Nur ein kleines bisschen

  • von Olivier Tallec
  • Originaltitel: »Un peu beaucoup«
  • Aus dem Französischen von Ina Kronenberger
  • Gerstenberg Verlag, Juli 2021 www.gerstenberg-verlag.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 20 x 28 cm
  • 36 Seiten
  • durchgehend farbig
  • matt laminiert
  • 13,00 € (D), 13,40 € (A), 16,90 sFr.
  • ISBN 978-3-8369-6121-9
  • Bilderbuch ab 3 Jahren laut Verlag
  • ab 4 Jahren nach meiner Einschätzung

Nur ein kleines bisschen Titelbild 9783836961219

GIER  VERSUS  GENÜGSAMKEIT

Bilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Schauen wir doch einmal, ob das Eichhörnchen, das in Olivier Tallecs Vorgängerband (siehe meine Besprechung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2020/09/22/das-ist-mein-baum/) so extrem besitzanspruchsvoll seinen Baum bewachte, ein bißchen dazugelernt hat und inzwischen ein klügeres Verhalten an den Tag legt.

Zunächst fängt es gut an. Das Eichhörnchen proklamiert demonstrativ: „Ein Baum ist superempfindlich, man muss gut auf ihn aufpassen.“ Und es umarmt seinen Baum, spricht flüsternd durch die Rinde zu ihm und ermahnt sich selbst und die geneigten Bilderbuchbetrachter, nicht zu viele Zapfen vom Baum wegzufuttern.

Nur ein kleines bisschen - letzter Zapfen 9783836961219

Illustration und Text von Olivier Tallec © Gerstenberg Verlag 2021

Doch dann nimmt die Freßgier überhand, und das Eichhörnchen futtert ratzeputz alle Zapfen weg. Da bleiben noch die Nadeln, die ihm ebenfalls schmecken, und der Baum hat doch so viele, viele Nadeln vorrätig. Wieder ermahnt uns das Eichhörnchen mit erhobenem Pfotenzeigefinger, daß man nur so viele Nadeln futtern solle, wie man wirklich brauche.

Nur ein kleines bisschen - Nadeln 9783836961219

Illustration und Text von Olivier Tallec © Gerstenberg Verlag 2021

Doch schon auf der nächsten Seite ist der Baum kahlgefressen. Da bleiben nur noch die vielen, vielen Zweige, von denen das Eichhörnchen erst nur einige kleine abbricht, um ein kleines Feuerchen zu machen – nun, man kann sich schon ausmalen, wie diese seltsame Form der Baumfürsorge und Genügsamkeit, die das Eichhörnchen praktiziert, endet.

Schließlich steht nur noch der Baumstumpf da, und das Eichhörnchen baut sich aus dem Restholz ein kleines Häuschen. Durch den Kahlschlag ist das Eichhörnchen weithin sichtbar. So wird es von einer Schar Kinder entdeckt, die mit dem entzückten Ausruf „Oh! Ein Eichhörnchen!“ dem erschrocken fliehenden Eichhörnchen hinterherjagen.

Der ironische letzte Satz „Ein Eichhörnchen ist superempfindlich, man muss gut darauf aufpassen!“ bietet nun reichlich Interpretationsspielraum für den möglichen Fortgang der Geschichte.

Olivier Tallecs Illustrationen geben dem Bilderbucheichhörnchen eine ebenso amüsant-ausdrucksvolle Körpersprache wie eine deutlich „sprechende“ Mimik. Der Erzähltext kommt mit wenigen Sätzen und einfachen Ansagen und Beschreibungen aus.

Das Eichhörnchen zeigt ein aus der niederen Menschenwelt und hohen Politik wohlbe-kanntes Verhalten: Großartige Lippenbekenntnisse und Gesten werden vom tatsäch- lichen praktischen Handeln konterkariert und ins Gegenteil verkehrt. Obwohl sich die politische Ebene der kleinkindlichen Wahrnehmung entzieht, bleibt das Thema gleich- wohl auf der zwischenmenschlichen Ebene anschaulich zugänglich und illustriert den Unterschied zwischen guten Vorsätzen und egoistischen Impulsen.

Interessant sind hier auch die Ausreden, die das Eichhörnchen immer wieder für sein widersprüchliches Verhalten findet. Damit läßt sich ein geradezu philosophisches Ge-sprächsfeld eröffnen, in dem Gedanken und Fragen zu den langfristigen Folgen des eigenen Handelns, dem richtigen Maß, Gier und Genügsamkeit, Impulskontrolle, Mitge-fühl und Naturrücksichtnahme sowie die Suche nach einvernehmlichen Lösungen mit Kindern erwogen werden können. 
 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite
https://www.gerstenberg-verlag.de/Kinderbuch/Bilderbuch/Nur-ein-kleines-bisschen.html?noloc=1

Hier entlang zum Vorgängerband: Das ist mein Baum
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2020/09/22/das-ist-mein-baum/

Der Autor und Illustrator:

»Olivier Tallec, geb. 1970, hat an der École Nationale Supérieur des Arts Décoratifs in Paris studiert und teilt seit dem seine Zeit zwischen Design und  Ullistration. Seine Bücher wurden in zahlreichen Ländern veröffentlicht und ausgezeichnet.«

Leselebenszeichen-Datenschutzerklärung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/datenschutzerklaerung/

Das ist mein Baum

  • Text und Illustrationen von Olivier Tallec
  • Originaltitel: »C‘est mon arbre«
  • Übersetzung aus dem Französischen von Ina Kronenberger
  • Gerstenberg Verlag, Juli 2020  www.gerstenberg-verlag.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • matt laminiert
  • Format: 20 x 28 cm
  • 36 Seiten
  • durchgehend farbig
  • 13,00 € (D), 13,40 € (A), 16,90 sFr.
  • ISBN 978-3-8369-6069-4
  • Bilderbuch ab 3 Jahren laut Verlag
  • ab 4 Jahren laut meiner Einschätzung

EIN  EIGENTÜMLICHER  MEINLING

Bilderbuchbesprechung  von Ulrike Sokul ©

Das Eichhörnchen aus Olivier Tallecs Bilderbuch „Das ist mein Baum“ ist sehr auf seinen Besitzanspruch an seinen Baum und seine Kiefernzapfen fixiert. Es sorgt sich unent- wegt, daß ein anderes Eichhörnchen Anspruch auf seinen Baum erheben, es sich in seinem Baumschatten gemütlich machen und gar seine Zapfen verspeisen könnte, ja, vielleicht – so die angstvolle Vorstellung – wollten sogar alle anderen Tiere ebenfalls an seinem Baum und dessen Vorzügen teilhaben.

Dem will das Eichhörnchen energisch vorbeugen, denn es ist ein ausgesprochen eigen-tümlicher Meinling. Es erwägt, ein großes Tor aufzustellen, das seinen Baum als sein Eigentum markiert, oder einen Lattenzaun rundherum um seinen Baum zu ziehen. Da ihm diese Maßnahmen immer noch nicht ausreichend erscheinen, baut es eine dicke, hohe und sehr lange Mauer, damit sein Baum vor fremden, unbefugten Zugriffen bestmöglich geschützt sei. Diese Schutzmauer wird so lang, daß sie schließlich an eine andere Mauer stößt.

Illustration von Olivier Tallec © Gerstenberg Verlag 2020

Angesichts dieser Mauer fragt sich das Eichhörnchen, was sich wohl dahinter befinden mag. Sogleich stellt es sich Zapfen vor, die noch viel größer sind als die Zapfen seines Baumes, sowie einen anderen Baum, der viel schöner und noch höher ist und viel mehr Zapfen trägt als sein eigener Baum. Vielleicht ist sogar ein ganzer Wald hinter dieser Mauer zu finden, der nur darauf wartet, vom nimmersatten Eichhörnchen in Besitz genommen zu werden.

Das Eichhörnchen erklettert die Mauer, und auf dem Mauersims eröffnet sich ihm die Aussicht auf einen nahen Wald voller Bäume und jede Menge fröhlich herumspringen- der und -kletternder Eichhörnchen. Da macht es große Augen und staunt, und es wirkt ein bißchen verloren, aber auch sehnsüchtig. Es könnte sein, daß in diesem Meinling durchaus noch ein Miteinanderling verborgen ist …

Illustration von Olivier Tallec © Gerstenberg Verlag 2020

Die Geschichte dieses besitzergreifenden Eichhörnchens wird von Olivier Tallec in ein-fachen kurzen Sätzen mit unmittelbarer Aussage erzählt. Durch die ausdrucksvolle Körpersprache und Mimik zeigen die Illustrationen von Olivier Tallec sehr präzise und zugleich mit einem amüsanten Schmunzeleffekt, was das Eichhörnchen denkt und fühlt.

Einerseits ist das Eichhörnchen ein ausgemachter, am Haben und Behalten orientierter Egoist, andererseits wirkt es trotz seiner wehrhaften Besitzverteidigungsbemühungen ziemlich klein und verletzlich und in einigen Szenen auch sehr einsam. Besonders die Szenen, die in der Mauerecke spielen, machen zudem die Unfreiheit und Verschlossen- heit des Eichhörnchens sehr deutlich. 

Die Geschichte endet mit der Aussicht des Eichhörnchens auf eine andere – mehr auf das Sein und ein auskömmliches, entspanntes, spielerisches Miteinander bezogene – Lebenseinstellung. Es bleibt offen,  ob das Eichhörnchen begreift, daß genug für alle da ist und daß geteilte Freuden möglicherweise ergiebiger sind als einsame ungeteilte Freuden.

So eröffnet die Betrachtung dieses Bilderbuches eine gute Gelegenheit, mit Kindern über angemessene und unangemessene Besitzbedürfnisse zu sprechen sowie über den weiteren Fortlauf der Geschichte und eine mög- liche Einstellungsveränderung des Eichhörnchens zu spekulieren. Wird es sich aus seiner Verschlossenheit befreien, seine anstrengende Besitzan- klammerung loslassen und seine Verlustangst überwinden? Wird es sich auf Kontakt einlassen und zu teilen lernen? Und mit der Frage, welche Lebens- einstellung wohl langfristig freier, glücklicher und zufriedener macht, können sich gerne auch die Erwachsenen beschäftigen.

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite: Das ist mein Baum

Der Autor & Illustrator:

»Olivier Tallec, geboren 1970, hat an der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs in Paris studiert und teilt seitdem seine Zeit zwischen Design und Illustration. Seine Bücher wurden in zahlreichen Ländern veröffentlicht und ausgezeichnet.«

Querverweis:

Ergänzend empfehle ich zudem das Bilderbuch „Zwei für mich, einer für dich“ von Jörg Mühle, das auf sehr amüsante Weise das Thema des gerechten Teilens in Szene setzt.

Zwei für mich, einer für dich

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