Ein Zimmer, sechs Frauen und ein Bild

  • Roman
  • von Margaret Forster
  • Originaltitel: »Keeping the World Away«
  • Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek
  • deutsche Erstausgabe Arche Literatur Verlag 2006
  • Fischer Taschenbuch Verlag  August 2008   http://www.fischerverlage.de
  • 528 Seiten
  • Taschenbuch
  • 9,95 € (D), 10,30 € (A)
  • ISBN 978-3-596-17581-9

KAMMERSPIEL  MIT  HORIZONT

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Betrachten Sie zunächst einmal ganz unvoreingenommen das Bild, welches auf dem Buchumschlag wiedergegeben wird. Es ist ein kleinformatiges Ölgemälde „A Corner of  the Artist’s Room in Paris“, das die walisische Malerin Gwen John zwischen 1907 und 1909 gemalt hat. Das Bild spielt eine wesentliche Rolle im Romangeschehen. Es zeigt eine bescheidene Dachkammer mit erdigwarmen Bodenfliesen; unter einem Fenster mit leichter, hell-durchsichtiger Gardine steht ein Tisch aus unbehandeltem Kiefernholz, den ein Sträußlein kurzstieliger, dezent-bunter Blumen ziert; auf einem Korbflechtstuhl ruht ein Kissen, ein Tuch oder eine Stola hängt über einer Lehne, und ein Damensonnen-schirm lehnt sich gleich neben das Tuch an den Flechtstuhl. Das Zimmer ist von warmem Licht und einer unsichtbaren Präsenz erfüllt.

Es ist menschenleer und dennoch strahlt es  eine schwer zu fassende Erwartung aus. Ich frage mich unwillkürlich, ob jemand das Zimmer betreten oder das Zimmer verlassen wird, ob es eine oder mehrere Personen wären und ob sich das Zimmer in Anwesenheit von Menschen nicht in ein anderes Zimmer verwandeln würde.

Natürlich wird jeder das Bild auf eigene Weise wahrnehmen, manche mögen es sogar unscheinbar und langweilig finden. Mir gefällt an diesem Gemälde besonders die subtile Farbgebung und Lichtführung und daß ich mir eine Frau in dieses Bild hineinträumen kann.

Der Roman beginnt mit dem biographischen Hintergrund der Malerin Gwen John und beschreibt ausführlich und fesselnd ihre Studien und ihr Künstlerinnenleben in Paris. Sie stand u.a. Auguste Rodin Modell und war zeitweise seine Geliebte. Gwen Johns Konflikt zwischen abhängiger Liebesbindung und dem Bedürfnis nach Abgeschiedenheit und musischer Konzentration, um dem leidenschaftlichen Streben nach der Vervoll- kommnung des künstlerischen Selbstausdrucks gerecht zu werden, nimmt viel Raum ein.

Wir lesen von ihrer intensiven Arbeit an obengenanntem Bild, mit dem sie sich aus der schmerzlichen Anhänglichkeit an Rodin und seinen Versuchen, sie umzuformen, freimalt. Gwen John ist erleichtert, als das Bild endlich vollendet ist, und sie schenkt es einer guten Freundin, die aus familiären Gründen wieder nach England zurückkehrt und ihre Kunststudien in Paris aufgibt.

Diese Freundin verpackt das kostbare Geschenk sorgfältig in ihrem besten Reisekoffer. Sie wird das Bild jedoch nie wiedersehen. Denn ausgerechnet dieser Koffer wird mit einem anderen verwechselt, und das Bild strandet in England bei einer blaublütigen Familie. Eine der Töchter des Hauses hat eine künstlerische, unkonventionelle Ader und verliebt sich sogleich in das kleine Bild. Es hat auf seine stille Art einen beträchtlichen Einfluß auf ihre Selbstsicht und ihren weiteren Lebenslauf.

Später wird das Gemälde gestohlen, dann auf einem Trödelmarkt verkauft und als Liebesgabe an eine junge Frau  verschenkt. Es wird wieder verkauft, vererbt und wieder verkauft … So wird das Bild über den Zeitraum eines ganzen Jahrhunderts sechsmal von Frau zu Frau getragen und weitergereicht. Die Betrachtung des Gemäldes nährt und inspiriert bei jeder Frau die Selbstfindung und – sofern eine künstlerische Begabung vorliegt – auch das künstlerische Ausdrucksverlangen. Faszinierend sind auch die zufälligen Querverbindungen zwischen den verschiedenen Bildbesitzerinnen, die für die jeweils Betroffenen oft gar nicht ans Licht kommen.

Der Autorin gelingt mit diesem Roman eine feinsinnige, komplexe Verbindung von Familienroman und Künstlerroman, mit sehr einfühlsamen Psychogrammen, interessanter zeitgeistiger Umrahmung in Kombination mit überaus anschaulichen musischen Wahrnehmungsperspektiven sowie der deutlichen Unterscheidung zwischen echten Künstlern und Möchte- gernkünstlern.

Obwohl wir nur ausschnittsweise Einblick in das Leben der verschiedenen Bildinhaberinnen nehmen können, entsteht von jeder Frau eine aussage- kräftige und glaubwürdige Charakterskizze. Alle Frauen eint, daß sie früher oder später aus dem Rahmen der in sie gesetzten Erwartungen fallen und sich auf die Suche nach dem für sie selbst Wesentlichen machen.

Margaret Forster zeigt uns in sechs Variationen das komplizierte Schwanken zwischen Nähe und Distanz, archetypisch-weiblichen Lebens- fragestellungen und familiären Zwängen,  aber auch unterschiedliche Ab- stufungen von Liebe, Treue und Untreue, den häufigen Konflikt zwischen den Aufdringlichkeiten und Ablenkungsmanövern der Welt und der not- wendigen kreativen Einsamkeit und Zurückgezogenheit, die es braucht, um ein Kunstwerk zu gestalten. Die Ambivalenz zwischen Bindungsbequem- lichkeit und Freiheitsbeflügelung wird von jeder Frau anders gelöst.

Wie schon Virginia Woolf 1929 in ihrem berühmten Essay „Ein Zimmer für sich allein“ ausführte, ist ein eigenes Zimmer – neben einem auskömm- lichen Einkommen – die Basisvoraussetzung für die ungestörte Entfaltung weiblich-musischer Kreativität und Selbstbesinnung. Das Bild von Gwen John bietet sich für diesen Roman hervorragend als Imaginationsfläche an.

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.fischerverlage.de/buch/ein_zimmer_sechs_frauen_und_ein_bild/9783596175819

Und hier entlang zum lohnend-informativen Link zur Malerin Gwen John:
http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/gwen-john

Die Autorin:

»Von ihrem ersten Aufsehen erregenden Roman »Ich glaube, ich fahre in die Highlands« bis zu ihrem bislang erfolgreichsten Roman »Die Dienerin« hat die englische Bestseller-Autorin Margaret Forster auch im deutschsprachigen Raum zahllose Leserinnen begeistert. 1938 in Carlisle geboren, studierte sie Geschichte in Oxford und lebt heute als freie Schriftstellerin in London und im Lake District. Im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen zuletzt: ›Ich warte darauf, dass etwas geschieht‹ (Bd. 17233) und ›Ein Zimmer, sechs Frauen und ein Bild‹ (Bd. 17581).«

Querverweis:

Und hier gibt es noch einen weiteren Künstlerroman zu erlesen:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/07/19/konzert-ohne-dichter/
„Konzert ohne Dichter“ von Klaus Modick handelt von den Lebens- und Liebesverhältnissen und Auseinandersetzungen der Worpsweder Künstler und Künstlerinnen sowie von der Freundschaft zwischen dem Maler Heinrich Vogeler und dem Dichter Rainer Maria Rilke.

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Brief an D.

  • Geschichte einer Liebe
  • von André Gorz
  • Originaltitel: »Lettre à D. Histoire d’un amour«
  • Übersetzung ins Deutsche von Eva Moldenhauer
  • btb Verlag  März 2009   http://www.btb-verlag.de
  • Taschenbuch
  • 112 Seiten
  • 7,00 € (D), 7,20 € (A), 9,90 sFr.
  • ISBN 978-3-442-73875-5

ALTE  LIEBE  UNVERBLÜHT

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Mit der Reife vertieft sich die Einsicht. So bemerkt André Gorz angesichts des bevorstehenden 82. Geburtstages seiner Frau Dorine, daß er ihr und ihrer langjährigen liebevollen Begleitung in seinen autobiographischen Schriften keineswegs angemessen gerecht geworden ist. Dies wird nun mit dem „Brief an D.“ korrigiert.

„Ich muss die Geschichte unserer Liebe rekonstruieren, um sie in ihrem ganzen Sinn zu erfassen. Denn sie hat es uns ermöglicht, zu werden, was wir sind, durch einander und für einander.“ (Seite 6/7)

Andächtig erzählt André Gorz von ihrer ersten Begegnung in Lausanne, der nachfolgenden scheuen Annäherung und schwärmt von Dorines Schönheit und Stärke. Beide stammten aus Familien mit entzweiten Eltern. Dorine hatte ihre Eltern schon früh verloren. André Gorz war durch seinen Internatsaufenthalt in der Schweiz mit sechzehn Jahren von seiner österreichischen Familie getrennt worden. Erst nach dem Krieg nahm er wieder distanzierten Kontakt zu ihr auf, fühlte sich seiner Herkunftsfamilie jedoch nicht verbunden.

Dorine war gebürtige Engländerin, und die Sprache ihrer Liebe blieb zeitlebens Englisch, obwohl sie ihr gemeinsames Leben in Frankreich verbrachten. Dorine zeigte Interesse daran, Deutsch zu lernen, doch André Gorz weigerte sich, jemals wieder ein einziges Wort in dieser Sprache auszusprechen.

Das junge Paar verdiente mehr schlecht als recht seinen Lebensunterhalt mit Gelegen-heitsjobs (Übersetzungen, Englischstunden, Sekretariatsdienste), und schließlich ziehen sie von Lausanne nach Paris. André bekam verschiedene journalistische Aufträge und schrieb sein erstes autobiographisches Buch „Der Verräter“. Dorine saß für Maler Modell, arbeitete als Fremdenführerin und als Altpapiersammlerin.

Dorine selbst betonte ihrem Mann gegenüber mehrfach: „Einen Schriftsteller lieben heißt lieben, dass er schreibt.“ (Seite 36) Dankbar würdigt André Gorz, daß seine Frau seinem intensiven, nächtlichen Schreiben stets mit Geduld und Verständnis begegnet sei und ihn auch bei seinen journalistischen Aufgaben sachdienlich und pragmatisch unterstützt habe.  Gleichwohl ging Dorine ihren persönlichen Interessen und Lektüren nach, besuchte Vorlesungen und pflegte den wachsenden Freundeskreis. Zwischen den Zeilen merkt man, daß sie wohl unbeschwerter Kontakte knüpfen konnte als er.

Nach und nach erreichte André Gorz eine zuverlässige journalistische und sozialphilo-sophisch-schriftstellerische berufliche Stellung und ein mehr als auskömmliches Einkommen. Dennoch bleiben die Ansprüche des Paares bescheiden, die Haltung gegenüber Konsum, Moden, Technik und Wettbewerbseifer kritisch und hinterfragend.

Nach einer zwar nicht geheilten, aber überlebten schweren Erkrankung Dorines beschließen die Beiden, aufs Land zu ziehen. „Die Ökologie wurde zu einer Lebensweise und einer täglichen Praxis, ohne dass sie aufhörte, die Forderung nach einer anderen Zivilisation einzuschließen.“ (Seite 85)

Kurze, fast sachlich erzählte Skizzen des gemeinsamen Lebensweges wechseln sich in diesem Buch mit berührenden Liebeserinnerungen und Liebeserklärungen ab.

Wenn sich André in seinen Selbstvorwürfen ergeht, wird der Text angestrengt intellektuell-nacherklärererisch und angesichts seiner sonstigen Eloquenz umständlich tastend. Er braucht lange, bis er vom abstrakten Theoretisieren zum lebendigen Dasein vordringt und dem Herzen Vorrang  vor dem Kopf einräumt.

Sein Rückblick auf mehr als ein halbes Jahrhundert gemeinsamen Lebens ist voller Achtung, Bewunderung und Verehrung für seine Frau.

„Du hast mir Dein ganzes Leben und alles, was Du bist, geschenkt; ich möchte Dir in der Zeit, die uns noch bleibt, alles von mir schenken können.“ (Seite 88)

Die dezent-zurückhaltende, mit sinnlichen Details sparsam umgehende Darstellung erweckt den glaubwürdigen Eindruck einer über all die Jahre lebendig gebliebenen Liebesverbundenheit.

Mehr kann man nicht verlangen!

 

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Brief-an-D./Andre-Gorz/btb-Taschenbuch/e273123.rhd

PS:
Der eigentliche Text mißt nur 88 Seiten, die sich daran anschließenden Seiten enthalten ein erläuterndes Personenverzeichnis und einige – hilfreiche – Worterklärungen, die der historisch-philosophischen Einordnung dienen.

Der Autor:

»André Gorz (1923–2007), geboren in Wien, verbrachte die Kriegsjahre in der Schweiz und ließ sich nach Kriegsende in Paris nieder. Er arbeite mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir an der Zeitschrift „Les Temps modernes“, war Redaktor bei „L’Express“, später bei der Wochenzeitung „Le Nouvel Observateur“, die er 1964 zusammen mit Jean Daniel gegründet hatte.
In seinen Buchpublikationen profiliert sich Gorz als Theoretiker der Arbeiterselbstverwaltung und der politischen Ökologie. 1958 erschien die Autobiografie »Der Verräter« (dt. 1980), zu der Sartre das Vorwort schrieb. Dort erscheint bereits seine Frau Dorine unter dem Namen Kay. Das vorliegende Buch ist gewissermaßen die Fortsetzung (und was Kay/Dorine betrifft auch Korrektur) dieser Autobiographie fünfzig Jahre danach. Und jetzt ist es auch Gorz‘ Vermächtnis. Gorz hat die Entstehung der deutschen Ausgabe noch bis in die Details begleitet, er hat die Übersetzung in dieser Form autorisiert und das Personenverzeichnis redigiert; er und seine Frau fanden das Büchlein, als sie es in Händen hielten, »wunderschön«.
André Gorz und seine schwerkranke Frau Dorine nahmen sich am 24. September 2007 gemeinsam in ihrem Haus in Vosnon in Frankreich das Leben.«

Für mehr Informationen über die sozialkritischen Schriften André Gorz‘ und seinen Lebensweg lohnt ein Blick auf folgenden Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Andr%C3%A9_Gorz

Die Übersetzerin:

»Eva Moldenhauer, 1934 in Frankfurt/Main geboren, ist seit 1964 als Übersetzerin tätig. Sie übersetzte u.a. Claude Simon, Jorge Semprun, Agota Kristof, Jean Paul Sartre und Lévi-Strauss. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. 1982 mit dem „Helmut-M.-Braem-Preis“ und 1991 mit dem „Celan-Preis“. 2005 wurde sie für ihre Neu-Übersetzung von Claude Simons „Das Gras“ für den „Preis der Leipziger Buchmesse“ nominiert.«

Querverweis:

Hier entlang zu den Liebesbriefen, die Dylan Thomas einst an die Frauen seines Lebens schrieb: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/08/02/die-liebesbriefe-dylan-thomas

 

 

 

 

 

Das Schweigen des Sammlers

  • von Jaume Cabré
  • Originaltitel: »Jo confesso«
  • Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt und Petra Zickmann
  • Insel Verlag, Dezember 2011  http://www.insel-verlag.de
  • gebunden, mit Schutzumschlag
  • 845 Seiten,  24,95 €
  • ISBN 978-3-458-17522-3
  • Taschenbuchausgabe, April 2013
  • ISBN 978-3-458-35926-5
  • 9,99 € (D), 10,30 € (A), 14,90 sFr.
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DAS  BEREDTE  SCHWEIGEN  DER  DINGE

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Die Familie, von der hier erzählt wird, ist klein: Vater, Mutter und Sohn. Adrià Ardèvol ist ein hochbegabtes Einzelkind, das in einem geistig-kulturell üppig ausgestatteten Eltern- haus in Barcelona aufwächst, in dem es Anerkennung für intellektuelle Leistungen, aber keine Liebe gibt und keine elterliche Wahrnehmung für das Kindsein eines Kindes.

Zärtlichkeit erfährt er nur durch das angestellte Hausmädchen; kindlichen Spielen mit anderen Kindern kann er sich nur während der Sommerferienaufenthalte bei Tante und Onkel auf dem Lande widmen. Für seinen Vater ist er der Sohn, der eine väterlich be- stimmte Laufbahn als Geisteswissenschaftler einzuschlagen hat, und zu diesem Zweck lernt der Junge von klein auf viele Sprachen: Spanisch, Katalanisch, Latein, Griechisch, Französisch, Englisch und Deutsch. Überdies befiehlt der Vater seinem Sohn, langfristig auch noch Aramäisch und Hebräisch zu lernen. Italienisch bringt sich Adrià freiwillig, als kleine polyglotte Zugabe, selber bei. Auf mütterlichen Wunsch bekommt er zudem anspruchsvollen Geigenunterricht.

Adriàs Vater betreibt ein luxuriöses Antiquitätengeschäft in Barcelona, doch der Erwerb so mancher der Kostbarkeiten fand nicht unbedingt zu fairen und legalen Bedingungen statt. Die wertvollsten Funde schmücken als unverkäufliche Sammlerstücke das väter- liche Arbeitszimmer. Und hier kommen die Schicksalsfäden, die mit bestimmten Gegen- ständen zusammenhängen, zu Wort und Wirkung: eine Storioni-Geige von 1764, ein uraltes goldenes Amulett, einige Bilder und diverse alte Urkunden und Handschriften sind gewissermaßen weitere Familienmitglieder und haben einen beträchtlichen biographischen Einfluß auf die Familie Ardèvol.

Die Dinge aus der Privatsammlung seines Vaters sind mehr Fluch als Segen für ein unbeschwertes und unschuldiges Leben, denn die Art und Weise ihrer Entstehung, die Schicksale früherer Eigentümer, kurz: die Geschichten, die in diesen Dingen stecken, haben Nachwirkungen bis in die Gegenwart.

Ein Beispiel: Das Holz, aus dem die Storioni-Geige gefertigt wurde, stammt von einem Spitzahornbaum, der aus dem Grab eines Mönches gewachsen ist, der aus einem Schuld- gefühl für eine unterlassene seelsorgerische Gnade stets ein Beutelchen mit Ahorn- samen bei sich trug. Dieser Mönch starb im 15. Jahrhundert durch die lange Hand der Inquisition. 300 Jahre später erkennt ein Fachmann für Geigenholz die Klangqualität dieses Baumes, fällt ihn und beliefert damit einen Geigenbauer. Da solches Holz bis zur Reife lange abgelagert wird, baut Lorenzo Storioni schließlich im 18. Jahrhundert seine erste Geige aus diesem Ahornholz und verkauft sie an einen Händler für Musikinstru- mente, der sie wiederum mit gutem Gewinn weiterverkauft, und so wandert die Geige von Menschenhand zu Menschenhand und wird mehr als einmal durch eine Bluttat erworben, statt durch einen regulären Verkauf.

Jaume Cabré wechselt immer wieder zwischen der Ich-Erzählerperspektive und der Allwissenden-Erzählperspektive, und er wechselt – teilweise völlig übergangslos – die Zeitebenen und Schauplätze: Barcelona im 20. Jahrhundert, die Klöster Santa Maria de Gerri und Sant Pere de Burgal im 14. und 15. Jahrhundert, die Orte Pardàc, Cremona und Paris im 17. und 18. Jahrhundert, Rom von 1914 bis 1918 und Ausschwitz-Birkenau 1944.

Dieses wortwörtlich changierende Textgewebe ist faszinierend, äußerst komplex, spannend und einfach virtuos. Was für ein genialer Kunstgriff, die verschiedenen Charaktere, Zeitebenen und Schauplätze durch eine palimpsestartige Schreibweise ineinander übergehen und unterschiedliche Schichten der Vergangenheit durchschimmern zu lassen!

So wechselt der Autor innerhalb eines Satzes die Ebene, schwenkt vom fanatischen Sündenverfolgungswahn eines Inquisitors über in den blinden und erbarmungslos  ideologischen Gehorsam eines SS-Kommandanten, wechselt im Zeitzickzack mehrfach hin und her und illustriert damit die Zeitlosigkeit menschlicher Grausamkeit und das langfristige Verstrickungspotential von Schuld.

Der Zahlencode für den väterlichen Tresor entspricht der eintätowierten Häftlings- nummer eines jüdischen Mädchens, das in Auschwitz-Birkenau auf ausdrücklichen Befehl eines SS-Kommandanten ermordet wird. Das Buch ist voll mit derlei Bezügen und Verknüpfungen und verlangt nach aufmerksamer Lektüre.

Nun zurück ins 20. Jahrhundert zu Adrià, der seinen Vater vergeblich bittet, einmal auf der Storioni spielen zu dürfen. Der Vater ist unerbittlich und schließt die Geige im Tresor ein, doch ein so begabtes Kind wie Adrià hat längst die Zahlenfolge für das Nummern- schloß ausspioniert. Adrià hat beim Geigenunterricht seinen besten und lebensläng- lichen Freund Bernat kennengelernt, und um seinen Freund zu beeindrucken, paßt er einen günstigen Moment ab, tauscht die wertvolle Geige für ein paar Stunden gegen seine Übungsgeige aus und läßt seinen Freund auf ihr spielen.

Überraschend nimmt Adriàs Vater den Geigenkasten mit der Übungsgeige aus dem Tresor und geht zu einer Verabredung, jedoch ohne den Inhalt des Geigenkastens zu überprüfen. Am nächsten Tag erfährt Adrià von seiner Mutter, daß sein Vater bei einem schrecklichen Unfall gestorben ist. Die Erwachsenen wundern sich zwar, daß der Vater die Übungsgeige bei sich hatte, aber da die Todesumstände ohnehin mysteriös sind und die Storioni unversehrt im Tresor liegt, gehen sie dieser Ungereimtheit nicht weiter nach.

Der Junge fühlt sich schuldig am Tod seines Vaters, aber wie gewohnt herrschen Schwei- gen und Gefühlskälte in der Familie, und die Mutter erwartet, daß Adrià zu einem Gei- genvirtuosen wird. Tatsächlich hat Adrià zwar Freude an der Musik, begeistert sich jedoch viel mehr für Sprachen und Ideen. Nur widerwillig erträgt er den weiteren Geigenunterricht und leidet bei gelegentlichen Auftritten an fürchterlichem Lampenfieber.

Nach dem Abitur beginnt er ein Literaturstudium und lernt bei einem Konzert seine große Liebe, die Kunststudentin Sara, kennen. Die beiden treffen sich heimlich und genießen ihr zartes Liebeskeimen. Eines Tages erscheint Sara nicht am vereinbarten Treffpunkt, und Adriàs verzweifelte Nachforschungen ergeben nur, daß Sara nach Paris umgezogen sei und ihn angeblich nicht wiederzusehen wünsche.

Dem Verlust seiner Liebsten muß er sich notgedrungen fügen, aber er verweigert sich endgültig einer musikalischen Karriere und zieht nach Tübingen, um Sprachen, Geschichte und Philosophie zu studieren. Kurz vor Beendigung seines Studiums stirbt Adriàs Mutter an einer verheimlichten Krankheit; 1976 promoviert Adrià in Tübingen, in Spanien endet die Diktatur Francos, und Adrià kehrt nach Barcelona zurück und unter- richtet an der Universität. Adria sichtet seine reiche Erbschaft und viele Papiere, nach und nach kommen weitere Familiengeheimnisse ans Licht.

Zwanzig Jahre nach der unfreiwilligen Trennung von Sara erzählt ihm das alte Haus- mädchen, wie es zum Verschwinden des Mädchens kam. Adrià bekommt Saras Adresse in Paris heraus, und die beiden finden vorsichtig wieder zueinander und leben gemein- sam in der elterlichen Wohnung Adriàs in Barcelona.

Der gewaltsame Tod seines Vaters beschäftigt ihn weiterhin, und auch dazu finden sich verschlüsselte Dokumente und Zusammenhänge, die stets auf die Storioni-Geige hinweisen. Sara, die aus einer jüdischen Familie stammt, wünscht sich sehr, daß Adrià den letzten rechtmäßigen Besitzer ausfindig macht und die Geige zurückgibt, um einen Teil des Unrechts gutzumachen, das sein Vater durch seine skrupellosen Beschaffungs- methoden verschuldet hat. Doch Adrià leidet bereits am gleichen Sammlerfieber wie sein Vater und begreift noch nicht das Ausmaß an Verstrickung, das gerade an dieser alten Geige haftet. Adriàs Verzögerungstaktik bezüglich der Nachforschungen zur Storioni belastet die ansonsten sehr erfüllte Beziehung zu Sara.

Hinzu kommt die Ironie des Schicksals, daß der hyperintellektuelle Adrià, schließlich an Alzheimer erkrankt und nichts mehr weiß und nichts mehr ist.

Zuvor jedoch vertraut Adrià der Macht des geschriebenen Wortes und widersetzt sich der Vergänglichkeit des Lebens und seiner Erinnerungen durch diese Geschichte, diese Lebensbeichte, diesen 845 Seiten langen Liebesabschiedsbrief und dieses wahrhaft literarische Testament.

Die Vielschichtigkeit und den Inhaltsreichtum dieses Romans kann ich hier nur andeuten: Wir finden historische Themen, die Geschichte einer langen Freundschaft mit Höhen und Tiefen, Gedanken über die Wirkung künst- lerischen Ausdrucks auf das Leben, die Auseinandersetzung mit Schuld und Sühne, Liebe und Haß, Wahrheit und Lüge, Fragen um Schicksal oder Zufall, die Bedeutung von Schönheit…

 

PS:
Sehr lobenswert ist der „Beipackzettel“ mit der Auflistung aller Schauplätze und Zeiten sowie den dazugehörigen Personennamen und ihrer jeweiligen Charakterrolle. Das ist eine sinnvolle Zugabe, um der Textkomplexität leichter folgen zu können, und zugleich ein praktisches Lesezeichen.

Wünschenswert wäre es gewesen, die lateinischen Kapitelüberschriften und auch diverse lateinische Zitate mit Fußnoten zu übersetzen.

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.suhrkamp.de/buecher/das_schweigen_des_sammlers-jaume_cabre_17522.html

Der Autor:

»Jaume Cabré, 1947 in Barcelona geboren, ist einer der angesehensten katalanischen Autoren. Neben Romanen, Erzählungen und Essays hat er auch fürs Theater geschrieben und Drehbücher verfasst. Seine Romane wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem spanischen Kritikerpreis und dem französischen Prix Méditeranée, und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bereits auf Deutsch erschienen sind der Weltbestseller „Die Stimmen des Flusses“ (2007) und „Senyoria“ (2009).«

Querverweis:

Eine feine Ergänzung zu diesem Roman ist das Sachbuch „Das bleibt in der Familie“ von Sandra Konrad, in dem die Risiken und Chancen transgenerationaler Übertragung und familiärer Verstrickung einleuchtend dargestellt werden. Hier ist meine Besprechung dazu:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/08/07/das-bleibt-in-der-familie/

 

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