Ein Zimmer, sechs Frauen und ein Bild

  • Roman
  • von Margaret Forster
  • Originaltitel: »Keeping the World Away«
  • Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek
  • deutsche Erstausgabe Arche Literatur Verlag 2006
  • Fischer Taschenbuch Verlag  August 2008   http://www.fischerverlage.de
  • 528 Seiten
  • Taschenbuch
  • 9,95 € (D), 10,30 € (A)
  • ISBN 978-3-596-17581-9

KAMMERSPIEL  MIT  HORIZONT

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Betrachten Sie zunächst einmal ganz unvoreingenommen das Bild, welches auf dem Buchumschlag wiedergegeben wird. Es ist ein kleinformatiges Ölgemälde „A Corner of  the Artist’s Room in Paris“, das die walisische Malerin Gwen John zwischen 1907 und 1909 gemalt hat. Das Bild spielt eine wesentliche Rolle im Romangeschehen. Es zeigt eine bescheidene Dachkammer mit erdigwarmen Bodenfliesen; unter einem Fenster mit leichter, hell-durchsichtiger Gardine steht ein Tisch aus unbehandeltem Kiefernholz, den ein Sträußlein kurzstieliger, dezent-bunter Blumen ziert; auf einem Korbflechtstuhl ruht ein Kissen, ein Tuch oder eine Stola hängt über einer Lehne, und ein Damensonnen-schirm lehnt sich gleich neben das Tuch an den Flechtstuhl. Das Zimmer ist von warmem Licht und einer unsichtbaren Präsenz erfüllt.

Es ist menschenleer und dennoch strahlt es  eine schwer zu fassende Erwartung aus. Ich frage mich unwillkürlich, ob jemand das Zimmer betreten oder das Zimmer verlassen wird, ob es eine oder mehrere Personen wären und ob sich das Zimmer in Anwesenheit von Menschen nicht in ein anderes Zimmer verwandeln würde.

Natürlich wird jeder das Bild auf eigene Weise wahrnehmen, manche mögen es sogar unscheinbar und langweilig finden. Mir gefällt an diesem Gemälde besonders die subtile Farbgebung und Lichtführung und daß ich mir eine Frau in dieses Bild hineinträumen kann.

Der Roman beginnt mit dem biographischen Hintergrund der Malerin Gwen John und beschreibt ausführlich und fesselnd ihre Studien und ihr Künstlerinnenleben in Paris. Sie stand u.a. Auguste Rodin Modell und war zeitweise seine Geliebte. Gwen Johns Konflikt zwischen abhängiger Liebesbindung und dem Bedürfnis nach Abgeschiedenheit und musischer Konzentration, um dem leidenschaftlichen Streben nach der Vervoll- kommnung des künstlerischen Selbstausdrucks gerecht zu werden, nimmt viel Raum ein.

Wir lesen von ihrer intensiven Arbeit an obengenanntem Bild, mit dem sie sich aus der schmerzlichen Anhänglichkeit an Rodin und seinen Versuchen, sie umzuformen, freimalt. Gwen John ist erleichtert, als das Bild endlich vollendet ist, und sie schenkt es einer guten Freundin, die aus familiären Gründen wieder nach England zurückkehrt und ihre Kunststudien in Paris aufgibt.

Diese Freundin verpackt das kostbare Geschenk sorgfältig in ihrem besten Reisekoffer. Sie wird das Bild jedoch nie wiedersehen. Denn ausgerechnet dieser Koffer wird mit einem anderen verwechselt, und das Bild strandet in England bei einer blaublütigen Familie. Eine der Töchter des Hauses hat eine künstlerische, unkonventionelle Ader und verliebt sich sogleich in das kleine Bild. Es hat auf seine stille Art einen beträchtlichen Einfluß auf ihre Selbstsicht und ihren weiteren Lebenslauf.

Später wird das Gemälde gestohlen, dann auf einem Trödelmarkt verkauft und als Liebesgabe an eine junge Frau  verschenkt. Es wird wieder verkauft, vererbt und wieder verkauft … So wird das Bild über den Zeitraum eines ganzen Jahrhunderts sechsmal von Frau zu Frau getragen und weitergereicht. Die Betrachtung des Gemäldes nährt und inspiriert bei jeder Frau die Selbstfindung und – sofern eine künstlerische Begabung vorliegt – auch das künstlerische Ausdrucksverlangen. Faszinierend sind auch die zufälligen Querverbindungen zwischen den verschiedenen Bildbesitzerinnen, die für die jeweils Betroffenen oft gar nicht ans Licht kommen.

Der Autorin gelingt mit diesem Roman eine feinsinnige, komplexe Verbindung von Familienroman und Künstlerroman, mit sehr einfühlsamen Psychogrammen, interessanter zeitgeistiger Umrahmung in Kombination mit überaus anschaulichen musischen Wahrnehmungsperspektiven sowie der deutlichen Unterscheidung zwischen echten Künstlern und Möchte- gernkünstlern.

Obwohl wir nur ausschnittsweise Einblick in das Leben der verschiedenen Bildinhaberinnen nehmen können, entsteht von jeder Frau eine aussage- kräftige und glaubwürdige Charakterskizze. Alle Frauen eint, daß sie früher oder später aus dem Rahmen der in sie gesetzten Erwartungen fallen und sich auf die Suche nach dem für sie selbst Wesentlichen machen.

Margaret Forster zeigt uns in sechs Variationen das komplizierte Schwanken zwischen Nähe und Distanz, archetypisch-weiblichen Lebens- fragestellungen und familiären Zwängen,  aber auch unterschiedliche Ab- stufungen von Liebe, Treue und Untreue, den häufigen Konflikt zwischen den Aufdringlichkeiten und Ablenkungsmanövern der Welt und der not- wendigen kreativen Einsamkeit und Zurückgezogenheit, die es braucht, um ein Kunstwerk zu gestalten. Die Ambivalenz zwischen Bindungsbequem- lichkeit und Freiheitsbeflügelung wird von jeder Frau anders gelöst.

Wie schon Virginia Woolf 1929 in ihrem berühmten Essay „Ein Zimmer für sich allein“ ausführte, ist ein eigenes Zimmer – neben einem auskömm- lichen Einkommen – die Basisvoraussetzung für die ungestörte Entfaltung weiblich-musischer Kreativität und Selbstbesinnung. Das Bild von Gwen John bietet sich für diesen Roman hervorragend als Imaginationsfläche an.

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.fischerverlage.de/buch/ein_zimmer_sechs_frauen_und_ein_bild/9783596175819

Und hier entlang zum lohnend-informativen Link zur Malerin Gwen John:
http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/gwen-john

Die Autorin:

»Von ihrem ersten Aufsehen erregenden Roman »Ich glaube, ich fahre in die Highlands« bis zu ihrem bislang erfolgreichsten Roman »Die Dienerin« hat die englische Bestseller-Autorin Margaret Forster auch im deutschsprachigen Raum zahllose Leserinnen begeistert. 1938 in Carlisle geboren, studierte sie Geschichte in Oxford und lebt heute als freie Schriftstellerin in London und im Lake District. Im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen zuletzt: ›Ich warte darauf, dass etwas geschieht‹ (Bd. 17233) und ›Ein Zimmer, sechs Frauen und ein Bild‹ (Bd. 17581).«

Querverweis:

Und hier gibt es noch einen weiteren Künstlerroman zu erlesen:

Konzert ohne Dichter


„Konzert ohne Dichter“ von Klaus Modick handelt von den Lebens- und Liebesverhältnissen und Auseinandersetzungen der Worpsweder Künstler und Künstlerinnen sowie von der Freundschaft zwischen dem Maler Heinrich Vogeler und dem Dichter Rainer Maria Rilke.

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48 Kommentare zu “Ein Zimmer, sechs Frauen und ein Bild

  1. Da in letzter Zeit mit eigenen Themen zu beschäftigt gewesen, bin ich jetzt am „abarbeiten“ meiner offenstehenden Mails gegangen.
    Wie schön, wieder einen neuen Buchtipp von Dir bekommen zu haben.

    Vor einigen Jahren hab ich mir ein Buch über Rodin gekauft, da ich seine Skulpturen so schön finde. Ich bin schon beim Lesen eingetaucht in eine Welt, bei der die Kunst, das Künstlerleben in Paris, die Liebe und Lieben, die Widrigkeiten des Lebens und um ihn herum, so präsent waren, dass man meinte dabei zu sein.

    Dein Buchtipp macht Lust auf mehr, vor allem auf die Erzählungen der Frauen.
    Aber auch die anderen Bücher der Autorin machen Lust auf Lesen.

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    • Hab‘ Dank, liebe Marietta,
      für Dein lebhaftes Interesse an diesem Künstlerinnenroman, dessen weitgehend weibliche Perspektive Dir wohlgefallen wird, auch wenn Rodins „Frauenverschleiß“ darin eine unrühmliche Rolle spielt.

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  2. Oh, das klingt aber gut, ich glaube, das ist wieder ein Buch für mich 🙂 Danke für den Tipp!!! Und das Gemälde ist auch sehr schön 🙂

    Liebe Grüße zu dir und schönes Wochenende,
    Christel

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  3. Ein wundervolles helles Bild, das eine feine zarte Sommerstimmung wiedergibt.
    Ein Roman, der sich um dieses Bild rankt, den kann ich mir sehr gut zum Lesen vorstellen.
    Ich mag es schon jetzt, liebe Ulrike.
    Liebe Grüße von Bruni

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    • Liebe Bruni,
      herzlichen Dank für Dein zugeneigtes Echo.
      Für mich war ebenfalls der Anblick des Bildes, der Auslöser nach diesem Buch zu greifen und die Geschichtenranken rund ums Bild zu lesen.
      Sommmersonnige Grüße von Ulrike

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  4. Das ist nun in der Tat eine nicht ganz alltägliche Bilder-Geschichte. 😉 Der Lebens-Lauf des Bildes dient also dazu, verschiedene menschliche Lebensläufe zu thematisieren. Lebensläufe mit beträchtlichen Unterschieden, die dann aber auch Gemeinsamkeiten aufweisen, denen wiederum auf unterschiedliche Weise begegnet wird. Besonderes interessant finde ich dabei, dass das Bild nicht bloß ein Alibi ist, um den Blick von einer Person zur nächsten zu wenden, sondern dass dieses Bild in den beschriebenen Lebensläufen gleichsam auf passive Weise aktiv wird. Das scheint mir ein recht geschickt gefertigtes Erzählgewebe zu sein.

    [Als Randnotiz bemerkt: Der Korbflechtstuhl erinnert mich daran, dass ich als Kind auch einen Flechtstuhl besaß (buchstäblich). Irgendwann wurde ich für den Stuhl zu groß. Es war zwar noch möglich, sich in den Stuhl zu setzen – aber es war dann nicht mehr gar so einfach, ihn wieder loszuwerden. Man kann sich im Leben noch so bequem einrichten. Irgendwann passt es einfach nicht mehr. Und wenn man zu lange in der Situation verharrt, sitzt man fest… ]

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    • Es ist mir ein Fest, Deinen differenzierten, feinformulierungsfrischfröhlichen Kommentar zu lesegenießen! 🙂
      Deine Zusammenfassung der Bilder-Geschichte und der lebensläufigen Zusammenwirkungen ist sehr treffend. Dieser Roman verfügt über ein vielseitiges zwischenmenschliches Erzählgewebe.

      Deine persönliche Randnotiz zum Herauswachsen aus dem kindlichen Korbstuhlformat ist ganz und gar POssierlich. 😉
      Herzensdank für Deine vielsaitige Resonanz. :mrgreen:

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      • 🐬
        Es freut mich natürlich sehr, wenn mein Buchbesprechungsecho für dich zum Lesegenuss wird. 😀
        Übrigens habe ich – so aus deinen Zeilen herauslesend – auch den Eindruck, dass Bild und Roman auch sozusagen in der gleichen Tonart schwingen. Dass das Bild also nicht „nur“ inhaltlich von Bedeutung sei, sondern dessen Stimmung auch in der Erzählung weiterlebt.

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      • Werter Maestro,
        Dein Buchbesprechungsecho ist stets Musik in meinen Ohren und in meinem Herzen! 🙂
        Die verschiedenen Frauenfiguren versuchen ihre Lebensgestaltung in Harmonie mit der meditativ-konzentrierten, lichten Bildstimmung zu bringen – insofern schwingt der Roman in der gleichen Tonart wie das Bild und auch die Sprache von Maragret Forster verfügt über diese leichte Tiefe oder tiefe Leichtigkeit, die von diesem Gemälde ausstrahlt.

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  5. Das Bild fasziniert mich, ich mag Interieurbilder u.a. liebe ich Menzels Balkonzimmer, und die Geschichte auch. Das Highlandbuch habe ich gelesen, das ist an mir vorbei gegangen.🤗 Vielen Dank auch für den Link zur Malerin, deren Gemälde mir sehr gut gefallen und die mir bis jetzt völlig unbekannt war. Im Zusammenhang mit Rodin kommt mir natürlich immer erst Camille Claudel mit ihrem tragischen Schicksal in den Sinn. Ich werde versuchen, die gebundene Ausgabe antiquarisch zu bekommen🤗 Danke liebe Bücherverführende für Deine wie stets wunderbare Vorstellung.
    Mit herzlichem Abendgruss, Karin

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    • Liebe Karin,
      vielen Dank für Deine Bild- und Buchbegeisterung und Dein Lob meiner Bücherverführungsqualität.
      Menzels Balkonzimmer mag ich übrigens auch gern.
      Die Malerin Gwen John war mir zuvor auch noch nicht bekannt, und dieser Roman war auch meine Margaret-Forster-Lesepremiere.
      In Zusammenhang mit Rodin fällt mir ebenfalls stets Camille Claudel ein – offenbar war sein „Frauenverschleiß“ vielseitig.
      Herzensgruß von mir zu Dir 🙂

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      • Liebe Ulrike, sitze noch draußen mit Leselämpchen und Kerzen überall und fange jetzt an zu lesen. Habe noch die Erstausgabe bekommen!
        Lieber Schmökergruß, Karin

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      • Liebe Karin,
        ich wünsche Dir einen feinen Lesegenuß in Deinem schönen, beblühten, abendlich- kerzenlichten Ambiente. Toll , daß Du die Arche-Ausgabe erwischen konntest, da ist das Bild von Gwen John viel besser zu erkennen und lädt zum „Einsteigen“ ein.
        Herzensgruß von mir zu Dir 🙂

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    • Hab‘ Dank für Deine Rückmeldung.
      Ich gehe davon aus, daß der erste Teil über Gwen Johns Leben biographisch recherchiert wurde – immerhin ist Margaret Forster Historikerin -, und die Frauenfiguren ab dem Verlorengehen des Gemäldes sind fiktiv bzw. bereits der Verlust des Bildes dürfte Fiktion sein, dient jedoch schlüssig der dramaturgischen Struktur des Künstlerromans.

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      • Für das Lese-Vergnügen ist es wohl egal, aber da ich u.a. auch mal Kunstgeschichte studiert habe, sehe ich auch immer die wissenschaftliche Seite und will es dann genau wissen.

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      • Ich habe unter meine Rezension einen Link zu einer Webseite über Gwen John eingefügt. Die biographischen Informationen, die ich dort erlesen konnte, entsprachen durchaus der Romanbeschreibung.
        Ich hätte es übrigens ebenfalls begrüßt, wenn Margret Forster in einem Nachwort ein paar Zeilen zu ihren Gwen-John-Recherchen und Quellen-Lektüren (Tagebücher, Briefe etc.) geschrieben hätte.

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  6. Klingt interessant, liebe Ulrike, und sehr ansprechend, die Idee, ein Bild durch viele Hände gehen zu lassen und dabei einen Einblick in die Welt „seiner“ Menschen zu geben.
    (Wie schön, dass du auch ältere Bücher vorstellst, das nur nebenbei angemerkt, weil es mich schon gelegentlich nervt, wenn alle anscheinend über das gleiche Buch schreiben müssen.)
    Liebe Grüße
    Christiane

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    • Verbindlichen Dank, liebe Christiane,
      für Dein lebhaftes Leseinteresse und Dein Lob meiner Wahl eines älteren Buches.
      Ich finde Neuerscheinungen generell viel zu überbewertet, aber meist bekomme ich als Rezensionsexemplare nur relativ neue Bücher.
      Das Buch von Margaret Forster habe ich tatsächlich aus einem öffentlichen Bücherschrank genommen und zwar in der gebundenen Arche-Verlag-Originalausgabe, auf der das Bild von Gwen John den ganzen vorderen Buchdeckel ziert. Ich bin sofort auf das Bild geflogen! Da die gebundene Ausgabe vergriffen ist, habe ich hier die noch lieferbare Fischer-Taschenbuchausgabe präsentiert.
      Abendamselgesangsgrüße von mir zu Dir

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  7. Klingt wunderbar für mich. Ich denke, das Thema würde bei einem entsprechenden Regisseur auch einen bezaubernden Film hermachen. Meine Phantasie läuft schon auf Hochtouren. Danke, Ulrike, für den literarisch-künstlerischen Tipp…

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    • Wie schön, liebe Birgit,
      daß Dich das Buch anspricht!
      Eine Verfilmung kann ich mir auch sehr gut vorstellen, mit fließenden Übergängen der Zeitebenen und Personen.
      Danke für Deine musische Rückmeldung.

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  8. Das wäre eine tolle Sommerlektüre, ganz nach meinem Geschmack.
    Leider ist mein Stapel ungelesener Bücher soo furchtbar hoch. Aber jetzt im Urlaub habe ich mir vorgenommen täglich eine Stunde zu lesen.

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Sie dürfen gerne ein Wörtchen mitreden, wenn's konveniert!