Das Mundschloss

IM  GESPRÄCH  MIT  DER  UNAUSSPRECHLICHKEIT

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

»„Die ist doch stumm wie eine Parkuhr!“ – sagt eine Mitschülerin; „Sprich bitte mit uns!“, die Grundschullehrerin. Doch zu Hause ist alles anders: Dort wird geredet wie ein Wasserfall, gespielt, getanzt und sich verkleidet. Aber wieso spielt Simone nicht mit anderen Kindern? Warum werden Hallo, Danke, Bitte zu demselben bedrückenden Problem wie jede denkbare andere Situation mit Menschen?«
(Zitat aus dem Klappentext)

Wie soll ein Mensch sich weitersagen, wenn die Anwesenheit unvertrauter Menschen und / oder das Betreten ungewohnter Räume so viel Angst auslösen, daß sich das wahre Selbst verschließt, der sprachliche Ausdruck blockiert und der Körper beinahe erstarrt ist, während das Denken krampfhaft darum kreist, irgendwie doch noch passende Worte und soziale Gesten hervorzubringen, ja, schließlich sogar das Denken verschwimmt und nur noch das Überleben eine Rolle spielt? Das ist mehr als „normale“ Schüchternheit, das ist selektiver Mutismus.

In der Einleitung zu ihrem Buch schreibt Simone Dräger: »Das ist ein Buch über eine Art von Schüchternsein, die nur im Beisein von anderen Personen auftaucht und bei einem selbst einen Identitätsverlust, Selbstleugnung und Verwirrung auslöst. Kennzeichnend hierbei ist eine gewisse Verschlossenheit. Der Körper befindet sich in einer Angst- reaktion, alles andere wird ausgeschaltet, aufgelöst – da nur das Überleben zählt. Diese Angstreaktion ist zu begreifen wie ein „Blackout“, welches sich letztendlich in der Sprache niederschlägt und man „Das Mundschloss“ nennen kann.«

Schon früh bemerkt die Autorin, daß es ihr unmöglich ist, bei der Begegnung mit fremden Menschen – egal ob Kindern oder Erwachsenen – einen „normalen“ sozial-kommunikativen Kontakt auszuhalten, geschweige denn initiativ herzustellen.

Zu Hause und im Beisein naher Familienmitglieder kann sie sich durchaus lebhaft und flüssig ausdrücken und bewegen, aber außerhalb des vertrauten Schutzraumes kommt es meist zu einer heftigen Angst-Stressreaktion. Zwar kann sie auf Fragen antworten, und sie kommt den Spielaufforderungen anderer Kinder nach, allerdings stets um den Preis, einfach nur mitzumachen und nichts Selbstbestimmtes miteinzubringen.

Betrübt beobachtet sie, wie andere Menschen einfach Fragen stellen, Bedürfnisse äußern und sich ganz frei bewegen, während sie unerklärlich „eingesperrt“ und schon von den kleinsten alltäglichen Höflichkeitsfloskeln überfordert ist.

Es gibt gelegentliche positive und entspannte Miteinandererfahrungen im Spiel mit anderen Kindern, aber den erfülltesten Selbstausdruck findet sie bei Verkleidungs- spielen und selbstausgedachten kleinen „Shows“ mit Tanz und Gesang. Auf der Bühne überfällt sie die Ausdruckshemmung nicht, nur im realen Alltag. So keimt der Wunsch, später eine Schauspiel- oder Musicaldarsteller-Ausbildung zu absolvieren.

Anderen Menschen ins Gesicht oder in die Augen schauen, Begrüßungen, Bitten, Danken, Fragen stellen, Fragen beantworten, Gratulationen, Namen oder ein Du oder Sie aussprechen, Telefonieren, sich im Schulunterricht melden, Verabredungen treffen, – alles ist ein anstrengender Hürdenlauf mit mühsamen, gedanklich-emotionalen Vorbereitungsvorstellungen und Drehbuchspickzetteln sowie mit langen Nachwehen, in denen sie über ihr hölzernes Verhalten und die ausgestandenen Ängste und Peinlich- keiten reflektiert und sich immer wieder vornimmt, es beim nächsten Mal besser zu machen. Sie schwankt zwischen Vermeidungsstrategien und Selbstüberwindungs- sehnsüchten.

Zugleich spürt sie, wie dieses „Kontaktleiden“ ihre Lebendigkeit regelrecht „ausschaltet“:
„Ich fühlte mich überall unwohl, eingeengt und abhängig. Es gab keinen Ausweg aus dem Labyrinth, sondern immer nur ein Im-Kreis-Gehen.“(Seite 39)
„Ich sehnte mich immer mehr nach etwas Eigenem, wodurch ich mich wirklich ausdrücken und als eigenständige Person beweisen könnte. Bisher schien ich einfach eine ferngesteuerte Puppe zu sein.“ (Seite 42)

Sensibel registriert sie die Erwartung von Familie und Freunden, daß sie selbständiger werden müsse, nicht ständig zu Hause bleiben könne und sich für altersgemäße „Teenie-Dinge“ interessieren solle.

Mit zwölf Jahren wird Simone Dräger magersüchtig, und es folgt eine mehrjährige therapeutische Achterbahnfahrt mit stationären Aufenthalten, bis es ihr gelingt, sich von der verführerischen Selbstausdrucksform des Hungerns und der damit verknüpften Körperbeherrschung zu lösen. Ihre sehr persönliche und dramatische Beschreibung des Suchtmechanismus der Magersucht ist beeindruckend und anrührend.

Ihre wortkargen und steifen zwischenmenschlichen Umgangsformen werden jedoch nur als Nebenwirkung der Erschöpfung durch die Magersucht gedeutet, und wieder kommt das eigentliche Thema nicht ans Licht. Doch während eines therapeutischen Kinder- heimaufenthaltes beginnt Simone Dräger ihre innere Entwicklungsgeschichte aufzu- schreiben, um diesem Unsagbarkeitsgeschehen auf die Spur zu kommen.

Als sie siebzehn Jahre alt ist und wieder zu Hause lebt, hört ein Freund der Familie zufällig eine Radiosendung über den „selektiven Mutismus“, der damals wie heute noch recht unbekannt ist. Da hat der fehlende kommunikative Kompaß plötzlich einen Namen, und Simone Dräger erfährt eine treffende Diagnose für ihre „seltsame“ Wesensart.

Eine Therapie mit Antidepressiva, welche neurochemisch die erhöhte Streßreaktion dämpfen, die mit dem Mutismus einhergeht, lehnt sie wegen der möglichen schädlichen Nebenwirkungen ab.

Kurz erklärt sie die drei bisher bekannten offiziellen Mutismustherapien (SYMUT, KoMut, DortMut), entscheidet sich selbst jedoch für einen eigenwilligen, inoffiziellen Therapieweg.

Simone Dräger überwindet sich dazu, an einem Schauspielkurs teilzunehmen, was schwierig für sie ist, aber gleichwohl ein förderlicher Schritt in Richtung Selbsttherapie. Tapfer bewirbt sie sich bei diversen Schauspielschulen, fährt selbständig in fremde Städte und stellt sich den Aufnahmeprüfungen. Dies führt zwar nicht zu einer Aufnahme an einer Schauspielschule, aber sie verfolgt immerhin zum ersten Mal zielstrebig und aktiv ein Ziel, das ihr entspricht, und sie gewinnt an Lebenserfahrung.

Sie erforscht und analysiert die unterschiedlichsten Sprechsituationen in Hinsicht auf den Mutismus-Mechanismus, arbeitet eine Weile mit einer Logopädin, beleuchtet ihre „Sprachbehinderung“ mit systemischer Familientherapie und nimmt Ballettunterricht.

Dieser Ballettunterricht mit seiner körperlichen Disziplin verhilft ihr zu neuen, spielerischen Bewegungs- und Verhaltensmustern, die ihr Selbstbewußtsein und Körpergefühl stärken.

Nach ausführlicher Selbstreflektion kommt Simone Dräger für sich zu der Schluß- folgerung, daß der Kern des Mutismus weniger in der Sprechblockade liegt, sondern im Verlust des Selbst, im schlagartigen „Leerwerden“ in als bedrohlich empfundenen Situationen. So ist es elementar wichtig, den roten Faden zum eigenen Selbst zu finden und möglichst zu halten, trotz äußerer Einflüsse.

Sie erläutert einige Hilfswerkzeuge, die sie sich erarbeitet hat. Der Mutismus läßt sich zwar nicht wegzaubern, aber man kann lernen, MIT ihm zu leben.

Mutismus ist eine wenig bekannte Krankheit. Der Zugang des vorliegenden Buches zum Mutismus ist beeindruckend authentisch, informativ und konstruktiv. Für Mutismusbetroffene, Angehörige und Menschen im päda- gogischen, sozialen und psychologischen Arbeitsfeld ist es eine Erweiterung oder Ergänzung ihrer Kompetenz, und für sonstige Leser ist es eine Lektüre, die dazu anregt, das „Krankheitsbild“ überhaupt erst einmal in seiner Besonderheit wahrzunehmen und mehr Toleranz, Sensibilität und Verständnis für diese extreme Form der Schüchternheit zu entfalten.

Simone Dräger gibt dem Mutismus ein Gesicht, indem sie sich ihm auch öffentlich stellt. Durch das Mutismusforum wurde sie zusammen mit zwei weiteren Mutisten für einen Mutismusartikel in der Zeitschrift Brigitte interviewt, und sie nahm auch an einer WDR-Fernsehdokumention    https://youtu.be/4o-KSZ2PADo  zum Thema Mutismus teil.

Außerdem führt sie eine eigene Webseite zum Thema:  https://mutismusseite.jimdofree.com/


          

 

Die Autorin:

»Simone Dräger, geboren am 22.02.1986 in Solingen.
Aufgrund des Mutismus war ihr bisher keine Berufsausbildung möglich. Jedoch begann sie 2003 ihre Geschichte aktiv aufzuarbeiten, sich durch starke Selbstreflexion, mit Tagebucheinträgen, Ballett und Logopädie immer mehr an den Kern der Sache heranzuarbeiten, um sich selbst und anderen Menschen aufzuzeigen, wie man einen Weg MIT dem Mutismus gehen kann.«
Die Mutismus-Webseite der Autorin :      http://mutismusseite.jimdo.com/

Weiterführende Links:

https://www.mutismus.de/   Forum und Info

https://www.selektiver-mutismus.de/     StillLeben e.V. Info Seite

https://www.fk-reha.tu-dortmund.de/zbt/de/home/index.html
(Beratungsstelle und Therapie)

https://de.wikipedia.org/wiki/Mutismus

 

 

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42 Kommentare zu “Das Mundschloss

      • Autismus allgemein ist ein Verhaltensmuster, das ich auf der einen Seite interessant fand, seit ich es entdeckte und andererseits hundsgemein finde (für die mehr oder weniger stark Betroffenen). Ich war zudem eine zeitlang von Mutismus passiv betroffen und das ‚Leerwerden‘ in Prüfungssituationen kenne ich ebenfalls zum Teil. Nun wird dieses Buch bzw. das darin enthaltene Praxiswissen einer offenbar sehr guten Beobachterin, möglicherweise partiell in eine Dis einfließen können (mit Quellangabe). Für diesen Fall würde ich dir einen Hinweis senden.

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      • Die Autorin erklärte mir gegenüber, daß es zwar einige gemeinsame Aspekte mit Autismus gebe, sich jedoch ihrer Ansicht nach der Mutismus durchaus von Autismus unterscheide.
        Simone Dräger ist die Tochter einer Freundin, und wenn ich ihr mitteile, daß ihr Buch als Informations- oder Referenzquelle zu Rate gezogen wird, wird sie das begrüßen.
        Gegebenenfalls könnte ich auch einen e-postalischen Kontakt herstellen, falls dies dienlich wäre.
        Du hast gewiß gesehen, daß die Autorin sich hier im Kommentarschweif auch immer wieder selbst zu Wort meldet und Fragen beantwortet …

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  1. Liebende Ulrike

    Ich war gestern einem Freund gefällig mit einer Behinderten Sonderbegabten Gruppe als
    Begleiter unterwegs
    Dabei auch ein Autist
    Zwei mal war er aus der Gruppe entwichen
    Dabei hat Er eine Intensität des Erlebens die Mich nicht unsensibel
    Als stumpf erscheinen lässt
    Sind doch viele Menschen graduell Mutisten
    Und das was Wir unverstanden Schicksal nennen
    Karma meint kann auch solch ein Verhalten erklärlich werden lassen
    Ungeheilte Angst
    Erlittenes Ungemach
    Hier auf Erden
    Ist zugleich der Heilungsort
    Mit und Füreinander
    Vertrauen wieder schenkend
    Menschwerdung Neu erschaffend

    danke
    Dir Joachim von Herzen

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  2. Ich hatte über Mutismus schon mal in einem Fernsehbeitrag etwas erfahren … es ging um Kinder, die (ich weiß nicht mehr warum) verstummt waren und nicht sprachen … und es ging um Therapien, um sie sozusagen wieder zum Sprechen zu verführen.
    Ich sehe Parallelen zu mir als Kind, mir fehlten außerhalb des vertrauten Raumes auch oft Worte, und es war furchtbar für mich. Heute geht es mir viel besser: ich akzeptiere, dass ich mich im Mittelpunkt nicht wohl fühle und keine Menschenmengen mag, und richte mein Leben entsprechend ein. Wenn ich sprechen will, dann kann ich.
    Meine Hochachtung für Simone und ihr Ringen um ihr Leben.
    Liebe Grüße
    Christiane

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    • Liebe Christiane,
      danke für Deine Resonanz.
      Wenn Du sprechen kannst, wenn Du WILLST, dann bist Du nicht mehr im Griff des Mutismus-Mechanismus.
      So wie Simone es in ihrem Buch beschreibt, entzieht sich der Sprechimplus der Willenssteuerung, gewissermaßen ist dann NIEMAND mehr da, der sprechen oder wollen könnte …
      Was Du von Dir erzählst ist eher Hochsensibilität.
      Mutismus kann mit Hochsensiblität verknüpft sein … vielleicht äußert sich Simone später in einem Kommentar noch einmal genauer dazu …

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      • Ich kann jetzt. Ich konnte früher durchaus nicht, da wollte ich dann nur noch WEG! oder so, auf jeden Fall raus aus der Aufmerksamkeit, die auf mich gerichtet war, weil ich … irgendwas … sagen (oder tun) musste.
        Mich würde ein/der Zusammenhang zwischen Mutismus und Hochsensibilität interessieren, denn dass ich auf diesem Weg zumindest war, halte ich durchaus für möglich. Danke!
        Liebe Grüße
        Christiane

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      • Vom Gefühl her, würde ich vermuten dass Übergänge da fließend sind. Leider bin ich nicht so belesen zum Thema Hochsensibilität. Merke aber durch Erzählungen von anderen Menschen, dass Mutisten sehr feinfühlig und sensibel sind und sehr viel mitbekommen, was andere schonmal vergessen. Zum Beispiel bei Besuchen bei anderen Leuten (wenn es dazu kommt) dass man irgendwelche Details stärker mit bekommt als manche Leute, wie Gerüche, Stimmungen, wer was gesagt hat, Beschaffenheit der Räume…auch dass man dieses viel länger behält und länger braucht um das zu verarbeiten und alles viel ernster nimmt wohingegen manche das viel schneller vergessen und nicht so wichtig nehmen.
        Lange habe ich auch gar nicht gewusst, dass „Smal talk“ nur zum warm werden ist. Vieles ist mir aber auch erst im Laufe der Zeit aufgefallen, da man sich ja nur so kennt, wie man ist und meint, dass es bei anderen auch so ist. Man braucht auch manchmal länger um Eindrücke zu verarbeiten, wenn z.B. fremde Leute da waren oder man irgendwo war, dauert das bis man wieder „runter kommt“.
        Zum Thema Mutismus … habe auch oft gehört, dass viele Kinder generell ängstlicher sind und auf verschiedene Sachen reagieren … wahrscheinlich ist einfach das ganze System empfindsamer und erregbarer.

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  3. Eine wundervolle Buchbesprechung über ein äusserst interessantes Buch. Ich hatte mich schon ewig gefragt, warum die meisten wirklich guten Schauspieler introvertierte Menschen sind und auf der Bühne aufblühen. Im Grunde erklärt diese Frau in ihrem Kampf den Weg aus ihrer Stille. Es ist sehr beeindruckend!

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  4. Das ist in der Tat noch unbekannt. Wenn ich anderen davon erzähle, weiß niemand was selektiver Mutismus ist.
    Genauso war ich als Kind und niemand und auch ich nicht, gab dem einen Namen. Ich war stumm, ich konnte nicht reden. Im Kindergarten dachten alle ich wäre stumm. Viele Kinder fragten, warum ich nichts sage. Es war furchtbar, dieser Zwang: du musst reden! Nur zu Hause war ich ein völlig „normales“ Mädchen.
    Irgendwann lernte ich einigermaßen damit umzugehen. Mit den Ängsten und Zwängen durchs Leben zu gehen, mir immer zu sagen: sieh was du geschafft hast! Du hast es dennoch überlebt!
    Trotzdem, bis heute bin ich so, eben bisschen anders als die anderen. Nur im Schreiben kann ich mich austoben und im eigenen familiären Umfeld .
    Nun gut, eines Tages gab es diesen Namen. Denn mein drittes Kind von Vieren, hat das auch. Sie wird bald 12. Und sie war extrem, noch stummer als ich. Ja, sie bewegte sich auch nicht mehr. Völlig versteift, sagte nichts mehr und verschwand in sich. Beim Therapeuten erfuhr ich die Bezeichnung. Da ich wusste, wie schlimm das für einen ist, dieser ständige innere Kampf, wusste ich sehr gut damit umzugehen. Sie kam auch auf eine Sonderschule. Sie musste nicht reden, niemand sagte, komm aus dir raus. Auch im Kindergarten, da wurde über Körpersprache kommuniziert. Das nahm ihr den Druck. Für jeden Erfolg lobte ich sie.
    Heute ist sie ein aufgewecktes Mädchen mit vielen Freunden, frech, manchmal aufmüpfig, aber hin und wieder kommt der Mutismus durch. Bei einer Aufführung mit ihrer Klasse hatte es ihr die „Sprache verschlagen „. Sie konnte nichts mehr sagen und stand mit gesenktem Kopf da, Haare verdeckten ihr Gesicht. Der Lehrer war klasse, er sprang ein und sprach für sie.
    Es war ein ganz schrecklicher Moment für sie.
    Jetzt derzeit macht sie noch Therapie und auch ihre Therapeutin sagte, ich sollte eigentlich auch eine machen. Sogar als ich im Supermarkt mein Praktikum vor kurzem gemacht hatte, erkannte der Chef, dass ich zu ängstlich bin und Therapie machen sollte. Aber irgendwie sträube ich mich dagegen, weil ich denke, ich bin so wie ich bin: Schüchtern Ruhig Zurückhaltend
    Danke für diesen Eintrag !

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    • Liebe Pearla-Nixa,
      ich danke Dir für Deinen sehr interessanten, persönlichen Bericht, der das Thema Mutismus auch um eine transgenerationelle Ebene ergänzt.
      Ich verstehe gut, daß Du Deine ruhige, schüchterne und zurückhaltende Wesenart nicht „umtherapieren“ lassen möchtest.
      Warum sollen alle GLEICHFÖRMIG, psychisch-genormt sein sein? Ruhigsein kann doch auch einen ausgleichenden Gegenpol zum Lautsein darstellen.
      Gleichwohl kann Therapie auch so wirken, daß sie einem dazu verhilft, die individuelle Wesenart besser „verteidigen“ zu können und mehr Handlungsspielraum zu entwickeln.
      Vielleicht wäre die Lektüre des Buches „Das bleibt in der Familie“
      für Dich erhellend: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/08/07/das-bleibt-in-der-familie/
      Mit herzlichem Gruß
      Ulrike

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  5. Liebe Ulrike,

    eine als Thema und als Rezension ungemein interessante Lektüre und dadurch, dass es sich um einen ganz konkreten Fall mit einem ganz bestimmten Menschen dahinter handelt, der auch noch selbst darüber berichtet, ein sehr persönliches, sehr packendes und nachdenklich machendes Buch!

    Mir imponiert es gerade, mit wie viel innerer Stärke, mit wie viel Willen und wie konsequent die Autorin und Betroffene Simone Dräger dem Phänomen auf der Spur ist, sich mit ihrer Krankheit Mutismus auseinandersetzt und ihre eigenen Wege probiert, um Erleichterungen, um Verbesserungen zu erreichen oder für sich akzeptable und machbare Lösungen zu finden.
    Das ist fantastisch, denn ich denke mir, dass selbst bei augenscheinlich gleicher Diagnose Betroffene so unterschiedlich sind, dass gar nicht immer jedem mit einem einzigen, ganz bestimmten Therapieansatz von außen geholfen wäre.
    Sie tastet sich hingegen selbst Stück für Stück vor und reagiert entsprechend. Koste es auch erhebliche Überwindung! Gerade diese Eigeninitiative müsste im Fall von Mutismus doch ganz entscheidend für persönliche Fortschritte und ein leichtes, partielles Aufweichen der Starre sein. (Mein Empfinden – ich bin kein Arzt, ich stelle es mir lediglich so vor.)
    Für mich ist es auch absolut nachvollziehbar, dass eine Bühne ein komplett anderes Terrain ist, welches Geist, Körper und Seele auch als etwas ganz anderes empfinden als die reale Auftrittsfläche. Die Bühne ist der Spielplatz. Ist in gewisser Weise ein Ausprobierfeld. Das Feld, auf dem man nicht für die reale Person, die in einem steckt, bewertet wird. Das Wesen der Bühne stellt zudem jemand anderen dar und insofern hat es dort auch nicht die Probleme, die der reale Mensch dahinter hat. Das Wesen dort schützt (gefühlt) in gewisser Weise sogar den realen Menschen. Dementsprechend abweichend ist die Reaktion des Körpers und das, was die Sinne wahrnehmen, aufnehmen, was sie weiterleiten. Daraus erfolgt letztendlich womöglich eine völlig andere „Ausschüttung“ von Hormonen und anderer beeinflussender Stoffe. Die „Hemmer“ und „Mundschließer“ verlieren dann massiv an Einfluss.

    Liebe Grüße!
    Michèle

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    • Liebe Michèle,
      hab‘ DANK für Deinen überaus feinfühlig-differenzierten und ausführlichen Kommentar.
      Was Du über die Bühne als Spielplatz schreibst, ist genau das, was Simone mir erklärt hat, als ich mich darüber wunderte, wie ungehemmt sie auf der Bühne und vor Publikum singen, tanzen und sprechen sowie ausgesprochen extrovertiert in eine Rolle schlüpfen kann.
      Simone Dräger erarbeitet sich wirklich unermüdlich ihr persönliches „Mundwerkszeug“, um ANWESENDER in der Welt sein zu können.
      Herzlich grüßt
      Ulrike

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      • …das ist in der Tat für mich so (für viele andere Künstler wohl auch, was man so hört), dass die Bühne ein ganz anderer Raum ist … oder auch die Probesituation usw. So ganz frei, bin ich in allen Sachen auch noch nicht, aber das gibt es durchaus.
        Ja, man ist eine andere Person, gleichzeitig aber auch stark mit sich verbunden und noch größer. Man kann vieles sein und doch nicht 😀 Für mich ist das irgendwie auch die einzige „Türe“, wo es etwas gibt, wo ich mich entwickeln kann oder das ausentwickeln kann, was in mir liegt.

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  6. Die Stringenz mit der sich die Autorin sowohl tapfer als auch hartnäckig ihrer Angst nähert beeindruckt mich ungemein… was für Voraussetzungen für ein Leben in persönlicher Freiheit… es klingt nach einem bemerkenswerten Lebensweg, der vielen Lesern Achtsamkeit im Umgang mit Anderen lehrt und Betroffenen Mut macht… gerne unter dem Weihnachtsbaum gesehen…
    😀

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  7. Beeindruckend.
    Aber auch irgendwie bedrückend.

    Was für ein bisheriges Leben der ja immer noch sehr jungen Autorin.

    Da werde ich fast sprachlos…
    Aber doch nicht ganz…

    Und WAS für eine einfühlsame Buchbesprechung!

    Liebe Herbstregengrüße vom Lu an euch beide

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    • Lieber Lu,
      für mich ist das erstaunlichste an Simone, daß sie sich auf der Bühne total FREI bewegen und ausdrücken kann – das habe ich mehrfach mit ihr erlebt, und das ist wirklich ein sensationeller Unterschied zur Alltagsbühne.
      Wenn ich auf eine große Bühne sollte, dann würde ich mich sofort unsichtbar machen, denn ich bin total bühnenschüchtern.
      Danke für Deinen facettenreichen Kommentar.
      Herbstblätterwindgewimmelte Grüße von Ulrike

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      • Das ist natürlich seeehr interessant, liebe Ulrike, erscheint mir aber seeehr paradox!
        Dennoch ist das natürlich ganz wundervoll, dass es so bei ihr ist…

        Als ich mal einige Jahre Privatdozent für Mathematik an einer Uni war, da habe ich wie natürlich Vorlesungen vor über 1000 Maschineningenieur-Studenten abgehalten, war also sozusagen voll in meinem Element…

        JETZT dagegen kann ich mir das nicht einmal mehr vorstellen, bin bühnenscheuer denn je geworden, vllt weil mein Grundvertrauen in die Menschen fast gänzlich verschwunden ist?!

        Herzliche Herbstgrüße von mir zu dir,
        dein Lufreund

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      • Lieber Lu,
        als Kind habe ich gerne und viel gesungen, jedoch einfach nur so oder zusammen mit meiner Mutter, die auch gerne gesungen hat und mir viele Kinderlieder vorträllerte.
        In der Grundschule sollten wir Kinder einzeln dem Lehrer VORSINGEN, da hatte ich schon Tage vorher Bauchschmerzen, habe widerwillig ein Lied ausgesucht und unter absolutem Streß vorgesungen.
        Zur Belohnung durfte ich dann in den Schulchor. Dort habe ich aus stillem Protest nur den Mund bewegt und keinen Ton mehr von mir gegeben, und das ist bei mir bis heute so geblieben.
        Ich bin total gesangsverklemmt und bühnenscheu, kann aber neidlos die Bühnenleistung anderer bewundern.
        Mein Grundvertrauen in die Menschen läßt ebenfalls zu wünschen übrig.
        Herzliche Gutenachtgrüße von mir zu Dir
        Ulrike 🙂

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      • Das hat mir richtig wehgetan, liebe Ulrike, zu lesen von deiner Gesangsmetamorphose…

        Bei mir war das alles anders herum, ich war als kleiner Mann in der Schule total gesangsverklemmt, sang nur einmal au clair de la lune vor und verschloss dann ab da meinen (Sing)Mund…

        Und nun singe ich als großer Mann seit vielen Jahren schon herzhaft in diversen Chören als Bassist mit und es tut meiner Seele so gut wie kaum etwas anderes…

        Herzliche Herbstgrüße von mir zu dir, du besondere, dein Lufreund

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      • Lieber Sänger-Lu,
        vielleicht tröstet es Dich ein wenig, wenn ich Dir mitteile, daß ich eine hingebungsvolle Hinhörerin bin und spüren kann, wie etwas in meiner Kehle still mitschwingt, wenn andere Menschen singen. Meine Atmung wird dann auch oft tiefer …
        Ich verstehe also durchaus, daß Dich das Singen seelisch beflügelt …
        Ganz herzliche Gutenachtgrüße von mir zu Dir * 🙂 *

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  8. Noch nie zuvor habe ich von dieser Krankheit gehört. Doch für die Betroffenen ist dieses Buch sicherlich sehr hilfreich, dient es der Aufklärung und dem gegenseitigen Verständnis. Danke für deinen Lesetipp. Lieber Gruss Erika

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    • Liebe Erika,
      da ich die Autorin persönlich kenne, war es mir ein besonderes Anliegen, andere für diese speziellen Daseinsbedingungen zu sensibilisieren, und auf eine authentische STIMME zum Thema Mutismus hinzuweisen.
      Deine und auch die anderen bisherigen Reaktionen zeigen mir, daß dies hier gut funktioniert.
      Danke für Deine Aufgeschlossenheit!

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  9. Danke liebe Ulrike,
    für den liebevollen Hinweis, was das Leben für Herausforderungen an einige Mitmenschen stellt. Vor der Autorin habe ich alle Achtung! Ihr Mut weicht den Mutismus auf, schenkt den Betroffenen eine Stimme und uns die Möglichkeit zu tiefem Mitgefühl.
    Herzlich Heidrun

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    • Liebe Heidrun,
      ich bin mir sicher, daß Deine einfühlsamen Bemerkungen eine weitere Ermutigung für Simones selbsttherapeutische Entwicklung und kommunikative Radiuserweiterung sind. Danke für Deine Herzensresonanz 🙂

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      • Danke für´s Augenöffnen! Ich kannte Mutismus nämlich noch nicht. Als biographischen Ausdruck lese ich das lieber, als wie als psychotherapeutisches Fachwissen. Das eine vermittelt den Herzbezug zu Betroffenen und das andere erreicht oft nur den Verstand.

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  10. Das ist wieder einmal eine hochinteressante Leseanregung. Über die Existenz von Mutismus habe ich übrigens das erste Mal auch in einem Blogbeitrag gelesen. Da soll einer sagen, dass Bloglesen nicht bildet ! Sehr spannend finde ich, wo da wohl die Abgrenzung zur Schüchternheit liegt, vielleicht ist es auch ein fließender Übergang ….

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    • Oh ja, Bloggen bildet durchaus, liebe Myriade!
      Die Frage zum Unterschied bzw. Übergängen zwischen Schüchternheit und Mutismus kann Simone wohl selbst am besten erklären.
      Ich habe mit ihr verabredet, daß sie gegebenenfalls bestimmte Kommentarfragen selber beantwortet …

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    • Hallo Myriade,
      das ist tatsächlich eine interessante Frage wo genau das eine in das Andere eingeht. Ich sehe das so, dass beim Mutismus, diese „Schüchternheit“ sich einfach nicht auflöst, auch wenn man sich schon eventuell „Jahre“ kennt. Auch dass man ganz klar diese „zwei Seiten“ hat: also zu Hause ganz anders ist (frei, gelöst, so wie man ist), aber „woanders“ immer zu einer sehr steifen und starren Person wird und ziemlich lange und viel über die ganzen Situationen nachdenkt.
      Natürlich ist man unter Menschen anders, als „zu Hause“ und hat immer wieder andere Facetten, aber dazu kann es gar nicht kommen, weil man immer in den gleichen anstrengenden, verspannten und „Sprachproblemzustand Zustand“ hinein gerät. Man ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass man wirklich Teilhaben kann an der Situation und dass man dabei „aufschmelzen“ kann. Der Mechanismus löst sich nicht so recht. Es kann mal durchkommen, aber dann beim nächsten mal schon wieder da sein.

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      • Oh, hallo Simone, vielen Dank für die Antwort.
        Mich interessiert dieser Übergang, weil ein sehr lieber Freund mir einmal erzählt hat, dass er in Phasen seines Lebens extrem schüchtern war. Er hat das so geschildert, dass er wenn er angesprochen wurde, sich darüber so geschreckt hat, dass er den Inhalt der Frage gar nicht mitbekommen hat und damit auch nicht adäquat reagieren konnte.

        „Man ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass man wirklich Teilhaben kann an der Situation und dass man dabei “aufschmelzen” kann.“ Das erinnert mich sehr daran.

        Nochmals vielen Dank und Hut ab vor der Überwindung, die es sicher ist so ein Buch zu schreiben.

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      • Das Phänomen, dass man die Frage gar nicht versteht, obwohl derjenige gerade vor einem steht, kommt mir auch bekannt vor… auch in Gruppensituationen, dass man einfach gedanklich gar nicht folgen kann, was geredet wird, weil da so eine Sperre im Kopf ist oder man so abgetrennt ist von allem, dass man zum Beispiel auf Fragen, wie denn die Meinung zu irgendetwas ist, gar nicht antworten kann. Entweder man konnte nicht den Gesprächen folgen oder kommt gefühlsmäßig gar nicht mit, ist so gesperrt … ja, manchmal erschreckt man sich besonders, wenn man gerade dran ist und kommt dann noch in einen zusätzlichen Stress, vorallem weil man sein „Problem“ ja auch verstecken will.

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  11. Von dieser Krankheit habe ich noch nie etwas gehört – dabei begegnet vermutlich jeder irgendwann solchen ‚unkommunikativen‘ Menschen, die einfach den Mund nicht auftun vor Unbekannten. Wenn ich es mir recht überlege, hatte ich möglicherweise einen Betroffenen als Klassenkameraden. So gehen wir durchs Leben…
    Umso wichtiger, dass Du an dieser Stelle dieses Buch und damit diese Krankheit vorstellst. Wir sollten achtsamer durchs Leben gehen, achtsamer vor allem gegenübet unseren Mitmenschen.
    Vielen Dank und liebe Grüße
    Kai

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      • Liebe Ulrike,
        sehr gerne – aber Dein Hinweis auf dieses Buch und damit auf diese Krankheit (vielleicht Schüchternheit im Allgemeinen) war auch ein wirklich guter Anstoss. Sowas braucht man ja ab und an. Und Achtsamkeit im Umgang miteinander vernachlässigen wir doch allzu häufig, ich muss mich da ganz sicher auch an die eigene Nase packen…
        Liebe Grüße
        Kai

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