Im Hause Longbourn

  • Roman
  • von Jo Baker
  • Originaltitel: »Longbourn«
  • Aus dem Englischen von Anne Rademacher
  • Knaus Verlag, September 2014  https://www.knaus-verlag.de
  • 448 Seiten
  • gebunden, mit Schutzumschlag
  • 19,99 € (D), 20,60 € (A), 28,50 sFr.
  • ISBN 978-3-8135-0616-7
    Im Hause Longbourn von Jo Baker

F I N G E R S P I T Z E N G E F Ü H L E

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Dieser klassengesellschaftliche Perspektivwechsel im Jane-Austen-Gewand ist wunderbar gelungen und fasziniert vom ersten bis zum letzten Satz.

Jo Baker stellt in ihrem Roman die Menschen in den Mittelpunkt, die in „Stolz und Vorurteil“ fast unsichtbar hinter den Kulissen wirken. So findet nun die „herrschaft- liche“ Handlung von „Stolz und Vorteil“ in Hintergrund statt und bildet die Kulisse für die Schicksale des Personals, das im Haus Longbourn, dem Wohnsitz der Familie Bennet, arbeitet.

Die Autorin erzählt uns die Liebesgeschichte des Hausmädchens Sarah und des Haus- dieners und Kutschers James, die beide im Hause Longbourn arbeiten. Und wenn ich hier schreibe arbeiten, so meine ich keine 40-Stunden-Woche mit sechs Wochen bezahltem Jahresurlaub, sondern ich meine eine Arbeit von sehr früh morgens bis sehr spät abends, und wenn die Herrschaften weit nach Mitternacht von einem festlichen Ball zurückkehren, chauffiert von einem schlaflosen Kutscher, muß selbstverständlich auch jemand vom Hauspersonal aufbleiben und den tanzerschöpften Familienmit- gliedern die Haustür aufhalten, Tee und Gebäck servieren und anschließend noch beim Auskleiden behilflich sein…

Doch das ist harmlos, verglichen mit den Strapazen des wöchentlichen Waschtages, mit dem die Autorin uns in Sarahs Arbeitsalltag einführt. Sarah schleppt morgens um halb fünf zwei schwere Wassereimer von der Wasserpumpe über den Hof in die Waschküche und macht sich durchaus widerspenstige Gedanken darüber, die schmutzige Wäsche anderer Leute waschen zu müssen. Wir lernen viel über die Mühsal des Waschens zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ein Kraftakt, der nicht nur die Hände auslaugte.

Die Haushälterin und Köchin Mrs Hill, der Butler Mr Hill und das zwölfjährige (!) zweite Hausmädchen Polly vervollständigen den Haushaltspersonalreigen.

Die Charaktere werden differenziert, mit schlüssiger biographischer Entwicklung und sehr einfühlsam dargestellt. Wir nehmen lebhaft Anteil an ihren Freuden, Leiden, ihren emotionalen Überlebensstrategien, und wir verfolgen gebannt das Hindernisrennen um ein Stückchen Horizonterweiterung, Selbstbestimmung, Lebensglück und Liebeser- füllung.

Die arbeitsrechtliche Abhängigkeit von launischen Herrschaften war kein Zucker- schlecken, trotz gelegentlicher Anwandlungen von Großzügigkeit, z.B. wenn die Damen des Hauses neu eingekleidet wurden und ihre alten, aber dennoch guten Kleider an die Hausmädchen verschenkten.

„Jane und Elizabeth waren beide reizend, fast schon Lichtgestalten. Und Sarah, die nun rasch über den Dienstbotenflur zur Treppe und nach oben lief, um ihr neues Kleid aufzuhängen, war nur einer der vielen Schatten, die um die Ränder ihres Lichtscheins huschten.“ ( Seite 75)

James, der vor seinem Arbeitsantritt in Longbourn als Soldat in den napoleonischen Kriegen gekämpft hat, weiß sogar von noch viel härteren Arbeitsbedingungen, Unge- rechtigkeiten und menschlichen Grausamkeiten.

Aus Sicht der Hausangestellten erscheinen die Bennets in deutlich schattigerem Licht; schließlich wissen sie genau, was alles unter den Teppich gekehrt wird. Das Verhältnis zwischen Herr und Diener sowie zwischen Herrin und Dienerin ist auf paradoxe Weise intim und distanziert zugleich. Das An- und Auskleiden und Frisieren sowie die Pflege der Wäsche bedingen zwangsläufig viel körperliche Nähe.

Mrs Bennet reklamiert auch gerne tröstliches Händchenhalten und therapeutisches Zuhören bei ihrer Haushälterin, die sich indessen mit stummer Verärgerung fragt, ob der vorbereitete Brotteig in der Küche schon versteinert ist.

Die Autorin kontrastiert in ihrem Roman die Ansprüche und Bedürfnisse von Mitglie- dern unterschiedlicher Gesellschaftsklassen, ohne zu polarisieren. Es ist ganz einfach von Anfang an klar, wem unsere Hauptanteilnahme gilt, ohne daß die „standesge- mäßen“ Personen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – als unsympathisch dargestellt werden.

Jo Bakers Sprache – in der Übersetzung von Anne Rademacher – ist anmutig, geschmei- dig und lebendig, bei der Wiedergabe der wechselnden Jahreszeitenstimmungen ist sie geradezu bezaubernd naturpoetisch. Die aufblühende Liebe zwischen Sarah und James wird sehr feinsinnlich, herzenswarm und zart ausgedrückt. Auch rauhe, ausgelaugte Hände sind voller Empfindsamkeit und Fingerspitzengefühl, und die Sehnsucht des Herzens schlägt in allen Menschen gleich.

Jane Austens Heldin Elizabeth ist eigenwillig, stolz und vorwitzig – doch Jo Bakers Sarah ist tapfer, verletzlich und verwegen und verdient viel eher die Bezeichnung Heldin.

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE – inzwischen nur noch als Taschenbuchausgabe – auf der Verlagswebseite: https://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Im-Hause-Longbourn/Jo-Baker/Penguin/e498933.rhd

 

Die Autorin:

»Jo Baker wurde in Lancashire geboren und studierte an der Oxford University und der Queen’s University in Belfast, wo sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte. Seither veröffentlichte sie fünf Romane, die ihr in der Presse viel Lob einbrachten. Mit „Im Hause Longbourn“ gelang ihr der internationale Durchbruch. Jo Baker lebt mit ihrer Familie in Lancaster.«

PS:
Als kleine Zugabe enthält dieses Buch noch interessante, sehr instruktiv und scharfsinnig formulierte Informationen über die Haushaltswerkzeuge zu Beginn des 19.Jahrhunderts und eine Kurzeinführung in die Handlung von Jane Austens Roman „Stolz und Vorurteil“ sowie in die klassengesellschaftlichen Rahmenbedingungen des damaligen „Heiratsmarktes“.

PPS:
Dieser Roman ist absolut bestsellerverdächtig – zumindest in „DOWNTON ABBEY“-Freundeskreisen 😉

 

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