Vielleicht

  • Eine Geschichte über die unendlich vielen Begabungen in jedem von uns
  • Geschrieben von Kobi Yamada
  • Illustriert von Gabriella Barouch
  • Originaltitel: »maybe«
  • Übersetzung von Gerda M. Pum
  • Adrian Verlag 2020 www.adrian-verlag.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 22,3 x 31 cm
  • 44 Seiten
  • 12,95 € (D), 13,40 € (A)
  • ISBN 978-3947188-85-7
  • Bilderbuch ab 4 Jahren

S E L B S T B E S T I M M U N G

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Das Bilderbuch „vielleicht“ spricht Kinder direkt an, stellt Fragen, die nach innen führen und bietet spielerisch-philosophisch Antworten an – läßt dabei gleichwohl weite Frei- räume und ermutigt ausdrücklich dazu, auf das eigene Herz zu hören, sich nicht mit der Oberfläche abzufinden und in die Tiefe zu gehen, um die eigenen Talente und Neigungen zu entdecken.

Angesichts eines Zeitgeistes übermäßiger Konformität, willkürlicher Gleichmacherei, bindungszerstörerischer Wettbewerbsmentalität und zweckbetonter Bildungsnormen ist dieses Bilderbuch ein gelungener Gegenpol, der ebenso zu Individualität und unkon- ventioneller Einzigartigkeit wie zu Empathie und Verbundenheit animiert. „Vielleicht“ setzt einfühlsam in Szene, wie es wäre, wenn man Kinder nicht in ein Korsett aus Erwartungen schnürt, sondern ihnen den Spielraum läßt, ihrer inneren Stimme und ihrer Herzenswahrheit zu lauschen und entdeckend-ausprobierend zu folgen. Gelegentliches Scheitern ist dabei ebenfalls erlaubt, denn dies gehört dazu wie Wachstumsschmerzen.  

© Vielleicht / Kobi Yamada & Gabriella Barouch, Adrian Verlag

Die Fragen, die hier gestellt werden, weisen auf das SEIN hin, auf innere Werte, auf Achtsamkeit, Begeisterung, Entdeckungslust, Freiheit, Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft, Lebensweite, Mut, Magie, Naturverbundenheit und Phantasie. So wird Kindern auf empfindsam-meditative Weise vermittelt, daß die Möglichkeiten und Perspektiven, die sie in sich finden, wahrnehmen und kultivieren, auch eine Bereicherung für die Gestaltung der Welt sein dürfen, ja, sogar sein sollen.

© Vielleicht / Kobi Yamada & Gabriella Barouch, Adrian Verlag

Es ließe sich einwenden, daß der Text verhältnismäßig abstrakt bleibt, daß viele Sätze – aus erwachsener Perspektive – an kalenderspruchartige Weisheiten erinnern. Doch der kindliche Geist ist noch viel unbelesener und dürfte deutlich aufnahmebereiter für solche Ermutigungen sein – zumal sich während der Vorlesesituation und im Dialog mit dem Kind vertiefende Konkretisierungen der persönlichen Besonderheiten und Vorlieben ergeben können.

Die ausdrucksvollen Illustrationen sind konkreter als der Text, gehen mehr ins Detail, bieten eine anregend-phantasievolle und schöne Kulisse für die innere Orientierung. Sie zeigen ein Kind (ohne Namen), das eine Mütze aus Blättern trägt, in der Stirnmitte ist ein gelber Vogelschnabel aus gefaltetem Papier angebracht. Dieser Laubvogelkopf- schmuck gibt dem Kind unmittelbar eine naturverbundene und kreative Note. Man sieht sofort, daß wir es hier mit einem eigenwilligen und sensiblen Menschenwesen zu tun haben, das die Welt mit offenem Herzen betritt und dessen Schritte in der Welt deshalb noch fließender und verträumter sind als beim eher verschlossenen erwachsenen Menschen. Naturverbundenheit zeigt sich in fast allen Szenerien und spiegelt sich auch in der ständigen Begleitfigur des kleinen Schweinchens.

© Vielleicht / Kobi Yamada & Gabriella Barouch, Adrian Verlag

Die Illustratorin benutzt eine dezente, sanftbunte Farbpalette, und sie jongliert mit Größenproportionen – so reist das Kind beispielsweise auf einer Seite in einer Nuß- schale übers Meer, und auf der nächsten Seite sitzt es bequem auf der Mondsichel und spielt mit den Sternen. Dies spiegelt anschaulich die Reichweite des Möglichen.

Dieses Bilderbuch wird vom Verlag ab dem Alter von vier Jahren empfohlen. Dem stimme ich zu, möchte aber ergänzen, daß sich diese vorbildliche Anregung zur Selbst- bestimmung und Selbstwirksamkeit auch noch gut für Jugendliche eignet, die sich dem Ende der Schulzeit nähern und sich für die nächste Lebensweichenstellung entscheiden müssen.

 

»Du bist du. So jemanden wie dich
hat es noch nie gegeben und wird
es auch nie mehr geben.
In dir steckt so viel.«

 

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
http://adrian-verlag.de/vielleicht-landing_page/

Eine weitere Besprechung aus mütterlicher Sicht gibt es bei Steffi auf LESENSLUST:
https://lesenslust.wordpress.com/2020/04/16/kinderfreuden-37-make-a-wish/

Der Autor:

»Kobi Yamada ist ein New York Times Bestsellerautor und CEO von Compendium, einem Unternehmen, wo besondere Menschen besondere Dinge kreieren. Kobi lebt glücklich mit der Liebe seines Lebens und ihren zwei superlustigen Kindern im Land des fliegenden Lachses. Dort entdeckt er jeden Tag unglaubliche Möglichkeiten. Er fragt sich oft, ob sein Leben vielleicht noch schöner ist, als er es sich je erträumt hat. «

Die Illustratorin:

»Gabriella Barouch ist eine Künstlerin, deren Arbeiten weltweit anerkannt sind. Ihr unverwechselbarer Stil kombiniert realistische Details mit magischen Elementen und Motiven auf eine ganz besondere Art. Dadurch spricht sie Menschen jeden Alters an. Gabriella lässt sich gerne von ihren gesammelten Vintage-Spielzeugen inspirieren und liebt es, an  viele verschiedene Ort zu reisen. Sie ist tief verbunden mit der Natur, vor allem mit Wäldern. „Vielleicht“ ist ihr erstes Bilderbuch.«

 

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Digitale Ethik

  • Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert
  • von Sarah Spiekermann
  • Originalausgabe
  • Sachbuch
  • Droemer Knaur Verlag, April 2019 www.droemer-knaur.de
  • gebunden mit Schutzumschlag
  • 304 Seiten
  • 19,99 € (D), 20,60 € (A)
  • ISBN 978-3-426-27736-2

MIT ANALOGER WEISHEIT INS DIGITALE ZEITALTER

Sachbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Sarah Spiekermann wirft einen kenntnisreichen, klugen, komplexen und ethisch enga-gierten Blick auf die Digitalisierung und ihre gesellschaftlichen und zwischenmensch- lichen Auswirkungen. Dabei geht sie auf Licht- und Schattenseiten technischen Fortschritts und die sich daraus ergebenden Forschungs- und Entwicklungsziele ein.

Die Frage, in welchem Geist und mit welchem Menschenbild die Digitalisierung geschieht, ist überfällig. Bei einem negativen Menschenbild sind Überwachungsstruk- turen selbstverständlich, der Wert der Privatheit wird geringgeschätzt; so geht heute mit der Nutzung der meisten digitalen Systeme die Preisgabe persönlicher Daten einher. Eine Kontrolle des Nutzers ist kaum möglich und erst recht nicht eingeplant, obwohl es technisch machbar wäre.

Doch der Preis des digitalen Fortschritts muß nicht zwangsläufig der Ausverkauf der Privatsphäre, die Ausbreitung suchterzeugender Spiele und der Social-Media-Beloh- nungssysteme sein. Auch die massive Wissensverflachung, Konzentrationszerstreuung, Aufmerksamkeitsschwindsucht sowie datengesteuerte und -kontrollierte betriebswirt- schaftliche Effizienzüberbetonung von Arbeitsabläufen unter Vernachlässigung sozial-zwischenmenschlicher Lebensbedürfnisse und Gesundheitsaspekte sind keine unabänderlichen Gegebenheiten.

Den eingeplanten Suchterzeugungsfaktor sozialer Onlinedienste könnte man nach Auf-fassung der Autorin dadurch reduzieren, daß beispielsweise die „Likes“ nicht in Echtzeit, sondern nur einmal täglich gebündelt angezeigt werden. Da jedoch digitale Plattformen ihre Werbeeinnahmen nur steigern können, wenn die Nutzer suchtartig häufig und mit langer Verweildauer auf der Suche nach virtueller Belohnung herumklicken, ist der Preis für die kostenlose Nutzung der Plattform das eingebaute Suchtmodell. Zahlte jedoch jeder Nutzer einfach monatlich drei Euro Nutzungsgebühr, könnte der Vernetzungs-dienstleister auf Werbung, Suchtköder und Datenausbeutung verzichten. (Nebenbei unter uns Bloggern bemerkt: Wir können uns bei der Plattform WordPress für 30 $ im Jahr immerhin von den nervigen Werbeeinblendungen freikaufen!)

Eine menschengerechte Technik muß sich an ethischen Werten (Freiheit, Gerechtigkeit, Gesundheit, Gemeinwohl, Mitgefühl, Würde, Respekt, Selbstbestimmung, Sicherheit, Verantwortung, Vertrauen, Ordnung, Solidarität, Transparenz …) orientieren und diese Werte in die Konstruktion, Funktion und Bedienung digitaler Systeme einbeziehen.

Digitalisierung wird in neuzeitlicher Maschinengläubigkeit meist unkritisch mit Fort- schritt gleichgesetzt, und jede technische Neuerung ist dementsprechend gut und besser als das, was kurz zuvor zur Verfügung stand. Sarah Spiekermanns erhellendes Kapitel über das Fortschrittsdenken erklärt die Entstehung unserer gegenwärtigen Definition von Fortschritt, die zudem stets voreilig den Begriff „neu“ mit „gut“ und den Begriff „alt“ mit „schlecht“ gleichsetzt.

In der Antike und noch bis ins frühe Mittelalter war ein fortschrittlicher Mensch jemand, der seine Talente und Tugenden erkennt, weiterentwickelt, einen sinnvollen Platz in der menschlichen Gemeinschaft, in der Wertordnung der Natur und des Kosmos einnimmt und selbstverständlich auch die Erkenntnisse der Vergangenheit achtet und respektiert.

Mit den sich entwickelnden Naturwissenschaften und zahlreichen neuen technischen Erfindungen wurde die Natur „als mathematisch beherrschbares Experimentierfeld angesehen“ (Seite 137). So schritten wir fort von der Erfindung des Kompasses, des Schießpulvers, der Räderuhren, des Buchdrucks, der Glühbirne und den damit ver- knüpften Veränderungen der Produktionsweisen, Arbeitstaktungen, Handelsstruk-turen bis hin zur Vorstellung der „Welt als kontrollierbares Modell“ (Seite 141), das nur mit hinreichend vielen Daten gefüttert werden muß, um die Zukunft berechenbar zu machen.

Tatsächlich sind digitale Systeme und ihre ausgewerteten Modelle viel fehleranfälliger, als im allgemeinen zugegeben wird. „Die Diskrepanz zwischen der digitalen Oberfläche einerseits und einer oft nicht dazu passenden Realität andererseits begegnet uns heute auf vielen Einsatzgebieten des Digitalen.“ (Seite 93)

Sarah Spiekermann betrachtet die Fehleranfälligkeit digitaler Systeme mit nüchternem Blick; so wird beispielsweise von Systementwicklern für Hochsicherheitsbereiche (Flug- technik, Krankenhaussysteme) angestrebt, auf „unter 0,5 Fehler pro 1000 Zeichen Code zu kommen“. (Seite 96). Nur wenn diese Fehlerwahrscheinlichkeit offen kommuniziert, besser verstanden und möglichst korrigiert wird, kann Digitalisierung ohne gefährliche Realitätsverzerrungen genutzt werden.

Wir dürfen nicht ohne politische Kontrolle der Marktdynamik und Marktmacht digitaler Konzerne ausgeliefert werden. Schreitet die Digitalisierung technokratisch, profitorien-tiert und lebensentfremdet fort, gipfelt sie in der „lieblosen Ideologie der Transhuma-nisten“, die das Gehirn einscannen wollen, um von Gefühlen und Intuition bereinigtes Denken zu extrahieren und die angeblich mangelhafte Körperlichkeit des Menschen maschinell zu optimieren.

Digitale Ethik strebt nicht danach, den Menschen durch Maschinen zu ersetzen, sondern Maschinen sinnvoll, wertorientiert und lebensdienlich für die Arbeitsabläufe und Funk-tionen einzusetzen, in denen sie Menschen überlegen sind. Das ist beispielsweise die Analyse sehr großer Datenmengen und daraus ablesbarer Muster. Maschinen und Datenerfassung ersetzen jedoch keineswegs die ganzheitliche, sinnlich-geistige Wahrnehmung, die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit und die Lebenserfahrung des Menschen. Sarah Spiekermann regt dazu an u.a. für Handwerksberufe menschliche „Hüter des Wissens“ zu kultivieren, die ihr Wissen analog-lokal mit anderen teilen.

„Oft wird der Internetanschluss mit Wissensanschluss verwechselt.“ (Seite 202) Die Lektüre dieses Buches dürfte diese Verwechslung nachhaltig verhindern. Nur eigenes Wissen dient unserer Identitätsbildung, der Entwicklung persönlicher Wertekoordinaten und führt uns zu freiem Denken, Lebensklugheit, Mündigkeit und Weisheit.

Sarah Spiekermann kritisiert das ethisch wertlose Effizienz-, Gewinn- und Machtstreben der großen IT-Konzerne und entwirft konstruktive Alternativen für digitale Funktions-weisen und Infrastrukturen, die Menschen nicht beherrschen, ausspionieren, ablenken, zerstreuen und der Realität entfremden, sondern sie in ihrer Selbstbestimmung, Kon- zentration und ethischen Wertorientierung unterstützen. Es geht uns alle an, welche Werteweichen nun für das digitale Zeitalter gestellt werden!

 

Hier entlang zum Buch und zur großzügigen LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.droemer-knaur.de/buch/sarah-spiekermann-digitale-ethik-9783426277362

Die Autorin:

»Sarah Spiekermann, Jahrgang 1973, ist Professorin für Wirtschaftsinformatik an der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihre berufliche Karriere begann in Unternehmen des Silicon-Valley. Diese Erfahrungen ließen sie zu einer Expertin der IT-Branche werden. Heute beschäftigt sie sich mit ethischen Fragen der Digitalisierung. Sarah Spiekermann ist eine sehr gefragte Keynote-Speakerin und hat viele Jahre lang in Gremien der EU-Kommission und der OECD gearbeitet. Zusammen mit dem weltweit größten Ingenieursverband IEEE erarbeitet sie den ersten Ethikstandard für Technikentwicklung.«

Querverweis:

Ergänzend empfiehlt sich – in Hinsicht auf die mehr als zweifelhaften Bildungsver-sprechen der Digitalisierung Manfred Spitzers wissenswertes Sachbuch „Digitale Demenz“: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/06/19/digitale-demenz/

Als weitsichtiger Warnhinweis auf die Gefahren menschlicher Maschinenabhängigkeit bietet sich zudem E. M. Forsters Science-Fiction-Erzählung „Die Maschine steht still“ an:  https://leselebenszeichen.wordpress.com/2020/02/23/die-maschine-steht-still/

 

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Die wilde Meute

  • von Ilse Bos
  • Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart
  • Originaltitel: »Troep«
  • Mit Illustrationen von Linde Faas
  • Verlag Urachhaus  August 2016    http://www.urachhaus.com
  • gebunden, Fadenheftung
  • 303 Seiten
  • 17,90 € (D), 18,40 € (A)
  • ISBN 978-3-8251-7924-4
  • zum Vorlesen ab 7 Jahren
  • zum Selbsterlesen ab 10 Jahren
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K I N D E R K O M P E T E N Z

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Dreizehn Kinder, die ohne alltägliche elterliche Aufsicht auf einem am Ufer einer verwilderten Landzungenspitze verankerten Schiff hausen – das kann ja heiter werden und gefährlich. Wenn das das Jugendamt wüßte …

Doch das Jugendamt, personifiziert von der weichgerundeten Frau Weiblen, die tränenreich nahe am Wasser gebaut ist und großzügig ihr sozialpädagogisches Vorschußmitleid verteilt, hat zum Glück noch nicht herausgefunden, wie unbeaufsichtigt das Leben der Kinder wirklich ist.

Wie konnte es so weit kommen? Die zwölfjährige Pola erzählt folgende Familiengeschichte: Tineke, Polas Mutter, führte vor Polas Geburt ein reiselustiges Leben. Sie nähte und strickte Kleidung für Zirkusartisten und Schiffsbesatzungen. Auf einer Schiffsfahrt nach Reykjavik verliebte sie sich in den Maschinisten Willem Vanderwerff, und die beiden kamen sich sehr, sehr nahe. Doch ein Mißverständnis führte dazu, daß sich ihre Wege – beiderseits ungewollt – trennten.

Wenig später bemerkte Tineke, daß sie ein Kind erwartete. Sie suchte vergeblich nach Willem und kehrte zur Geburt des Kindes zur Blauschute zurück, dem Schiff ihres Vaters. Kurz nach Polas Geburt setzte Tineke ihre reisende Berufstätigkeit in Begleitung ihrer kleinen Tochter fort und suchte in vielen verschiedenen Ländern nach dem Verbleib ihrer großen Liebe Willem. Unterwegs in Kiew nahm sie Wladimir, ein verwaistes Straßenkind, mit einer ausgeprägten Begabung für Technik und Mechanik, in ihre Obhut. So bekam Pola ihren ersten Bruder.

Als Pola und Wladimir das schulpflichtige Alter erreichten, wurden sie in Amsterdam auf der Blauschute seßhaft, während ihre Mutter weiterhin weltweit arbeitete, reiste und nach Polas Vater suchte. Nach und nach strandeten noch einige sogenannte heimische Problemkinder auf der Blauschute und wurden von Tineke als offizielle Pflegekinder angenommen.

Einmal brachte sie auch eine erneute Schwangerschaft mit – als Reiseandenken eines Flirts mit einem surinamesischen Fischer. So ergänzen inzwischen die Zwillinge Flip und Tutti mit ihren Rastazöpfchen und ihrer eigenen Zwillingssprache den bunten Kinderreigen.

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Illustration von Linde Faas © Verlag Urachhaus 2016

Nun ist Pola zwölf Jahre alt, und das Zusammenleben der Kinder funktioniert ziemlich gut, die Zähne werden geputzt, die Wäsche wird wöchentlich gewaschen, es wird regelmäßig gegessen, die Schule wird (meist) pünktlich besucht, jedes Kind kann irgendetwas besonders gut und bringt seine Fähigkeit in die Gemeinschaft ein.

Der schweigsame Knut kocht täglich einfache, leckere Gerichte, Wolke kann mit Tieren sprechen, Asala ist sehr musikalisch und singt gerne, Jan kann gut stricken, häkeln, nähen und heulen. Pola ist die Älteste und somit die Bestimmerin (auch wenn sie mal nicht weiterweiß) …  Wenn es ernste Probleme gibt, wird der Geschwisterrat einberufen, und es werden Lösungsstrategien ausdiskutiert und gefunden.

Die ungezwungenen, kinderselbstbestimmten häuslichen Verhältnisse tragen in dieser abenteuerlich-unkonventionellen Familiengeschichte dazu bei, daß sich die Einzig- artigkeit der Kinder ausdrücklich entfaltet, daß sie von- und miteinander lernen und ihr Zusammenleben kooperativ gestalten: Eine Miniaturdemokratie mit Toleranz, konstruktiver Streitkultur und viel Improvisationstalent.

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Illustration von Linde Faas © Verlag Urachhaus 2016

Die reisende Mutter schickt regelmäßig Bargeld und ruft jeden Samstagnachmittag um Punkt fünf Uhr an. Sie kommt nur noch alle drei Monate nach Hause und kümmert sich dann um die Angelegenheiten, die die Kinder nicht alleine regeln können. Allerdings war sie schon seit zwei Jahren nicht mehr beim Elternsprechtag, und dies ruft Frau Weiblen vom Jugendamt auf den Plan.

Frau Weiblen gibt Pola eine schriftliche Einladung für ihre Mutter mit; sollte die Mutter nicht beim Elternsprechtag erscheinen, drohe ein Hausbesuch des Jugendamts. Während der Geschwisterrat um eine Lösung ringt (die Mutter ist zu weit fort, um kurzfristig zu kommen), bietet sich den Kindern zufällig ein hilfsbereiter Nachbar, ein arbeitsloser Schauspieler, als Vaterfigur an. Maarten ist arbeitslos, weil er sich mit seiner Rolle immer so sehr identifiziert, daß er aus dem Rollencharakter nicht mehr herausfindet. Das ist in diesem Falle durchaus von Vorteil und nimmt Frau Weiblen erst einmal den Wind aus den sozialpädagogisch geblähten Segeln …

Es gibt aber noch andere Sorgen. In der Stadt entstehen plötzlich unerklärliche Löcher, die angeblich mit dem Bau der neuen U-Bahn-Linie in Zusammenhang stehen. Maartens Zwillingsbruder ist der Chef der U-Bahn-Tunnel-Baufirma, aber er ist verschwunden.

Außerdem müssen die Kinder einen neuen Anlegeplatz für die Blauschute ausfindig machen, da die städtische Bebauung bald das verwilderte Restrefugium „zivilisieren“ wird.

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Illustration von Linde Faas © Verlag Urachaus 2016

Maarten hilft den Kindern, und die Kinder helfen Maarten. Und so beginnen zwei Expeditionen: Die eine, angeführt von Maarten, führt in die unterirdischen Gefilde der Stadt, um Maartens Bruder zu suchen. Die andere, angeführt von der belesenen Antonia, macht sich mit dem motorisierten Beiboot der Blauschute auf die Suche nach einem alternativen Liegeplatz.

Weitere überraschende Unterstützung kommt von den „Unbezweckten“, einer phantastischen, kollektiven Lebensform, die ihre Gestalt wechseln kann und auf zweckfreien Lebensraum angewiesen ist …

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Illustration von Linde Faas © Verlag Urachhaus 2016

Ernsthafte Gefahren müssen überstanden werden, Traum und Wirklichkeit verschwimmen ein bißchen, Rätsel lösen sich, lose Fäden werden sinnvoll verknüpft, familiäre Zusammenhänge klären sich… Alle Gesuchten werden glücklich wiedergefunden, ja, sogar Polas Vater taucht auf, und schließlich kehrt auch Polas Mutter zurück, und der künftigen Bilderbuchfamilie steht nun nichts mehr im Wege …

Sosehr die Kinder ihre wilde Freiheit und ihre weitgehende Selbständigkeit auch genießen, so sehnen sie sich doch nach beständiger, liebevoller, elterlicher Präsenz und Geborgenheit. Die Wahlgeschwister sind gewitzt, tapfer und lebenspragmatisch, aber auch verletzlich und oft genug überfordert. Es gibt Lebenslagen, da sollten Kinder unbedingt getragen und begleitet werden. Als Maarten in die Vaterrolle schlüpft, sonnen sich alle Kinder gerne an der väterlichen Herzenswärme und Tatkraft, die er ihnen bietet.

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Illustration von Linde Faas © Verlag Urachhaus 2016

Die Geschichte der wilden Meute wird von Ilse Bos auf eine Weise erzählt, die die charakteristischen Eigenheiten und sprachlichen Spezialitäten aller Kinder ausdrücklich und lebhaft zu Wort kommen läßt. Der Autorin gelingt es mit spielerischer Leichtigkeit, die Charaktere und Stimmungen aus der Innen- perspektive anschaulich zu machen.

Die spannende und komplexe Dramaturgie wird begleitet von heiterer Situationskomik, feinem kindlichen Wortwitz (besonders gelungen bei der Sprache der Zwillinge und dem Akzent von Wladimir) und der einfühlsamen Darstellung der geschwisterlichen Beziehungen, die nicht immer harmonisch sind, jedoch auf der Basis grundsätzlicher Solidarität und Fürsorge stehen.

Die zahlreichen Figuren und ihre verborgenen sowie offensichtlichen Beziehungen zueinander erfordern indes ein beträchtliches Maß an Lese- konzentration und Aufmerksamkeit. Angesichts des umfangreichen Personenreigens ist es nützlich, daß sich im Anschluß an die Geschichte ein Personenregister der dreizehn Geschwister mit Kurzsteckbriefen zum Nachschlagen befindet.

Die zarten, textdetailgetreuen warmherzigen Zeichnungen von Linde Faas spiegeln die Charaktere, Szenerien und das emotionale Klima subtil und farbenfroh sowie situationsweise lebhaft-dynamisch oder still-versunken wider.

„Die wilde Meute“ handelt von einer Art Pippi-Langstrumpf-WG, in der die Grenze zwischen ‚Kindern etwas zuzutrauen′ und ‚Kindern etwas zuzu- muten′ fließend ist. Es wird ausgelotet, wie weit kindliche Selbstbe- stimmung und Selbstversorgung funktionieren, und wie wünschenswert – bei aller Liebe zur Freiheit – zuverlässige, liebevolle und ANWESENDE erwachsene Bezugspersonen sind.

Kindererziehung ist gleichwohl immer ein Abenteuer – ob in der Fiktion oder in der Wirklichkeit. Die im vorliegenden Kinderbuch vorgestellten Spielarten der Kinderkompetenz könnten überbehütete Kinder zu mehr Freiraum und Selbständigkeit ermutigen. Doch dies möchte ich nicht als Warnhinweis verstanden wissen, sondern als ausdrückliche Empfehlung.

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.urachhaus.de/Lesen-was-die-Welt-erzaehlt/Kinderbuch/Die-wilde-Meute.html

Die Autorin:

»Ilse Bos, geboren 1966, hat Sprachen und Journalismus studiert. Nach einigen Jahren des Unterrichtens hat sie sich stärker auf das Dasein als Journalistin konzentriert und irgendwann begonnen, Geschichten zu schreiben. Ilse Bos lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Amsterdam. Die wilde Meute ist ihr Debüt.«

Die Illustratorin:

»Linde Faas wurde 1985 in Zeist in den Niederlanden geboren. Nach ihrem Studium an der Kunstakademie in Breda begann sie, sich als Illustratorin einen Namen zu machen. Für den Verlag Urachhaus hat sie u.a. drei Bücher des niederländischen Autors Paul Biegel illustriert – darunter Die Prinzessin mit den roten Haaren, für das sei im Jahr 2015 mit dem begehrten »Penzberger Urmel« ausgezeichnet wurde.«

Hier entlang zu: „Die Prinzessin mit dem roten Haaren“:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/11/20/die-prinzessin-mit-den-roten-haaren/

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Im Hause Longbourn

  • Roman
  • von Jo Baker
  • Originaltitel: »Longbourn«
  • Aus dem Englischen von Anne Rademacher
  • Knaus Verlag, September 2014  https://www.knaus-verlag.de
  • 448 Seiten
  • gebunden, mit Schutzumschlag
  • 19,99 € (D), 20,60 € (A), 28,50 sFr.
  • ISBN 978-3-8135-0616-7
    Im Hause Longbourn von Jo Baker

F I N G E R S P I T Z E N G E F Ü H L E

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Dieser klassengesellschaftliche Perspektivwechsel im Jane-Austen-Gewand ist wunderbar gelungen und fasziniert vom ersten bis zum letzten Satz.

Jo Baker stellt in ihrem Roman die Menschen in den Mittelpunkt, die in „Stolz und Vorurteil“ fast unsichtbar hinter den Kulissen wirken. So findet nun die „herrschaft- liche“ Handlung von „Stolz und Vorteil“ in Hintergrund statt und bildet die Kulisse für die Schicksale des Personals, das im Haus Longbourn, dem Wohnsitz der Familie Bennet, arbeitet.

Die Autorin erzählt uns die Liebesgeschichte des Hausmädchens Sarah und des Haus- dieners und Kutschers James, die beide im Hause Longbourn arbeiten. Und wenn ich hier schreibe arbeiten, so meine ich keine 40-Stunden-Woche mit sechs Wochen bezahltem Jahresurlaub, sondern ich meine eine Arbeit von sehr früh morgens bis sehr spät abends, und wenn die Herrschaften weit nach Mitternacht von einem festlichen Ball zurückkehren, chauffiert von einem schlaflosen Kutscher, muß selbstverständlich auch jemand vom Hauspersonal aufbleiben und den tanzerschöpften Familienmit- gliedern die Haustür aufhalten, Tee und Gebäck servieren und anschließend noch beim Auskleiden behilflich sein…

Doch das ist harmlos, verglichen mit den Strapazen des wöchentlichen Waschtages, mit dem die Autorin uns in Sarahs Arbeitsalltag einführt. Sarah schleppt morgens um halb fünf zwei schwere Wassereimer von der Wasserpumpe über den Hof in die Waschküche und macht sich durchaus widerspenstige Gedanken darüber, die schmutzige Wäsche anderer Leute waschen zu müssen. Wir lernen viel über die Mühsal des Waschens zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ein Kraftakt, der nicht nur die Hände auslaugte.

Die Haushälterin und Köchin Mrs Hill, der Butler Mr Hill und das zwölfjährige (!) zweite Hausmädchen Polly vervollständigen den Haushaltspersonalreigen.

Die Charaktere werden differenziert, mit schlüssiger biographischer Entwicklung und sehr einfühlsam dargestellt. Wir nehmen lebhaft Anteil an ihren Freuden, Leiden, ihren emotionalen Überlebensstrategien, und wir verfolgen gebannt das Hindernisrennen um ein Stückchen Horizonterweiterung, Selbstbestimmung, Lebensglück und Liebeser- füllung.

Die arbeitsrechtliche Abhängigkeit von launischen Herrschaften war kein Zucker- schlecken, trotz gelegentlicher Anwandlungen von Großzügigkeit, z.B. wenn die Damen des Hauses neu eingekleidet wurden und ihre alten, aber dennoch guten Kleider an die Hausmädchen verschenkten.

„Jane und Elizabeth waren beide reizend, fast schon Lichtgestalten. Und Sarah, die nun rasch über den Dienstbotenflur zur Treppe und nach oben lief, um ihr neues Kleid aufzuhängen, war nur einer der vielen Schatten, die um die Ränder ihres Lichtscheins huschten.“ ( Seite 75)

James, der vor seinem Arbeitsantritt in Longbourn als Soldat in den napoleonischen Kriegen gekämpft hat, weiß sogar von noch viel härteren Arbeitsbedingungen, Unge- rechtigkeiten und menschlichen Grausamkeiten.

Aus Sicht der Hausangestellten erscheinen die Bennets in deutlich schattigerem Licht; schließlich wissen sie genau, was alles unter den Teppich gekehrt wird. Das Verhältnis zwischen Herr und Diener sowie zwischen Herrin und Dienerin ist auf paradoxe Weise intim und distanziert zugleich. Das An- und Auskleiden und Frisieren sowie die Pflege der Wäsche bedingen zwangsläufig viel körperliche Nähe.

Mrs Bennet reklamiert auch gerne tröstliches Händchenhalten und therapeutisches Zuhören bei ihrer Haushälterin, die sich indessen mit stummer Verärgerung fragt, ob der vorbereitete Brotteig in der Küche schon versteinert ist.

Die Autorin kontrastiert in ihrem Roman die Ansprüche und Bedürfnisse von Mitglie- dern unterschiedlicher Gesellschaftsklassen, ohne zu polarisieren. Es ist ganz einfach von Anfang an klar, wem unsere Hauptanteilnahme gilt, ohne daß die „standesge- mäßen“ Personen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – als unsympathisch dargestellt werden.

Jo Bakers Sprache – in der Übersetzung von Anne Rademacher – ist anmutig, geschmei- dig und lebendig, bei der Wiedergabe der wechselnden Jahreszeitenstimmungen ist sie geradezu bezaubernd naturpoetisch. Die aufblühende Liebe zwischen Sarah und James wird sehr feinsinnlich, herzenswarm und zart ausgedrückt. Auch rauhe, ausgelaugte Hände sind voller Empfindsamkeit und Fingerspitzengefühl, und die Sehnsucht des Herzens schlägt in allen Menschen gleich.

Jane Austens Heldin Elizabeth ist eigenwillig, stolz und vorwitzig – doch Jo Bakers Sarah ist tapfer, verletzlich und verwegen und verdient viel eher die Bezeichnung Heldin.

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE – inzwischen nur noch als Taschenbuchausgabe – auf der Verlagswebseite: https://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Im-Hause-Longbourn/Jo-Baker/Penguin/e498933.rhd

 

Die Autorin:

»Jo Baker wurde in Lancashire geboren und studierte an der Oxford University und der Queen’s University in Belfast, wo sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte. Seither veröffentlichte sie fünf Romane, die ihr in der Presse viel Lob einbrachten. Mit „Im Hause Longbourn“ gelang ihr der internationale Durchbruch. Jo Baker lebt mit ihrer Familie in Lancaster.«

PS:
Als kleine Zugabe enthält dieses Buch noch interessante, sehr instruktiv und scharfsinnig formulierte Informationen über die Haushaltswerkzeuge zu Beginn des 19.Jahrhunderts und eine Kurzeinführung in die Handlung von Jane Austens Roman „Stolz und Vorurteil“ sowie in die klassengesellschaftlichen Rahmenbedingungen des damaligen „Heiratsmarktes“.

PPS:
Dieser Roman ist absolut bestsellerverdächtig – zumindest in „DOWNTON ABBEY“-Freundeskreisen 😉

 

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