Die Tage mit Bumerang

POSTKARTENIDYLLE  MIT  SCHAF

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Dies ist eine Geschichte mit eigenwilligen, sympathisch schrägen Charakteren, in der es um ein plötzliches Vorher/Nachher-Dasein, um die zähflüssige Überwindung von Schock-starre, Schuldgefühlen und Selbstbestrafung, um Verletzlichkeit und Vergebung, Er- wachsenwerden, Freundschaft und Wahlverwandtschaften und um eine neue Liebe geht. Ein Rettungssanitäter namens Kalle, ein Schaf namens Bumerang, ein Hund namens Helsinki und finnische Tangos spielen dabei mit und eine ganze Menge Schnee.

Annu hat ein besonders inniges Verhältnis zu Schnee. Der erste Schneetag des Jahres ist stets ein familiärer Feiertag gewesen, und diese Tradition setzt Annu auch nach dem Tod der Eltern gerne fort. 

Ihr finnischer Vater war Sportreporter und ihre Mutter Biathlon-Skilangläuferin. Nach- dem Annu zur Welt kam, zogen die Eltern in ein schiefes Haus am Waldrand, das zu einem kleinen bayrischen Dorf mit nur siebenundachtzig Einwohnern gehört.

Ein Vierteljahrhundert später lebt Annu, die inzwischen als freie Übersetzerin arbeitet,  zwar alleine in diesem Haus, aber sie ist keineswegs einsam. Annu hat lebhafte Erin-nerungen an ihre Eltern und führt oft innere Dialoge mit ihnen, wobei der Vater nie mit seinen bemerkenswerten finnischen Sprichwörtern spart.

Außerdem wohnt ihr ältester und bester Kindheitsfreund Lars in der unmittelbaren Nachbarschaft, und die beiden pflegen ihre Freundschaft u.a. durch den wöchentlichen Austausch von Frage-Antwort-Postkartenmitteilungen. Lars ist ein köstlich eigen- williger Mensch, der sich Anglizismen gegenüber konsequent verweigert und beispiels- weise statt Aftershave »Nachduft«, statt Smartphone »Schlautelefon«, statt Cliffhanger »Spannungsklippe« und statt Brunch »Spätstück« sagt. Auch mit Lars‘ Frau Birte ver- steht sich Annu gut, und zu Lars und Birtes kleinem Sohn Aron hat sie ebenfalls ein sehr herzlich-zugewandtes Verhältnis.

Lars und Birte veranstalten regelmäßig kulinarische Abendgesellschaften, bei denen Lars durchschaubar oft alleinstehende junge Männer hinzulädt, um sie erfolglos mit Annu zu verkuppeln. Annu behauptet, sie käme sehr gut ohne Mann zurecht, und Lars behauptet, sie sei einfach zu anspruchsvoll, erwarte ein vergleichbar schicksalhaftes Zusammenfinden, wie es einst bei ihren Eltern war; ganz zu schweigen von ihrem aus- geklügelten Fragenkatalog mit sage und schreibe vierundsiebzig Fragen, um herauszu- finden, ob der Kandidat eine ausreichend große Werte- und Interessensschnittmenge mit ihr habe.

Eines Tages holt Annu mit dem alten Volvo ihres Vaters, in dessen Rekorder seit Jahren eine Musikkassette mit finnischen Tangos von Numminen festgeklemmt ist, ein ausran-giertes Sofa bei Lars und Birte ab. Beim Rückwärtsausparken vergißt sie den Schulter-blick und übersieht Aron, der in der Ausfahrt mit Kreide den Asphalt bemalt.

Das Kind ist zwar nicht lebensgefährlich verletzt, aber seine Beine sind gebrochen, und dann kommt eine postoperative Wundinfektion mit resistenten Keimen hinzu, die den Heilungsprozeß sehr in die Länge zieht.

Durch den Unfall ist die vertraute Geborgenheit der wahlverwandtschaftlichen Nähe und alltäglichen kommunikativen Verbundenheit schmerzlich unterbrochen. Lars und Birte ziehen vorübergehend in die Stadt, in der sich die behandelnde Klinik befindet, und Annu versinkt in Sorge um Aron, in Schuldgefühlen und Schwermut. Die Dorfbe- wohner meiden Annu nach dem Unfall, nur der freundliche Rettungssanitäter Kalle besucht Annu und versucht, sie aufzumuntern und dabei näher kennenzulernen. Aber Annu konzentriert sich lieber auf ihre Arbeit, führt Selbstgespräche, quält sich mit Selbstvorwürfen und will niemanden mehr nahe an sich heran lassen. Eines Morgens steht ein entlaufenes Schaf in ihrem Garten. Dieses tollpatschig-sture Schaf bleibt und bringt Ablenkung und Bewegung in Annus Zurückgezogenheit, und es zieht weitere ungebetene – tierische und menschliche – Gäste nach sich …

Es dauert neun Monate, bis Aron wieder ganz gesund wird, Annu und Lars ihre innige Freundschaft erneuern, Annu und Kalle ihren wechselseitigen Nähe-Distanz-Parcours überwinden und der Neuschnee für alle voller Hoffnungsschimmern funkelt.

Dieser Roman wartet mit einem ernsten Thema auf, ohne niederzudrücken. Die Figuren müssen zwar leiden und eine Lebenskrise durchstehen, aber sie verirren sich nicht im Schmerz. Die Gefühlspalette reicht von lähmendem Selbstmitleid bis zu heilsamer Selbstironie, von kindlicher Begeisterung bis zu erwachsener Kleinkariertheit, von dunkler Verzweiflung bis zu spielerischer Zuversicht, von angestaubter Wehmut bis zu frischgelüftetem Lebensmut.

All diese Facetten fügen sich szenisch und dialogisch zu einem gelungenen atmosphä-rischen Ganzen, das neben menschenkenntnisreichem Tiefsinn genug Spielraum für Situationskomik und Schmunzelmomente läßt. Die Autorin erzählt mit sprachlicher Leichtigkeit, mit einer ungewöhnlichen Verbindung von konkreter, sinnlicher Alltäg- lichkeit und zärtlich-melancholischer Poesie.

Als literarische Beilage gibt es zudem einen sehr sättigenden Vorrat finnischer Weisheitssprüche.

„Guter Rat ist wie Schnee, je leiser er fällt, desto länger bleibt er liegen“ (Seite 152)

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/die-tage-mit-bumerang/978-3-446-26446-5/

Die Autorin:

»Nina Sahm, geboren 1980 in Heilbronn, studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Anglistik in Leipzig und Budapest und arbeitet als Verlagsredakteurin. Ihr Debütroman „Das letzte Polaroid“ erschien 2014. Nina Sahm lebt mit Freund und Hund in München.« http://www.ninasahm.de/

 

Und hier noch – mit Herzensdank an Random Randomsen  https://randomrandomsen.wordpress.com/ für die kompetente Recherche –
die
Klangkostprobe eines finnischen Tangos von Numminen:

 

 

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27 Kommentare zu “Die Tage mit Bumerang

    • Verbindlichen Dank für Dein lebhaftes Leseinteresse. Man erfährt aus dieser Geschichte nicht viel über die finnische Kultur, sondern gerade soviel, wie es für die stimmige Charakerinszenierung des finnischen Vaters braucht. Es sind Kostproben, wie beispielsweise die finnischen Sprichwörter.

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  1. Ohhhh, das hört sich fein an !
    Als ehemalige Tango Argentino Begeisterte, vor allem was den finnischen und russischen Tango anbetrifft (ja, auch die Russen haben ein Gefühl für Tango) kommt mir dieses Buch wie angeflogen…
    Eine liebe Freundin hat am 30igsten Geburtstag, sie mag nordische Romane und ich bin mir sicher, daß sie dieses Buch auch mögen wird, denn sie hat selbst eine recht intensive Lebensgeschichte hinter sich.

    Da werd ich doch gleich nach Weihnachten im Buchladen hineinschauen und es bestellen.

    Besten Dank für den Tipp.

    Einen Gruß an Dich Ulrike und in die Runde hier, nebst besten Wünschen für die Festtage, wie immer sie für den Einzelnen gestaltet sind.

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    • Hab‘ Dank, liebe Marietta,
      für Deine buchstäbliche und tangotänzerische Begeisterung und die guten Wünsche für die Festtage.
      Schön, daß mein Buchtipp sich gerade so passend in Deine freundschaftliche Geburtstagsgeschenkplanung fügt.
      Ich wünsche Dir fröhliche und friedliche Festtage.

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  2. Ein Buch mit schrägen Typen und einem Schaf auf dem Titelblatt, was will ich mehr.
    Klingt mir gut in den Ohren, was Du dazu schreibst, liebe Ulrike, und patsch, auf die Buch-Wunschliste 🙂
    Frohe Weihnachten, liebe Ulrike, und einen guten Start ins Jahr 2020
    Herzliche Abendgrüße am 4. Advent von Bruni

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    • Herzlichen Dank, liebe Bruni, für Deine Rückmeldung und die guten Wünsche.
      Es freut mich, daß meine Buchempfehlung solchen Anklang bei Dir findet und nun Deine Wunschliste bereichert.
      Dir wünsche ich gemütlich-heitere Weihnachtsfesttage und einen wohlbeschwingten Jahreswechsel.
      Herzensgruß von mir zu Dir ❄ 💖 ❄

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  3. Die Geschichte hört sich sehr lesenswert an. Ich mag skurrile Persönlichkeiten. Wenn man mal hinter die Fassade schaut, sind wir doch alle etwas skurril … 😉 … und der Tango ist unbezahlbar! Ich bin ziemlich angetan von finnischer Kunst, zum Beispiel auch den Filmen von Kaurismäki oder den Leningrad Cowboys. Meine liebste Comic-Autorin ist Finnin, Minna Sundberg, die uns unter anderem mit ihrer Geschichte „A Redtail’s Dream“ die finnische Mythologie näherbringt (mal abgesehen von den wunderbaren Zeichnungen).

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    • Hab‘ Dank für Dein reges Leseinteresse und für Deine Sympathie für skurrile Wesen und unbezahlbare Tangos … 😉
      Die Filme von Kaurismäki und die Musik von den Leningrad Cowboys sind mir bekannt, und ich finde sie auf ihre schräge Art durchaus amüsant.
      Deinem Hinweis auf die Comic-Autorin Minna Sundberg will ich gerne einmal nachgehen, um meine finnisch-musische Allgemeinbildung zu erweitern.

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  4. Das schaut doch sehr nach einem erzählerischen Hochlicht einer mir bisher unbekannten Autorin aus. 🙂 Das Personal wirkt zwar in verschiedener Hinsicht fast so schräg wie Tangosänger Numminen. 😉 Und doch entspinnt sich zwischen diesen charaktermarkanten Persönlichkeiten eine lebensflüssig-stimmige Geschichte. Die Leseprobe offenbart zudem einen schneeflockenleichten Erzählton – und eh‘ man sich’s versieht, ist man schon mittendrin, in der Geschichte… [Sehr sympathisch finde ich übrigens die Idee, mitten im Sommer Winter zu spielen. 😀 ]
    Lieben Dank auch für die ausdrückliche Erwähnung meiner klangbildlichen Unterstützung. ☺️

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  5. Wieder eine Hanser-Überraschung, die unbändige Lust auf’s Lesen macht und das Schaf ist eh zum Knuddeln. Auch wenn ich dem Tango, wenn ich ihn tanzen müßte, eher skeptisch gegenüber stehe, denn da muß man sich ja führen lassen -:)) ihn anzuhören ist immer ein Genuß. Ein Buch mit versöhnlichem Schluß – was passt besser in die Winterzeit?
    Herzlichen Dank für Deine Vorstellung. Liebe Ulrike, ich wünsche Dir lektüre- und musikversunkene Weihnachtsfeiertage und viel Vorfreude aufs Jahr 2020.
    Lieber Gruß vom Dach, Karin

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    • Liebe Karin,
      herzlichen Dank für Dein Leseinteresse, Deine Schafzuneigung, Deine tänzerischen Bemerkungen zum Buch und Deine wohlgefügten Wünsche für mich. 🙂
      Ich wünsche Dir fein-musische und harmonisch-herzfüllte Weihnachtsfeiertage und einen freudigen Jahreswechsel.
      Herzensgruß von mir zu Dir 🌠 💖 🌠

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  6. Das klingt nach einem wunderbaren Buch, jenseits des mainstreams … Hauptflusses … und herzlichen Dank für den herrlichen Begriff: „Spannungsklippe“. Fröhliche Feiertage wünscht Thurs

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    • Vielen Dank, liebe Thursday,
      für Deine Leseneugier und Deine lebhafte Aufgeschlossenheit für die Wortrückverwandlung von Anglizismen in angemessenes Deutsch. Ja, dieses Buch bewegt sich eindeutig jenseits des literarischen Dominanzstroms. 😉
      Dir ebenfalls fröhliche Feiertage ❄🎄 ⛄ 🎄 ❄

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      • Ehrlich gesagt, ich liebe wohlverwandte Anglizismen … Wortspielereien streicheln meinen Geist, solange ich der Sprache rudimentär mächtig bin 😉

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