise ist letzteres ein Verständnis-Überbleibsel aus einer Zeit, als Deutschland sich an den Donaugau bzw die Ostmark angeschlossen hatte…
        Nach deiner Beschreibung liebe Ulrike und meiner etwas verwässert vorhandenen Synästhesie gehört dieses Buch in meiner Wahrnehmung auf jeden Fall zu den ‚hellen‘, vielleicht sogar zitronengelben – ich denke, ich setze es mal auf den Wunschzettel und werde es nach erfolgreichem Abbau meines Zulesen-Turmes mit Freude konsumieren – gehört es doch in jedem Fall nicht zu den oberflächenhaft erzählerischen, sodaß man es nur mit großer Anstrengung mit einem ‚Kinderbuch‘ verwechseln kann … 😉

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      • Verbindlichen Dank für die Erweiterung der Stöpsken-Varianten um österreichische Abzweigungen und für Deinen rege-zugeneigten Lesewunsch.
        Deine synästhetische Zuordnung der Farbe zitronengelb, um die Helligkeit der Lektüre zu bezeichnen, finde ich – auch wenn gelegentliche dunkle Schattenwürfe kontrastierend hinzuzuzählen sind – durchaus angemessen. 🙂

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      • Danke vielmals – die Zustimmung einer bewußt als solche lebenden SynästhetIn zu meinem Empfinden des Ausdrucks der Buchbesprechung, sehe ich als großes Kompliment an … auf der Tonleiter würde ich ihm übrigens ein dreigestrichenes, klares d zuordnen … 😉

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      • Für diesen Vergleich bräuchte ich nun eine Hörprobe, da ich zwar Musik sehr wertschätze, jedoch in Hinsicht auf Notenschrift, Oktavbereiche und Tonleiterzuordnungen leider völlig ahnungslos bin. 🎶 🎶 🎶

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      • Oups … ist rein akademisch jetzt 😉 aber deine ‚Hörprobe‘ wies mich auf einen Fehler hin, der sich bei mir im Text einschlich – ich meinte, dem Buch ein ZWEIgestrichenes d zuordnen zu wollen. Das ist jener Ton, welchen geschrieben die 4. (Noten)Linie durchschneidet, also der 2. Ton der 2. Oktave. Er ist hoch aber nicht schrill (wie c3), gut hörbar, leicht zu verdauen und macht Lust auf mehr … 😉

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