Der Sprung

  • von Simone Lappert
  • Roman
  • Diogenes Verlag, August 2019 www.diogenes.ch
  • in Leinen gebunden
  • 336 Seiten
  • 22,00 € (D), 22,70 € (A), 30,00 sFr.
  • ISBN 978-3-257-07074-3

K O N S T E L L A T I O N E N

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Mit dem Roman „Der Sprung“ hat Simone Lappert eine spannende und vielschichtige Choreographie des Schicksals geschrieben, die von sensibler Beobachtungsgabe für vielsaitige zwischenmenschliche Schattierungen und Lebenswelten zeugt.

Wenn eine junge Frau in Gärtnerlatzhose, die eindeutig kein Dachdecker ist, auf einem Dach steht und dort herumbalanciert, scheint die Vermutung naheliegend, daß es sich um eine suizidgefährdete Person handelt. Dementsprechend fällt das Polizeiaufgebot aus, von der Feuerwehr wird prophylaktisch ein Sprungkissen aufgepumpt, und die ersten schamlosen Schaulustigen versammeln sich entlang der Polizeiabsperrungen vor dem Haus. Einige Gaffer filmen rücksichtlos mit ihren Handykameras drauflos und son- dern blöde, herzlose und sensationsgierige Sprüche ab. Kaum jemand kommt auf die Idee, daß hier vielleicht ein fatales Mißverständnis vorliegt.

Als Leser schauen wir im weiteren Verlauf aus abwechslungsreichen Persönlichkeitsper-spektiven verschiedener Angehöriger, Anwohner und Passanten auf diese Situation. Streiflichternd und gleichwohl mit präziser Charakterzeichnung umkreisen Menschen, die nah, ganz entfernt oder nur indirekt mit der jungen Frau in Beziehung stehen, den Schauplatz.

Da ist Roswitha, die ein kleines Café betreibt. Sie ist berühmt für ihre frischen Schnitt-lauchschnittchen, und mit ihrer großzügigen, herzhaften, lebenserprobten und unkon- ventionellen Wesensart serviert sie so manchem Gast heilsame Impulse zum Nachtisch.

Egon Moosbach, der vegetarische Hutmacher, ist Stammgast bei Roswitha. Er ver- schenkt einen Hut aus seiner letzten Kollektion an den Fahrradkurier Finn und löst damit unverhofft eine Reihe glücklicher Fügungen für sich und andere aus.

Da sind Theres und Werner, die einen kleinen Lebensmittelladen betreiben und durch den Medienrummel und die vielen Gaffer soviel Umsatz machen wie schon lange nicht mehr. Dies führt auch zu einem deutlichen Aufschwung ihrer Lebenszuversicht.

Finn, der Fahrradkurier, ist zunächst nur genervt wegen der Straßenabsperrungen und wegen des Zeitverlusts, den diese für seinen dringenden Botenauftrag bedeuten. Doch dann schaut er wie die anderen Schaulustigen zum Dach hinauf und erkennt, wer dort oben steht – unmittelbar wird er vom unbeteiligten Beobachter zum zutiefst Betroffenen.

Felix, der Polizist, der vom Dachfenster aus vergeblich versucht, die junge Frau über ein therapeutisches Gespräch zum Zurückklettern ins Haus zu bewegen, kämpft mit seinen eigenen inneren Dämonen, die – ausgelöst durch seinen Aufenthalt auf dem staubigen Dachboden – seine Souveränität und seine kommunikative Kompetenz erschüttern.

Astrid, die ehrgeizige ältere Schwester der jungen Frau, erweist sich angesichts der dramatischen öffentlichen „Inszenierung“ als unerhört feige und hilflos.

Maren, die Besitzerin des Hauses, auf dessen Dach das Spektakel stattfindet, ist zur Genüge mit ihrem frisch geschlüpften Freiheitsdrang beschäftigt, und auch die Schülerin Winnie und Edna, die Nachbarin, die als erste die Polizei alarmiert hat, sind mit ihren eigenen Problemen ausgelastet.

Alle diese Menschen reagieren auf das Ereignis, bewerten und kommentieren es mehr oder weniger empathisch aus ihrer eigenen Befindlichkeit heraus.

Als meditativer Gegenpol erscheint der naturkundige, sympathische, weise Obdachlose Henry, der aus seinem Bauchladen für zwei Euro kleine Zettel mit klugen selbstverfaß- ten Fragen, die das Leben verändern können, an willige Passanten verkauft. Nachfol- gend eine Kostprobe:

„Wenn Sie einen Tag aus Ihrem bisherigen Leben wiederholen könnten, für welchen würden Sie sich entscheiden und warum?“  (Seite 234)

Die Komposition dieses außergewöhnlichen Romans ist detailliert durch- dacht, komplex verknüpft und empfindsam durchfühlt. Wie sich die Wege der Figuren kreuzen, manchmal verbinden, manchmal trennen, manchmal nur beiläufig streifen, wie ihre Erinnerungen, Gedanken, Selbstwahr- nehmungen, Gespräche und Handlungen sich freiwillig oder unfreiwillig, absichtlich oder unabsichtlich mitwirkend ins Geschehen fügen – das ist sehr beeindruckend.

Dabei verleiht die Autorin mit bewundernswerter sprachlicher Unge- zwungenheit und anschmiegsamer Formulierungskunst jeder Figur einen unverwechselbaren charakteristischen Tonfall und einen greifbar-sinn- lichen atmenden Körper. So kommen unterschiedliche soziale Milieus, Altersstufen und psychologische Klippen ebenso zu Wort wie scharfsinnige – durch das jeweilige Persönlichkeitsprisma gebündelte – zeitgeist- und gesellschaftskritische Bemerkungen.

Die schönen und die schrecklichen Augenblicke, die lauten und die leisen Stimmen, die Reibungen zwischen Innenwelt und Außenwelt, die lösbaren und die unlösbaren Verstrickungen, die aufkeimenden und welkenden Hoffnungen, die Selbsterkenntniswendepunkte und neuen Lebensweichen- stellungen der verschiedenen Figuren bilden ein faszinierend changierendes literarisches Episodenmosaik.

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.diogenes.ch/leser/titel/simone-lappert/der-sprung-9783257070743.html

Und hier entlang zu einem aussagekräftigen Interview mit der Autorin:
https://www.diogenes.ch/leser/blog/2019/08/simone-lappert-der-sprung-interview.html

Eine weitere begeisterte Buchbesprechung gibt es bei „Feiner reiner Buchstoff“ von Bri:
https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2019/08/29/von-aussen-sieht-manches-anders-aus/

Die Autorin:

»Simone Lappert, geboren 1985 in Aarau in der Schweiz, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Mit ihrem Debütroman ›Wurfschatten‹ stand sie auf der Shortlist des ›aspekte‹-Preises. Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel und Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt ›Babelsprech.International‹. 2019 erschien der Roman ›Der Sprung‹, der für den Schweizer Buchpreis nominiert ist. Sie lebt und arbeitet in Basel und Zürich.«  https://www.simonelappert.com/

 

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23 Kommentare zu “Der Sprung

  1. Zwischenmenschliches – zunehmend wichtig in unserer heutigen Zeit. Und wenn es dann so interessant, spannungsgeladen und feinsinnig inszeniert ist, wie Du es uns hier beschreibst, dann bleibt ja eigentlich gar nichts anderes übrig, als dieses Buch zu lesen 🙂
    Lieben Dank.

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  2. Liebe Ulrike, ich bin auch sehr von dem Buch angetan. Die Idee ist genial. Ein wenig bin ich von den Namen irritiert. Roswitha, Werner….. das waren schon altertümliche Namen, als ich jung war und sooooo *räusper* jung bin ich auch nicht mehr. Ich denke, viele Junge kennen die Namen gar nicht mehr.
    Nur mal so als Anmerkung.
    Für mich klingt das Buch sehr spannend, nicht aus kriminalistischer sondern psychologischer Sicht.
    Allerliebste Grüße von einer mit einem altertümlichen Namen 😉

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    • Liebe Barbara,
      vielen Dank für Deine positive Rückmeldung.
      Auch wenn Namen wie Roswitha und Werner schon eine Weile nicht mehr allzu geläufig sind, so werden sich jüngere Leser wohl beim Lesen daran gewöhnen – zumal die Autorin selbst ja auch noch recht jung ist und sich bei der Wahl der Namen für ihre Romanfiguren bestimmt etwas gedacht hat.
      Dieses Buch lebt von der Spannung zwischen sehr unterschiedlichen zwischenmenschlich-pyschologischen Daseinsbedingungen und den sich daraus ergebenden zugeneigten oder ablehnenden Begegnungen – das hast Du richtig erkannt.
      Herzlich grüßt Dich
      Ulrike

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      • Ich sah die Namen auch nicht als Problem, empfand es nur als ungewöhnlich, gerade weil die Autorin jünger ist. Das war keine Wertung eher eine Anmerkung. Liebe Grüße, Barbara

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  3. Liebe Ulrike,
    ich sehe, Dir hat Der Sprung genauso gut gefallen, wie mir. Die Konzeption ist wahrlich ausgetüftelt und durchdacht umgesetzt. Da kann man, konnte ich einfach nicht aufhören zu lesen. Ein wahrer Pageturner. Liebe Grüße von der Bri

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  4. Hallo, liebe Ulrike, was ich dich immer schon mal fragen wollte: Da ich ja das eine oder andere von dir empfohlene Buch bereits gekauft habe (beim örtlichen Buchhandel hier), kann ich diese Bücher auch in deinem Buchladen bestellen? Oder ist das für dich gar nicht so relevant? Sonnig-herbstliche Grüße aus Do, Annette 🙂

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    • Liebe Annette,
      wie schön, daß meine Buchempfehlungen so gut bei Dir ankommen!
      Es zeugt von Deiner Achtsamkeit, daß Du den Gedanken hegst, Deine Bücher bei mir einzukaufen.
      Ich arbeite jedoch schon lange nicht mehr im Buchhandel. Um mich über den schmerzlichen Verlust meiner Berufung hinwegzutrösten, habe ich 2013 dieses Buchbesprechungsblog angefangen. Nach Schließung der Buchhandlung, in der ich angestellt war, und darauf folgenden jahrelangen diversen abwechslungsreich-schlecht bezahlten Einzelhandelstätigkeiten habe ich inzwischen eine anregende, auskömmliche und kultivierte Arbeitsplatznische für mich im Deutschen Klingenmuseum gefunden: http://www.klingenmuseum.de/_deutsch/dkm/museum.html
      Museumsreife 😉 Grüße aus Solingen

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      • Hallo, liebe Ulrike, danke, ja, das ist mir ein Herzensanliegen 🙂 Freut mich sehr, dass du eine Nische für dich gefunden hast, in der du dich wohl fühlst und ich hoffe, du schreibst uns noch viele spannende Rezensionen, denn so manches Buch hätte ich ohne deine vorherige Besprechung wohl nie gelesen ❤ 🙂 Liebe Grüße aus Do, Annette

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      • Liebe Annette,
        herzlichen Dank für Deine zugeneigte Resonanz und Lesetreue. 🙂
        Ich bin unbeschreiblich froh und dankbar über meine Anstellung im Deutschen Klingenmuseum, zumal ich in nur fünfminütiger, fußläufiger Entfernung von meinem Arbeitsplatz wohne.
        Rezensionen werde ich selbstverständlich nach wie vor schreiben, weil es zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört, Bücher zu entdecken, zu lesen und zu empfehlen.
        Herzensgruß von mir zu Dir ❤

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      • Hallo, liebe Ulrike, das klingt richtig gut und das in einer Zeit, in der es mir manchmal erscheint, als ob die Welt nur noch aus Pendlern besteht. Klasse! Und etwas ganz Besonderes noch dazu 🙂 Liebe Grüße, Annette

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      • Der gegenwärtige Mobilitätszwang, dem viele Arbeitnehmer unterliegen, ist sowohl in sozialer Hinsicht als auch in ökologischer Hinsicht ungesund.
        Umsomehr freue ich mich, nicht nur einer angenehmen und kommunikativen Arbeit nachgehen zu können, sondern damit auch noch eine kaum zu übertreffende positive Ökobilanz zu erzielen. 🙂
        Mit einem kerzenlichten Abendgruß,
        Ulrike

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  5. Wiederum gelingt Dir eine reizvolle Besprechung.
    Besonders mag ich die Figur des Henry mit seiner Geschäftsidee, Frage-Zettel zu verkaufen. Dies erinnert mich spontan an die Fragebogen von Max Frisch, die wir gerade im Gesprächskreis lesen und besprechen.

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  6. Das klingt aber gut, was ich da lese, liebe Ulrike, und ich werde es auf meinem Wunschzettel vermerken, denn da ist jetzt noch ein wenig Platz 🙂 und der Sprung scheint mir bestens geeignet, diesen Platz zu füllen – in dick und rot und einem Kreis drumherum.

    Liebe Grüße in die Nacht zum Montag von Bruni an Dich

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