Der große Sommer

Der große Sommer

S O M M E R A T E M

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Die atmende Wahrhaftigkeit der literarischen Figuren, die ich bereits in meiner Rezension zu Ewald Arenz‘ vorhergehendem Roman „Alte Sorten“ https://leselebenszeichen.wordpress.com/2019/07/29/alte-sorten/ hervorhob, zeigt sich auch wieder in seinem neuen Roman, der uns zurückführt in die frühen 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Friedrich Büchner, der Ich-Erzähler, erinnert sich an den Sommer, in dem er sechzehn Jahre jung war und einige besonders prägende Lebenserfahrungen machte.

Nun, Friedrich Büchner – nomen est omen – ist ein literarisch interessierter Jugend- licher, sehr empfänglich für Jahreszeitenstimmungen, Blättertanz und Lichtspiele, fotogene Szenerien und Musik, aber er ist weniger empfänglich für Latein und Mathe- matik. Dementsprechend fallen seine Noten aus, und mit je einer Fünf in diesen Fächern wird seine Versetzung diesmal nur noch mit einer erfolgreichen Nachprüfung am Ende der Sommerferien möglich sein.

Während die Eltern mit seinen jüngeren Geschwistern verreisen, wird Friedrich die Sommerferien über bei den Großeltern wohnen und für die Nachprüfung lernen. Friedrich hat seine künstlerisch und kulinarisch begabte Großmutter sehr gerne, aber er fremdelt mit seinem strengen, distanzierten Großvater, der als Leiter eines Bakterio-logischen Instituts arbeitet und auch privat einen sehr disziplinierten Alltagsablauf verlangt. So bestimmt er, daß Friedrich jeden Tag von acht bis zwölf Uhr zu lernen habe und nach dem Mittagessen und einigen nachtischlichen lateinischen Zitatübersetzungen frei über seine Zeit verfügen dürfe.

Zwei Wochen vor Beginn der Sommerferien war Friedrich bei Sommerregen ins Freibad gegangen, weil es bei Regen wesentlich leerer und stiller dort ist und er diese spezielle Atmosphäre schätzt. Er wollte endlich den Sprung vom Siebeneinhalber-Sprungturm wagen, und während er noch zögernd in die Tiefe schaute, sprach ihn hinterrücks ein schönes Mädchen mit grünen Augen an, das ebenfalls zum ersten Mal diesen Sprung wagen wollte und ihm spontan anbot, mit ihm zusammen zu springen. So lernte er Beate kennen und verliebte sich in sie.

Da er es in seiner jugendlichen Unbeholfenheit und Verwirrung versäumt hatte, nach ihrer Adresse zu fragen, und er lediglich ihren Vor- und Nachnamen wußte, telefonierte er mit Hilfe seines besten Freundes Johann und seiner Schwester Alma von einer Tele-fonzelle aus umständlich sämtliche in Frage kommenden Namen aus dem Telefonbuch ab, bis sie nach unzähligen Versuchen die richtige Adresse fanden.

Vor der Hintergrundmusik des Sri Sri Sri der Mauersegler lernt Friedrich vormittags Latein und Mathematik – gelegentlich mit sehr nützlichen großväterlichen Erklärungen –, und den Rest der Tage und teilweise auch der Nächte widmet er einigen von Johann initiierten riskanten Unternehmungen, der Annäherung an Beate sowie guten Liebesrat- und Familienerinnerungs-Gesprächen mit seiner Großmutter.

Friedrich vertieft durch diese Gespräche sein Verständnis für seine familiären Wurzeln und für die unterschiedlichen historischen Bedingungen, unter denen er im Vergleich zu seinen Großeltern und Eltern aufwächst. Er entwickelt ein Bewußtsein für größere Zusammenhänge und die unberechenbare Choreographie des Schicksals. Dies und die hilfreiche Krisenintervention des Großvaters bei zwei nicht unbeträchtlichen Problem-situationen, in die Friedrich und Johann im Verlauf der Sommerferien geraten, ver- ändern Friedrichs ablehnende Haltung zur Autorität des Großvaters zum Positiven, ja, beinahe zur Bewunderung.

Die Kontaktaufnahme mit Beate verläuft nach anfänglichen Holprigkeiten sehr gut. Beate ist bemerkenswert selbstbewußt, ohne arrogant zu sein, sie ist witzig und verfügt über eine sinnliche Souveränität, die den ersten erotischen Schritten der beiden uner- fahrenen Liebenden eine unkomplizierte Leichtigkeit verleiht. Als Leserin hat es mich angerührt hier einmal die männlich-jugendliche Perspektive auf die ersten tieferen Liebesgefühle, Sehnsüchte und Zärtlichkeiten erlesen zu können.

Alle Figuren werden vom Autor innerlich und äußerlich differenziert und lebensecht dargestellt. Selbst die Lehrer an Friedrichs Gymnasium, die nur kurze Nebenrollen besetzen, erscheinen in sehr greifbarer körperlicher und charakterlicher Gestalt.

Das hervorragend eingefangene konkrete und zeitgeistige Ambiente der 80er-Jahre bietet bei der Lektüre zudem lebhafte nostalgische Nebeneffekte. Erinnern Sie sich noch an selbstgebatikte T-Shirts, Demos und Aufkleber gegen die Stationierung von Atom-waffen, an scheußlich-bunte Getränke wie Kiba oder Orangensaft mit Blue Curaçao oder daran, wie es war, als man zum öffentlichen Telefonieren eine Telefonzelle und mindes-tens zwei Groschen gebraucht hat, als Musik aus Plattenspielern und Kassettenrekor- dern abgespielt wurde und Fotos erst einmal geduldig eine Woche lang entwickelt werden mußten? Das liegt zwar nur 40 Jahre zurück, und doch merkt man beim Lesen, wie sehr sich die Welt und ihre „Spielsachen“ seitdem verändert haben.

Zeitlos ist in diesem Roman hingegen das jugendliche Changieren zwischen Leichtsinn und Tiefsinn, zwischen Trotz und Respekt, zwischen Eigenwilligkeit und Orientierungs- bedürfnis, zwischen Angst und Übermut, zwischen Torheit und Selbsterkenntnis. All die Lebenserfahrungsabschmeckungen, freundschaftlichen Bewährungsproben, Schmer- zen, Freuden und bittersüßen ersten und letzten Male, die zur zwischenmenschlichen Reifung gehören, bündeln sich in diesem Roman zu einem atmosphärischen, sinnlich-sommerlichen und poetischen Panorama jugendlichen Herzenserwachens.


»Ich glaube, dass ich nie wieder so geküsst habe. Dass es nie wieder so einen voll-kommenen Augenblick des Rauschs gegeben hat, so eine perfekte Berührung. Beates kühle Lippen, ihr glatter, nasser Körper, ihre lachenden grünen Augen. Wir ließen uns im Kuss untergehen und es war in Wirklichkeit ein Schweben durchs Wasser auf den Grund zu; küssend bis wir absolut keine Luft mehr bekamen und zusammen aufstiegen. Das war der wirkliche Anfang dieses verrückten Sommers.« (Seite 123/124)

„Warum gab es eigentlich so wenige Wörter für alles, was besonders schön war?“
(Seite 167)


Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.dumont-buchverlag.de/buch/arenz-der-grosse-sommer-9783832181536/

Der Autor:

»Ewald Arenz, 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. „Alte Sorten“ (DuMont 2019) stand auf der Shortlist »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2019 und platzierte sich als Hardcover wie als Taschenbuch auf den Spiegel-Bestsellerlisten. Der Autor lebt mit seiner Familie in der Nähe von Fürth.«

Querverweis:

Hier entlang zu Ewald Arenz‘ Roman „Alte Sorten“:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2019/07/29/alte-sorten/




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Vom Ende der Einsamkeit

  • von Benedict Wells
  • Roman
  • Diogenes Verlag, März 2016   http://www.diogenes.ch
  • in Leinen gebunden
  • Schutzumschlag
  • 368 Seiten
  • 22,– € (D), 22,70 € (A), 30,– sFr.
  • ISBN 978-3-257-06958-7
    Vom Ende der EinsamkeitTitelbild

HERZENSVERHALTUNGEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

„Vom Ende der Einsamkeit“ ist ein sensibler Roman, der auslotet, was uns vom Leben und Lieben trennt und was uns wieder mit dem Leben und Lieben verbinden kann.

Was der Ich-Erzähler in diesem Roman erlebt, erleidet und erliebt, führt vom kindlich-hoffnungsvollen Lebensmut und liebevoller-familiärer Geborgenheit zu schmerzlichem Verlust, Lebensentmutigung und Einsamkeit und schließlich wieder zu erwachsener Lebensermutigung, Liebe und Verbundenheit sowie adäquatem Selbstausdruck.

Jules, ein Mann mittleren Alters, liegt nach einem Motorradunfall im Krankenhaus und erinnert sich aus einer gereiften, gleichwohl auch noch nach Erkenntnis suchenden Perspektive an seine Kindheit, seine Jugend, sein Studium, berufliche Stolperschritte, mißglückte Beziehungen und an die eine sehr erfüllte Liebe seines Lebens. Vor allem aber widmet er sich der Betrachtung seines kindlichen Verlusttraumas und der Wirkungen, die es auf seine Lebensgestaltung und seine Liebesfähigkeit hatte.

Sehr atmosphärisch und empfindsam werden wir in Jules‘ Familie eingeführt: Der Vater kommt aus Frankreich und arbeitet als Wirtschaftsprüfer, sein Herz schlägt jedoch sehr für die Fotografie und für das Familienleben, die Mutter ist Deutsche, Lehrerin und sehr musikalisch. Jules ist das jüngste Kind, sein einzelgängerischer Bruder Marty das mittlere und seine sehr attraktive und ein wenig theatralische Schwester Liz das älteste Kind.

Die Familie lebt in München, und die Sommerferien werden stets im Hause der Oma in Südfrankreich verbracht. Unausgesprochene familiäre Geheimnisse um einen frühverstorbenen Onkel deuten sich zwar an, kommen aber niemals wirklich ans Licht.

Die Kinder wachsen geliebt, behütet und in ihren Talenten bestärkt auf, bis die Eltern bei einem Autounfall sterben. Jules ist zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt, und sein Vertrauen ins Leben und in sich selbst ist zutiefst erschüttert.

Bis zum Abitur besuchen die Geschwister ein staatliches Internat, das ihre Tante für sie ausgesucht hat. Sie entfernen sich trotz der räumlichen Nähe emotional voneinander, jeder entwickelt eine eigene Strategie im Umgang mit dem schmerzlichen Verlust. Zu einer heilsamen Inanspruchnahme therapeutischer Unterstützung kommt es bei Jules und seinem älteren Bruder Marty erst später im Erwachsenenleben.

Jules verbirgt sich scheu und verängstigt in innerer Einsamkeit und äußerlicher, unbeschwerter Umgänglichkeit. Der einzige, tröstliche Lichtblick ist die intensive Freundschaft zu seiner Klassenkameradin Alva. Auch an Alva nagt ein schwerer Schicksalsschmerz, und der Ernst und die Verträumtheit von Jules sprechen sie an.

Alva liebt Bücher und wünscht sich, sie wäre eine Figur in einem Roman, und sie ist bis zum Schulabschluß Jules‘ engste Vertraute, Erstleserin seiner Kurzgeschichten und auch ein wenig Familienersatz. Beide versäumen es jedoch, einander die Fragen zu stellen, die ein tieferes Öffnen des Herzens und Sich-Annäherns ermöglichen könnten, und verlieren sich für lange Zeit aus den Augen und aus dem Herzen.

Jules‘ eigenbrötlerischer Bruder Marty entwickelt sich zum Computernerd und Kontrollfreak und pflegt kleine zwanghafte Ticks. Er studiert Informatik, gründet zusammen mit seinem Zimmernachbarn Toni eine erfolgreiche Internetplattform und wird ziemlich reich.

Jules‘ attraktive Schwester Liz ist die Rebellin, sie kostet das Leben exzessiv aus, nimmt eine Weile Drogen, fängt sich wieder – auch dank der Unterstützung von Marty – und ergreift schließlich sogar einen bürgerlichen Beruf. Sie verschleißt jedoch noch viele Jahre lang bindungslos einen Liebhaber nach dem anderen.

Jules strandet nach einem abgebrochenen Jurastudium und vergeblichen Versuchen als Fotograf mehr zufällig als absichtlich bei einem Berliner-Musiklabel und betreut Musikbands. Er hat nur oberflächliche Beziehungen, die ihn nicht tief berühren.

Marty hat inzwischen die Frau fürs Leben gefunden. Elena ist Psychologin, und ihre ruhige, sanft wegweisende Wesensart ist eine große Hilfe für Marty und Jules. Jules rafft sich auf, wieder Kontakt zu Alva aufzunehmen, und nach der Überwindung diverser langwieriger, herzzerreißender innerer und äußerer Hindernisse, finden sie endlich zueinander.

Sie heiraten und Alva bringt Zwillinge zur Welt, ein Mädchen und einen Jungen. Außer- dem ermutigt Alva Jules, wieder mit dem Schreiben anzufangen. Jules ist glücklich mit Alva, er ist erfüllt von der wachsenden Vertrautheit, der tiefen Nähe und vom lebhaften Familienleben. Das Schreiben tut ihm gut und scheint das ihm gemäße Ausdrucksmittel zu sein. Auch die Geschwister, Jules, Marty und Liz, nähern sich nach und nach wieder an, verkehren freundschaftlich, schließlich sogar wirklich herzlich und tatkräftig anteilnehmend miteinander und wachsen zu einer Art von freiwilliger Großfamilie zusammen.

Acht Jahre später erkrankt Alva an Krebs, und Jules muß sich dem erneuten endgültigen Abschied von einem geliebten Menschen stellen, der tiefen Trauer und der Verant- wortung für seine beiden Kinder, die erst sieben Jahre alt sind, als sie ihre Mutter verlieren. Es fällt Jules nicht in den Schoß, aber er überwindet den Abgrund der Verletz- lichkeit und Angst, er wird erwachsen, kommt wirklich in seinem Leben an, und er ist bereit, trotz der erlittenen Schicksalsschläge seinen Kindern Lebens- und Liebesmut zu vermitteln. Jules hat gelernt, sich gegenüber der Unberechenbarkeit des Lebens konstruktiv zu verhalten und sein Herz nicht mehr zu verschließen.

Benedict Wells hält in diesem Roman eine gute Balance zwischen gefühlvollen und nachdenklichen Elementen. Es gibt anrührende Szenen zwischenmenschlichen Scheiterns und Gelingens, amüsante familieninterne Sprachcodes, sinnlich-atmosphärische Details, kindliche Schuldgefühle, erwachsene Reue, tröstliche Einsichten, lebhafte Assoziationen, einleuchtende Rückblenden, anschauliche Beziehungsportraits, poetische Reflexionen, emotional-treffsichere Psychogramme und eine sehr stimmige Entwicklung und Reifung der Figuren.

Dieser Roman ist wie in einem befreienden, langen, tiefen Atemzug geschrieben, und genauso habe ich ihn gelesen.

Als Leseköder folgen nun zwei meiner Lieblingstextstellen:

„Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.“
(Seite 9)

„Und dann dachte ich an den Tod und wie ich mir früher oft vorgestellt hatte, er wäre eine unendliche Weite, wie eine Schneelandschaft, über die man flog. Und dort, wo man das Weiße berührte, füllte sich das Nichts mit den Erinnerungen, Gefühlen und Bildern, die man in sich trug, und bekam ein Gesicht. Manchmal war das Entstandene so schön und eigentümlich, dass die Seele hineintauchte, um dort zu verweilen, bis sie schließlich weiterzog, auf ihrem Weg durch das Nichts.“ (Seite 306)

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.diogenes.ch/leser/titel/benedict-wells/vom-ende-der-einsamkeit-9783257244441.html

Weitere schöne Rezensionen zu diesem Roman finden sich bei LESESCHATZ:
https://leseschatz.wordpress.com/2016/03/07/benedict-wells-vom-ende-der-einsamkeit/
und bei KATHALOG:
https://kathalogisch.wordpress.com/2016/09/02/vom-ende-der-einsamkeit/

Der Autor:

»Benedict Wells wurde 1984 in München geboren. Im Alter von sechs Jahren begann seine Reise durch drei bayerische Internate. Nach dem Abitur 2003 zog er nach Berlin. Dort entschied er sich gegen ein Studium und widmete sich dem Schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vielbeachtetes Debüt ›Becks letzter Sommer‹ erschien 2008, wurde mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet und 2015 fürs Kino verfilmt. Sein dritter Roman ›Fast genial‹ stand monatelang auf der Bestsellerliste. Nach Jahren in Barcelona lebt Wells inzwischen wieder in Berlin.«

PS:
Erwähnenswert erscheint mir noch, Benedict Wells‘ Haltung zu E-Büchern. Er will nicht, daß seine Romane als Dateien erscheinen, weil er Bücher und Buchhandlungen liebt und ihr Überleben verteidigen möchte. Hierin drückt sich eine Haltung aus, die mir sehr sympathisch ist.

Nachfolgend noch ein informatives und sympathisches Interview mit dem Autor:  http://diogenesverlag.tumblr.com/post/139902289010/für-mich-persönlich-das-wichtigste-buch-das-ich

Querverweis:

Dieser Roman ergänzt sich beiläufig auch mit dem feinsinnigen Sachbuch über transgenerationale Übertragungen von Sandra Konrad „Das bleibt in der Familie“.
Hier entlang zur Rezension:  Das bleibt in der Familie

 

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