Vom Ende der Einsamkeit

  • von Benedict Wells
  • Roman
  • Diogenes Verlag, März 2016   http://www.diogenes.ch
  • in Leinen gebunden
  • Schutzumschlag
  • 368 Seiten
  • 22,– € (D), 22,70 € (A), 30,– sFr.
  • ISBN 978-3-257-06958-7
    Vom Ende der EinsamkeitTitelbild

HERZENSVERHALTUNGEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

„Vom Ende der Einsamkeit“ ist ein sensibler Roman, der auslotet, was uns vom Leben und Lieben trennt und was uns wieder mit dem Leben und Lieben verbinden kann.

Was der Ich-Erzähler in diesem Roman erlebt, erleidet und erliebt, führt vom kindlich-hoffnungsvollen Lebensmut und liebevoller-familiärer Geborgenheit zu schmerzlichem Verlust, Lebensentmutigung und Einsamkeit und schließlich wieder zu erwachsener Lebensermutigung, Liebe und Verbundenheit sowie adäquatem Selbstausdruck.

Jules, ein Mann mittleren Alters, liegt nach einem Motorradunfall im Krankenhaus und erinnert sich aus einer gereiften, gleichwohl auch noch nach Erkenntnis suchenden Perspektive an seine Kindheit, seine Jugend, sein Studium, berufliche Stolperschritte, mißglückte Beziehungen und an die eine sehr erfüllte Liebe seines Lebens. Vor allem aber widmet er sich der Betrachtung seines kindlichen Verlusttraumas und der Wirkungen, die es auf seine Lebensgestaltung und seine Liebesfähigkeit hatte.

Sehr atmosphärisch und empfindsam werden wir in Jules‘ Familie eingeführt: Der Vater kommt aus Frankreich und arbeitet als Wirtschaftsprüfer, sein Herz schlägt jedoch sehr für die Fotografie und für das Familienleben, die Mutter ist Deutsche, Lehrerin und sehr musikalisch. Jules ist das jüngste Kind, sein einzelgängerischer Bruder Marty das mittlere und seine sehr attraktive und ein wenig theatralische Schwester Liz das älteste Kind.

Die Familie lebt in München, und die Sommerferien werden stets im Hause der Oma in Südfrankreich verbracht. Unausgesprochene familiäre Geheimnisse um einen frühverstorbenen Onkel deuten sich zwar an, kommen aber niemals wirklich ans Licht.

Die Kinder wachsen geliebt, behütet und in ihren Talenten bestärkt auf, bis die Eltern bei einem Autounfall sterben. Jules ist zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt, und sein Vertrauen ins Leben und in sich selbst ist zutiefst erschüttert.

Bis zum Abitur besuchen die Geschwister ein staatliches Internat, das ihre Tante für sie ausgesucht hat. Sie entfernen sich trotz der räumlichen Nähe emotional voneinander, jeder entwickelt eine eigene Strategie im Umgang mit dem schmerzlichen Verlust. Zu einer heilsamen Inanspruchnahme therapeutischer Unterstützung kommt es bei Jules und seinem älteren Bruder Marty erst später im Erwachsenenleben.

Jules verbirgt sich scheu und verängstigt in innerer Einsamkeit und äußerlicher, unbeschwerter Umgänglichkeit. Der einzige, tröstliche Lichtblick ist die intensive Freundschaft zu seiner Klassenkameradin Alva. Auch an Alva nagt ein schwerer Schicksalsschmerz, und der Ernst und die Verträumtheit von Jules sprechen sie an.

Alva liebt Bücher und wünscht sich, sie wäre eine Figur in einem Roman, und sie ist bis zum Schulabschluß Jules‘ engste Vertraute, Erstleserin seiner Kurzgeschichten und auch ein wenig Familienersatz. Beide versäumen es jedoch, einander die Fragen zu stellen, die ein tieferes Öffnen des Herzens und Sich-Annäherns ermöglichen könnten, und verlieren sich für lange Zeit aus den Augen und aus dem Herzen.

Jules‘ eigenbrötlerischer Bruder Marty entwickelt sich zum Computernerd und Kontrollfreak und pflegt kleine zwanghafte Ticks. Er studiert Informatik, gründet zusammen mit seinem Zimmernachbarn Toni eine erfolgreiche Internetplattform und wird ziemlich reich.

Jules‘ attraktive Schwester Liz ist die Rebellin, sie kostet das Leben exzessiv aus, nimmt eine Weile Drogen, fängt sich wieder – auch dank der Unterstützung von Marty – und ergreift schließlich sogar einen bürgerlichen Beruf. Sie verschleißt jedoch noch viele Jahre lang bindungslos einen Liebhaber nach dem anderen.

Jules strandet nach einem abgebrochenen Jurastudium und vergeblichen Versuchen als Fotograf mehr zufällig als absichtlich bei einem Berliner-Musiklabel und betreut Musikbands. Er hat nur oberflächliche Beziehungen, die ihn nicht tief berühren.

Marty hat inzwischen die Frau fürs Leben gefunden. Elena ist Psychologin, und ihre ruhige, sanft wegweisende Wesensart ist eine große Hilfe für Marty und Jules. Jules rafft sich auf, wieder Kontakt zu Alva aufzunehmen, und nach der Überwindung diverser langwieriger, herzzerreißender innerer und äußerer Hindernisse, finden sie endlich zueinander.

Sie heiraten und Alva bringt Zwillinge zur Welt, ein Mädchen und einen Jungen. Außer- dem ermutigt Alva Jules, wieder mit dem Schreiben anzufangen. Jules ist glücklich mit Alva, er ist erfüllt von der wachsenden Vertrautheit, der tiefen Nähe und vom lebhaften Familienleben. Das Schreiben tut ihm gut und scheint das ihm gemäße Ausdrucksmittel zu sein. Auch die Geschwister, Jules, Marty und Liz, nähern sich nach und nach wieder an, verkehren freundschaftlich, schließlich sogar wirklich herzlich und tatkräftig anteilnehmend miteinander und wachsen zu einer Art von freiwilliger Großfamilie zusammen.

Acht Jahre später erkrankt Alva an Krebs, und Jules muß sich dem erneuten endgültigen Abschied von einem geliebten Menschen stellen, der tiefen Trauer und der Verant- wortung für seine beiden Kinder, die erst sieben Jahre alt sind, als sie ihre Mutter verlieren. Es fällt Jules nicht in den Schoß, aber er überwindet den Abgrund der Verletz- lichkeit und Angst, er wird erwachsen, kommt wirklich in seinem Leben an, und er ist bereit, trotz der erlittenen Schicksalsschläge seinen Kindern Lebens- und Liebesmut zu vermitteln. Jules hat gelernt, sich gegenüber der Unberechenbarkeit des Lebens konstruktiv zu verhalten und sein Herz nicht mehr zu verschließen.

Benedict Wells hält in diesem Roman eine gute Balance zwischen gefühlvollen und nachdenklichen Elementen. Es gibt anrührende Szenen zwischenmenschlichen Scheiterns und Gelingens, amüsante familieninterne Sprachcodes, sinnlich-atmosphärische Details, kindliche Schuldgefühle, erwachsene Reue, tröstliche Einsichten, lebhafte Assoziationen, einleuchtende Rückblenden, anschauliche Beziehungsportraits, poetische Reflexionen, emotional-treffsichere Psychogramme und eine sehr stimmige Entwicklung und Reifung der Figuren.

Dieser Roman ist wie in einem befreienden, langen, tiefen Atemzug geschrieben, und genauso habe ich ihn gelesen.

Als Leseköder folgen nun zwei meiner Lieblingstextstellen:

„Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.“
(Seite 9)

„Und dann dachte ich an den Tod und wie ich mir früher oft vorgestellt hatte, er wäre eine unendliche Weite, wie eine Schneelandschaft, über die man flog. Und dort, wo man das Weiße berührte, füllte sich das Nichts mit den Erinnerungen, Gefühlen und Bildern, die man in sich trug, und bekam ein Gesicht. Manchmal war das Entstandene so schön und eigentümlich, dass die Seele hineintauchte, um dort zu verweilen, bis sie schließlich weiterzog, auf ihrem Weg durch das Nichts.“ (Seite 306)

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.diogenes.ch/leser/titel/benedict-wells/vom-ende-der-einsamkeit-9783257244441.html

Weitere schöne Rezensionen zu diesem Roman finden sich bei LESESCHATZ:
https://leseschatz.wordpress.com/2016/03/07/benedict-wells-vom-ende-der-einsamkeit/
und bei KATHALOG:
https://kathalogisch.wordpress.com/2016/09/02/vom-ende-der-einsamkeit/

Der Autor:

»Benedict Wells wurde 1984 in München geboren. Im Alter von sechs Jahren begann seine Reise durch drei bayerische Internate. Nach dem Abitur 2003 zog er nach Berlin. Dort entschied er sich gegen ein Studium und widmete sich dem Schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vielbeachtetes Debüt ›Becks letzter Sommer‹ erschien 2008, wurde mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet und 2015 fürs Kino verfilmt. Sein dritter Roman ›Fast genial‹ stand monatelang auf der Bestsellerliste. Nach Jahren in Barcelona lebt Wells inzwischen wieder in Berlin.«

PS:
Erwähnenswert erscheint mir noch, Benedict Wells‘ Haltung zu E-Büchern. Er will nicht, daß seine Romane als Dateien erscheinen, weil er Bücher und Buchhandlungen liebt und ihr Überleben verteidigen möchte. Hierin drückt sich eine Haltung aus, die mir sehr sympathisch ist.

Nachfolgend noch ein informatives und sympathisches Interview mit dem Autor:  http://diogenesverlag.tumblr.com/post/139902289010/für-mich-persönlich-das-wichtigste-buch-das-ich

Querverweis:

Dieser Roman ergänzt sich beiläufig auch mit dem feinsinnigen Sachbuch über transgenerationale Übertragungen von Sandra Konrad „Das bleibt in der Familie“.
Hier entlang zur Rezension:  Das bleibt in der Familie

 

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