Unter dem Milchwald / Under Milk Wood

  • von Dylan Thomas
  • Drei Hörspielinszenierungen
  • BBC 1963, NWDR 1954, MDR 2003
  • 6 CDs
  • Laufzeit: 4 Stunden, 43 Minuten
  • der Hörverlag   Juni 2014   http://www.hoerverlag.de
  • Sprecher: Richard Burton (BBC 1963)
    Ludwig Cremer, Dietrich Haugk (NWDR 1954)
    Harry Rowohlt, Boris Aljinovic, Sophie Rois (MDR 2003)
    u.v.a.
  • Regie: Götz Fritsch, Douglas Cleverdon, Fritz Schröder-Jahn
  • Übersetzung: Erich Fried
  • Buchvorlage: Carl Hanser Verlag
  • ISBN 978-3-8445-1410-0
  • 24,99 € (D), 36,90 sFr
    Unter dem MilchwaldUnder Milk Wood von Dylan Thomas

OHRENBETÖRENDE   W O R T B E R A U S C H UNG

Hörbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Der einhundertste Geburtstag von Dylan Thomas (27.10. 2014) wurde beim Hörverlag ausgiebig gefeiert: mit einer üppigen CD-Edition, die gleich drei legendäre Hörspiel- inszenierungen eines der berühmtesten Hörspiele der Rundfunkgeschichte in einem Gesamtpaket für nur 24,99 € anbietet. Die schöne, praktische Faltpappverpackung enthält neben sechs CDs ein umfängliches Textheftchen mit Hintergrundinformationen zu Dylan Thomas‘ Leben und Werk sowie zu Übersetzung (von Erich Fried) und Produktion.

Die ersten beiden der insgesamt sechs enthaltenen CDs bringen uns das englische Original, mit Richard Burton als Erzählerstimme, beeindruckend zu Gehör. (Richard Burton war mit Dylan Thomas befreundet, und er wurde nach seinem Tode zusammen mit einem Gedicht- band von Dylan Thomas begraben.). Die weiteren vier CDs enthalten eine ins Deutsche übersetzte Vertonung aus dem Jahre 1954 (mit Ludwig Cremer und Dietrich Haugk als Erzähler) und aus dem Jahre 2003 (mit Harry Rowohlt und Boris Aljinovic als Erzähler).

Diesen drei Hörspielinszenierungen hintereinander zu lauschen ist keineswegs eintönig, sondern hochinteressant und dank der unterschiedlichen dramatischen, schauspiel- erischen und stimmlichen Darstellung durchaus abwechslungsreich. Für die englische Originalfassung bedarf es allerdings recht guter Englischkenntnisse oder der Geduld für wiederholtes Zuhören, welches das Verständnis vertieft.

Für mich ist „Unter dem Milchwald“ eine faszinierende Entdeckung und das Schließen einer literarischen Lesewissenslücke, kannte ich doch bisher lediglich das berühmte Gedicht „Geh nicht gelassen in diese gute Nacht“ von Dylan Thomas.

Die lautmalerische, sprachmagische Wortwirkung kommt im englischen Originalhörspiel selbstverständlich am lebhaftesten zur Geltung; indes braucht sich die Übersetzung von Erich Fried keineswegs verschämt in die Ecke zu stellen, sondern sie wird den blühenden Metaphern und wild- wüchsigen Wortwesensarten von Dylan Thomas sehr gerecht.

Zur Einstimmung fangen wir mit dem Anfang an:

„Anfangen, wo es anfängt: Es ist Frühling, mondlose Nacht in der kleinen Stadt, sternlos und bibelschwarz, die Kopfsteinpflasterstraßen still, und der geduckte Liebespärchen- und Kaninchenwald humpelt unsichtbar hinab zur schlehenschwarzen, zähen, schwarzen, krähenschwarzen, fischerbootschaukelnden See…“

Geleitet vom roten Faden der dichterischen Zeilen und gebannt von zauberspruch- artigen Wortwendungen, spazieren wir einen frischen Frühlingstag lang durch das fiktive walisische Kleinstädtchen Llareggub und werden als erste Einweihung in die ausklingenden nächtlichen Träume verschiedener Einheimischer getaucht.

Nach und nach erwacht der kleine Fischerort, die Kirchglocke wird vom blinden Kapitän Cat, der im Dunkeln sehen kann, geläutet, der örtliche Priester spricht auf seiner Türschwelle einen poetisch-heimatverbundenen Segen auf Llarggub, die Menschen frühstücken und gehen ihrer Arbeit nach, Möwen durchrufen die meersalzige Luft, und die Zeit vergeht.

Das Wellengekräusel und -Geschäume zwischenmenschlicher Gefühle und Gedanken, subjektiver Zu- und Abneigungen durchpulst in schonungslosen Schattierungen das Wohl und Wehe der Einwohner von Llarggub.

Der Postbote Willy Nilly liest ganz ungeniert die Post, es gibt Klatsch und Tratsch, Gerüchte und Gerüche, Gemuschel und Getuschel, Liebe und Haß, Träume, Sehnsüchte, Verbitterung und Glück, Hoffnung und Verzweiflung, Momentaufnahmen, kindliche Liebespfänderspiele, weh- mütige Erinnerungsrückblenden, gutmütige, böswillige Charaktere und skurrile Charaktere, z.B. Mrs Ogmore-Pritchard, eine sauberkeits- fanatische Pensionswirtin, die sogar noch ihre beiden verstorbenen Ehemänner als Gespenster zum Staubwischen verdonnert. Sinnliches und Übersinnliches gehen reibungslos ineinander über, und neben vielen Lebenden kommen auch einige Tote ganz munter zu Wort.

Die Menschen und silbensummenden Szenerien von „Unter dem Milchwald“ scheinen einfach dem Alltag abgelauscht, doch zugleich modelliert Dylan Thomas seine Figuren aus dem TON seiner verdichteten Worte heraus und erschafft einen sehr eindringlich-assoziativen Bewußtseinsstrom, ein viel- stimmiges, organisches Ganzes, dessen verschlungene Wege, eigenwillige Formulierungen, sinnliche Vibrationen und anschauliche Sprachverspielt- heiten ein überaus intensives, ja, unvergeßliches Klanggebilde erzeugen.

Mögen zum Abschluß nun einige Lieblingsformulierungsperlen glänzen:

„… von Glühwürmchen brautumjungfert…“

„… ehrbar eheberingt…“

„… unter tugendhaft arktischen Bettüchern …“

„…gemauserte Federn von Träumen…“

Hier geht es zum Hörbuch auf der Verlagswebseite und den Hörproben zu jedem der drei Hörspiele: https://www.randomhouse.de/Hoerbuch/Unter-dem-Milchwald-Under-Milk-Wood-Drei-legendaere-Hoerspielinszenierungen/Dylan-Thomas/e454205.rhd

Der Autor:

»Dylan Thomas, geboren 1914 in Swansea / Wales, ging 1934 nach London und arbeitete dort für Zeitschriften und für die BBC. 1949 zog er sich in den kleinen walisischen Fischerort Laugharne zurück. Er gab sich selbst den Namen „Rimbaud vom Cwmdonkin Drive“, und stellte sich damit selbst in die Ahnenreihe der rebellischen Dichter. Zeitlebens gefährdete er sich selbst durch exzessiven Alkoholgenuss. 1945 erhielt er von der BBC den Auftrag, ein Hörspiel zu schreiben. So entstand „Under Milk Wood – A Play for Voices“, das heute zu den wichtigsten und erfolgreichsten Werken des Walisers zählt. Es wurde im Januar 1954 zum ersten Mal gesendet. Der Autor selbst erlebte den Welterfolg jedoch nicht mehr, er war 1953 zwei Monate vor der Erstausstrahlung während einer Lesereise in New York verstorben. Zu Lebzeiten ebenso umstritten wie berühmt, gehört sein Werk inzwischen zum festen Bestandteil der modernen Poesie. Seine Sprache vereint Weltschmerz und Lebenskraft, Sprachwitz und Morbidität. Einer seiner größten Bewunderer war Bob Dylan, der sich nach ihm benannte.«

Die Buchausgabe von Hanser, welche als Textgrundlage für die deutschen Hörspiel-Inszenierungen diente, ist leider vergriffen. Die Übersetzung von Erich Fried findet sich nun beim Reclam Verlag.

Bei Reclam gibt es jeweils eine deutsche und eine englische Buchausgabe:

Dylan Thomas
Unter dem Milchwald
Ein Spiel für Stimmen
Dt. Nachdichtung: Fried, Erich
Nachwort: Bender, Hans 1988
Reclam Universal-Bibliothek Nr.7930    http://www.reclam.de
Kartoniert, 107 Seiten, 4,60 €
ISBN 978-3-15-007930-0 Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.reclam.de/detail/978-3-15-007930-0/Thomas__Dylan/Unter_dem_Milchwald

Dylan Thomas
Under Milk Wood
A Play for Voices
Hrsg. v. Reinhard Gratzke 1989
»Ungekürzte und unbearbeitete Textausgabe in der Originalsprache, mit Übersetzungen schwieriger Wörter am Fuß jeder Seite, Nachwort und Literaturhinweisen.«
Reclam Universal-Bibliothek Nr.9248   http://www.reclam.de
Kartoniert, 159 Seiten, 5,40 €
ISBN 978-3-15-009248-4  Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.reclam.de/detail/978-3-15-009248-4/Thomas__Dylan/Under_Milk_Wood

Querverweis:

Hier entlang zu den Liebesbriefen, die Dylan Thomas an die Frauen seines Lebens geschrieben hat: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/08/02/die-liebesbriefe-dylan-thomas/

Leselebenszeichen-Datenschutzerklärung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/datenschutzerklaerung/

 

31 Kommentare zu “Unter dem Milchwald / Under Milk Wood

    • Da schließe ich mich doch gerne Finbars Worten an.
      Klingt zaubertoll was ich hier finde. Seine Neologismen haben es in sich und schon mit schlehenschwarz und krähenschwarz geht meine Fantasie nun freudevoll spazieren *lächel*

      Liebe Winterabendgrüße von Bruni an Dich

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      • Danke, liebe Bruni.
        Der KLANG dieses Hörspieles hat nach wie vor ein ECHO in meinem Gedächtnis und das nicht bloß, weil ich grundsätzlich jedes Hörbuch, das ich bespreche, mindestens dreimal anhöre, sondern wegen der SPRACHMAGIE und der hervorragenden Sprecher in jeder der drei Vertonungen.
        Einen herzlichen Gutenachtgruß von mir an Dich 🙂

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      • Diese Sprachmagie ist es auch, die mich zur Lyrik trieb, liebe Ulrike.
        Das Büchlein mit seinen Gedichten und mit der jeweiligen deutschen Übersetzung lieh mir mal eine befreudete LKW-Fahrerin aus.
        Es ist schon einige Jahre her und seitdem ist es in meinem Besitz. Es ist eine geliebte Dauerleihgabe geworden. Kathrin liest auf ihren Fahrten nun weniger Gedichte, sondern mehr Biografien *lach* . Tja, auch solche Truckfahrer gibt es 🙂

        Herzliche Gutenachtgrüße nun auch an Dich, liebe Ulrike

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      • So ist es auch bei mir, liebe Bruni.
        Dichtung als MAGIE ist immer die Krönung der Verzauberung!

        Die unerwarteten Facetten, die Menschen haben können, sind stets die Würze der zwischenmenschlichen Begegnung.
        Ich wurde schon erstaunt beäugt, weil ich u.a. die Serie Star Trek mag, über Helge Schneider herzhaft lachen kann und jahrelang Kampfsport geübt habe. Das paßt manchen nicht in das poetisch-zierliche Bild, das sie offenbar von mir kultivieren.

        Jetzt sag‘ ich aber endgültig gute Nacht und ziehe den Stecker raus 😉

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      • das ist ja lustig, ich habe auch mal Kampfsport gemacht, bis mich ein Schlüsselbeinbruch sehr schnell davon abhielt *g*

        Und jetzt Stecker raus, aber bitte nicht zu wörtlich nehmen *lach*

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      • Arno Schmidt meinte einst: „Noch kein Glücklicher hat je ein gutes Buch geschrieben.“ Dies mag wohl auch auf Dylan Thomas zutreffen und wir wissen nicht, welche Schmerzen er mit Alkohol zu betäuben versuchte oder welche Wahrnehmungsstimulierung möglicherweise auch Rauschzustände für ihn bedeuteten.

        Ich kann bezüglich Alkoholgenuß oder -Sucht nicht mitreden, da der einzige Alkohol, den ich trinke in gelegentlichen Bachblüten-TROPFEN besteht 😉 Mir schmeckt Alkohol meist einfach nicht!

        Seine Liebesbriefe, lieber Lu,
        sollen wohl besonders bemerkenswert sein, und ich habe mir vorgenommen, mich in Laufe dieses Jahres mit diesen zu beschäftigen …

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      • Ein interessantes Leseprojekt, wie ich meine, liebe Ulrike, da bin ich schon sehr gespannt auf deine Buchbesprechung!!

        Was Arno Schmidt angeht, da denke ich, dass das natürlich ein klasse Bonmot ist, völlig im Einklang mit der japanischen Ästhetik des mono no aware, aber mit Sicherheit sich nicht mathematisch beweisen lässt, denn Gegenbeispiele lassen sich massenhaft finden…

        Dir ein schönes Wochenende wünsche, herzliche Morgengrüße vom Lu

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      • Oh ja, ich bin auch schon ganz neugierig auf die Lektüre und auf meine sekundärliterarische „Verarbeitung“, lieber Lu.
        Ich glaube auch, daß es genug Gegenbeispiele zu Arno Schmidts Bonmot gibt und kann ganz gut ohne mathematische Beweise dafür auskommen …
        Liebe unberechenbare 😉 Grüße von Ulrike

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  1. Oooohh! Da fällt aber gerade eine große Sorge bezüglich noch fehlender Inspiration für ein zu beschaffendes Geburtstagsgeschenk von mir ab, für „meine“ Ulrike nämlich, welche ist meine anvertraute Angetraute und ihres Zeichens Hobbysprachlerin, ganz scharf auf schwer Verständliches.
    Was mich betrifft, so laufe ich Gefahr, nur noch deine Rezensionen und keine Bücher mehr zu lesen. Reicht doch! 🙂

    Michael

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  2. Danke für die Erinnerung an Dylan Thomas, einen der Heroen meiner Jugend. Under Milkwood – nicht zuletzt seinetwegen reiste ich mit 17 Jahren per Anhalter nach Wales. Das war im Jahr 1959.

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    • Wie schön, daß ich mit dieser Besprechung eine positive, nostalgische Rückblende bei Dir anregen durfte.
      Du bist offenbar eine abenteuerlustige Frau – per Anhalter nach Wales im Jahre 1959 – Hut ab!
      1959 war ich noch garnicht reinkarniert 😉

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      • Na ja, damals war das Trampen noch ziemlich verbreitet. Man hatte kein Geld, aber Reiselust. Übrigens war meine Oma, Jahrgang 1885, mit 20 in Irland, als Hauslehrerin. Das war dann doch eher ungewöhnlich, denn sie hatte studiert, an einer Pädagogischen Akademie, was für Frauen damals das einzig mögliche Studium war. Nach Irland ging sie, um Geld zu verdienen, denn ihre Mutter war verwitwetete Berlinerin ohne Vermögen.

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  3. Ich danke dir für den Tipp. Ich war mit ihm beim Lesen nicht warm geworden, vielleicht probiere ich es jetzt mal über das Hören. Deine Besprechung macht auf jeden Fall Lust (und Mut) dazu.
    Liebe Grüße
    Christiane

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    • Liebe Christiane,
      ich habe schon häufiger die Erfahrung gemacht, daß gekonnt vorgelesene oder schauspielerisch-gesprochene Literatur den Textzugang angenehm erschließt. Bei fremdsprachigen Texten finde ich zudem interessant, daß ich nach mehrmaligem Hinhören immer mehr verstehe.
      „Repetitio est mater studiorum“, wie die Lateiner sagen 😉

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      • Liebe Ulrike,
        ja, gebe dir recht, nur ich bin halt so ein Augenmensch, ich vergess das immer wieder, von daher dauert es lange, bis ich nach einem Hörbuch suche.
        Und was die „repetitio“ angeht … ich verstehe englische Lieder zum Beispiel durchaus nicht leichter, wenn ich sie hundertmal gehört habe und nicht verstehe, weil mir die Worte fehlen. Da hilft mir nur Lesen und Nachschlagen. Allerdings stimme ich dir zu, dass ohne repetitio gar nichts geht. Das war schon im Lateinunterricht nicht anders 😀

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      • Ja, bei gesungener Sprache ist das anderes als bei gesprochener Sprache, da stimme ich Dir vollkommen zu.
        Ich hatte leider gar keinen Lateinunterricht, ich kann nur einige nützliche Zitate auswendig 😉
        Lerneffekte ohne repetitio gibt es wohl weder bei Sprachen noch im Leben …

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      • Mich hatte es auf ein altsprachliches Gymnasium verschlagen, da blieb Latein nicht aus …
        Heute freue ich mich darüber, es gelernt zu haben, aber damals fand ich es manchmal schon ziemlich heftig. 🙂

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