Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

  • von Lauren Oliver
  • Übersetzung aus dem Englischen von  Katharina Diestelmeier
  • Carlsen Verlag  2010                          http://www.carlsen.de
  • 978-3-551-58231-7
  • 447 Seiten
  • 19,90  €
  •  ab 14 Jahren
  • Taschenbuchausgabe, Carlsen Verlag  März 2013
  • 978-3-551-31200-6
  • 8,99 €
    9783551582317_0.jpg Wenn du stirbst zieht

ANPROBE  FÜR  VIELE  LEBEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Samantha Kingston, die Icherzählerin dieses Jugendromans, bereitet die Leser bereits im Prolog darauf vor, daß sie hier von ihrem letzten Lebenstag erzählt. Sie tut das in einem selbstironisch-lakonischen und unkonventionellen Tonfall, der Neugier weckt und zum Weiterlesen animiert, obwohl wir wissen, wie die Geschichte enden wird.

Im ersten Kapitel lernen wir Samantha als hübsche, 16-jährige Schülerin kennen, allgemein beliebt, bewundert, aber auch gefürchtet, denn sie gehört  zu der angesagten Mädchenclique an ihrer Schule. Ihre Hauptsorge gilt der Anzahl der Rosen, die sie zum Valentinstag bekommen wird, und es gibt eine latente Unsicherheit bezüglich ihres  Entjungferungsvorhabens. Zwar ist sie mit dem ebenfalls allgemein umschwärmten Rob zusammen, aber der Impuls zum ersten Mal geht wesentlicher stärker vom Gruppenzwang ihrer Freundinnen und vom Drängen des Jungen aus als von wirklichem Begehren ihrerseits.

Am Morgen ihres letzten Lebenstages wird sie von ihren drei besten Freundinnen mit demAuto abgeholt. Lindsay, die Fahrerin und tonangebende Persönlichkeit der Mädchenclique, überholt dreist den Wagen einer anderen Schülerin und besetzt den letzten Parkplatz, der in unmittelbarer Nähe zum Haupteingang der Schule liegt.

Es ist Valentinstag, und auf dem Weg zum Unterricht begegnen ihnen einige als Liebesboten festlich kostümierte Schülerinnen der unteren Jahrgänge. Diese Liebesboten verteilen im Laufe des Schultages die Rosen und Grußkärtchen an die älteren Jahrgänge.  Die Anzahl der Rosen, die man bekommt, illustriert, in welchen Bereich des Beliebtheitsspektrums man sich einordnen darf.

Während dieses Schulalltages wird deutlich, wie normiert sich Samantha verhält, wie sie ihren sozialen Rang in der Schülerhierarchie  ängstlich überwacht und ausgesprochen oberflächlich damit beschäftigt ist, die richtigen Klamotten zu tragen, coole  Bemerkungen zu machen,  sich von den Außenseitern fernzuhalten oder sich mit ihren Freundinnen über die „Freaks“ lustig zu machen. Eine Schülerin namens Juliet ist ganz besonders Zielscheibe des Gruppenspotts, einfach deshalb, weil Lindsay eine persönliche Abneigung gegen dieses Mädchen hat.

Samantha ist eine Mitläuferin, die ihre wahren Empfindungen opfert um dazuzugehören; das geht sogar so weit, daß sie bereit ist, mit ihrem Freund Rob zu schlafen – dabei haßt sie schon die Art, wie er sie küßt!

Eine der Rosen, die Samantha bekommt, stammt von Kent. Kent ist ein selbstbewußter, kreativer Individualist und fällt somit auch in die abzuwertende Freak-Kategorie. Er gibt jedoch am Abend eine Party, und gönnerhaft beschließen die Freundinnen dort hinzugehen, denn Kent sieht immerhin gut aus, wenn er sich auch eigenwillig kleidet.

Als die Mädchen zur Party in Kents Elternhaus  erscheinen, ist schon reichlich Alkohol geflossen, und es kommt zu einer sehr häßlichen Szene zwischen der Clique und ihrem Lieblingsopfer Juliet. Kent stellt Samantha deshalb zur Rede, und sie ist aufgewühlt, weil sie spürt, wie anziehend er auf sie wirkt; und seine Kritik an ihrem Verhalten gegenüber Juliet trifft sie sehr.

Samanthas Gefühlchaos ist perfekt, das Projekt Entjungferung entfällt wegen Robs Trunkenheit, also verlassen die Mädchen schließlich in weiblichem Einvernehmen die Party. Auf der Rückfahrt geschieht schließlich der Autounfall, bei dem Samantha stirbt.

Im zweiten Kapitel erwacht Samantha morgens  in ihrem Bett, und es ist wieder Valentinstag. Irritiert vergleicht sie ihre Erinnerung an den tödlichen Autounfall mit ihrem offensichtlich lebendigen Erwachen. Handelt es sich um ein besonders ausgedehntes Déjà-vu?

Wieder wird sie von ihren Freundinnen abgeholt, es gibt jedoch, bedingt durch Samanthas Verwirrung, ein kleine Zeitverzögerung, und diesmal bekommen sie nicht den gleichen Parkplatz, was wiederum für die Schülerin, die jetzt den Parkplatz nutzen kann, positive Folgen hat, da sie pünktlich zum Unterricht erscheint und sich somit eine andere Wirkungskette entfaltet. Auch Samantha hofft durch ihre Kenntnis des Tagesablaufes und eine bewußte Verhaltensänderung, vielleicht diesmal ihr Leben retten zu können.

Siebenmal erwacht sie am gleichen Tag und nimmt kleinere und größere Änderungen vor. Samantha ist ganz auf sich selbst zurückgeworfen, was dazu führt, daß sie nach und nach ihren eigenen Empfindungen folgt und viele Selbstverständlichkeiten ihres bisherigen Daseins hinterfragt. Schöne Fassaden werden brüchig, sie entdeckt Geheimnisse und Zusammenhänge, die ihre Perspektive  dramatisch verändern: „ Ich schaudere, als ich daran denke, wie leicht  man sich vollkommen in Leuten täuschen kann – man sieht einen winzigen Teil und verwechselt das mit dem Ganzen, man sieht die Ursache und denkt, es ist die Wirkung oder andersrum.“

Ihr Wissensvorsprung gegenüber ihren Mitmenschen macht sie einsam, zugleich bringen jedoch das Wissen um ihre eigene Sterblichkeit und der damit verbundene Abschiedsblick eine seelische Tiefenschärfe und reifende Selbsterkenntnis, die in bemerkenswertem Kontrast zu ihrer vorherigen Oberflächlichkeit stehen. Sie entwickelt mehr Dankbarkeit, Liebe und Wertschätzung für die vielen Gaben und Genüßlichkeiten des Lebens;  so entdeckt sie  z. B. staunend, daß ihre kleine Schwester ein bewundernswertes Vorbild an souveräner Eigenwilligkeit verkörpert.

Ließ  Samanthas  Herzensbildung sowohl in Bezug auf  sich selbst als auch in Bezug auf andere Menschen anfangs deutlich zu wünschen übrig, absolviert sie in diesen sieben Tagen einen Intensivkurs in echter Menschenkenntnis, achtsamer Wahrnehmung und Mitgefühl. Samantha ändert ihre Wertekoordinaten und wird von Wiederholungstag zu Wiederholungstag sympathischer und wesentlicher.

Das Leben, das Samantha dann am letzten Tag wirklich rettet, ist nicht ihr eigenes, doch hiermit ist sie vollkommen im Einklang.

„Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie“ ist ein ungewöhnliches Buch, mit einer mutigen Herangehensweise an schmerzliche und schwierige Themen und mit einer Sprache, die den jugendlichen Ton trifft. Ernste, lustige, alberne, tiefsinnige, einfache und komplexe Gefühle, Wahrnehmungen und Erkenntnisse werden in bunter Wortvielfalt, durch lebhafte Dialoge und mit flotter Dramaturgie  wunderbar gefühlsecht dargestellt.

 

Die Autorin:

»Schon als Kind hat Lauren Oliver leidenschaftlich gern Bücher gelesen und dann Fortsetzungen dazu geschrieben. Irgendwann wurden daraus ihre eigenen Geschichten. Sie hat Philosophie und Literatur studiert und kurz bei einem Verlag in New York gearbeitet. Lauren Oliver lebt in Brooklyn.«