Sturmvögel

  • von Manuela Golz
  • Roman
  • DUMONT Verlag, Mai 2021 www.dumont-buchverlag.de
  • gebunden
  • mit LESEBÄNDCHEN
  • 336 Seiten
  • 22,00 € (D)
  • ISBN 978-3-8321-8137-6

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H E R Z E N S G R Ö S S E

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Gleich zu Beginn des Romans lernen wir die Hauptfigur Emmy als charakterstarke, gütige und lebensreife Frau kennen. Auf Veranlassung ihrer besorgten ältesten Tochter absolviert sie im Anschluß an einige Voruntersuchungen einen Besuch bei einem bekannten Herzspezialisten. Dieser Dr. »Grünschnabel« begrüßt Emmy nicht, schaut nur auf seinen Bildschirm, fachsimpelt von Sinusbradykardie und Pacemaker, und erst nach Emmys energischer Aufforderung, ihr bitte in einfachen Worten zu erläutern, was ihr denn fehle, schaut er sie an und bemüht sich um eine verständliche medizinische Erklärung.

Der Arzt erläutert, daß Emmys Herz zu langsam schlage und daß ein Herzschrittmacher ihr Herz sozusagen wieder flotter machen könne. Emmys Antwort sagt so viel über ihr Wesen und ihre Lebenseinstellung aus, daß ich sie nachfolgend gerne zitiere:

»Junger Mann, woran soll ich denn sterben, wenn mein Herz nicht einfach stehen- bleiben darf? Ich bin fast siebenundachtzig Jahre alt und hatte ein gutes Leben. So wie alle Menschen mit Höhen und Tiefen, aber insgesamt doch ein wirklich gutes. Ich habe das Gefühl, am Ende eines langen Weges wohlbehalten angekommen zu sein. Was will ich denn noch?« (Seite 16)

Durch Emmys Erinnerungsrückblenden erlesen wir diesen bisherigen Lebenslauf. Sie wird 1907 auf einer Nordseeinsel geboren. Ihre Eltern lieben sie, der Vater fördert den Wissensdrang seiner ältesten Tochter und läßt sie sogar zur Schule gehen, da er der Mei-nung ist, daß Bildung die Menschen mündig mache. Die Familie kommt über die Runden, aber eine Schiefertafel mit Schwämmchen ist nicht finanzierbar. Um die Begeisterung des Kindes für Buchstaben und Zahlen nicht zu enttäuschen, lassen die einfallsreichen Eltern Emmy alternativ auf einem Stück festgeklopften Sandbodens ihre Schreib- übungen machen.

Der rege Geist und die kommunikative Direktheit des Kindes sprengen die engen Regeln des dörflichen Daseins. Der Erste Weltkrieg zwingt den Vater an die Front. Die Mutter erkrankt und stirbt mit 34 Jahren. Emmy meistert mit den Geschwisterkindern den Haushalt und die kleine karge Landwirtschaft. Doch als auch der Vater stirbt, werden die Kinder getrennt. Emmy, die schon 14 Jahre alt ist, wird als Dienstmädchen in einen vornehmen Haushalt nach Berlin vermittelt.

Emmy ist zunächst untröstlich, wird jedoch von der Köchin des Hauses freundlich und fürsorglich behandelt und in ihre Aufgaben eingewiesen. Das Großstadtleben im Berlin der Zwanziger-Jahre lacht Emmy gewissermaßen an, und sie fügt sich aufgeschlossen in ihr neues Soziotop.

Sie verliebt sich, heiratet, bekommt drei Kinder, verkraftet schmerzlich auch den Zweiten Weltkrieg, pflegt eine innige, lebenslange Freundschaft mit ihrer ersten Hebamme, und als ihre eigenen Kinder erwachsen sind, nimmt sie ein Pflegekind, zu dem sie eine tiefe Wahlverwandtschaft spürt, bei sich auf. Sie arbeitet als Küchenfrau in einer Kantine und führt in finanzieller Hinsicht ein bescheidenes Leben. Es ist jedoch eine zufriedene Bescheidenheit, denn Emmy schätzt zwischenmenschliche Verbunden- heit, alltägliche Freuden und einfache Genüsse, die gerne auch in kulinarischer Form erscheinen dürfen.

Es gibt allerdings ein altes Familiengeheimnis, das sie noch in Ordnung bringen will. Dies tut sie auf gewohnt pragmatische und sehr überraschende Weise …

Die Autorin stellt die Stimmung und den Zeitgeist der unterschiedlichen Erzählzeit- räume sehr atmosphärisch und detailreich sinnlich-abschmeckbar dar. Die Charak- terportraits der mit Emmy verbundenen Menschen sind von lebhafter Anschaulichkeit und psychogrammatischer Präzision. Es gibt eine Menge filmreifer Szenen und ebenso anrührende wie amüsante, heiter-schlagfertige Dialoge.

Emmy ist eine Persönlichkeit, die Schicksalshärten erleidet, jedoch selbst nicht ver- härtet, sondern sich ihr offenes Herz, ihre selbstbewußte Eigenwilligkeit und ihren Humor bewahrt. Tapfer bleibt sie sich selbst treu und verankert ihre Fähigkeit dazu in der unbedingten Liebe, die sie in der Kindheit von ihren Eltern erfahren hat.

»Auf einmal hatte Emmy den Pfeifengeruch ihres Vaters in der Nase. Hatte ihn vor Augen, sein Lächeln, und hörte seine Stimme sagen: Vergiss nie, dass du von uns sehnsüchtig erwartet und immer geliebt worden bist. Diese Liebe, das tiefe Gefühl, erwünscht gewesen zu sein, trug sie durch schwere Zeiten. Wenn sie nur an ihre Eltern dachte, fühlte sie sich gewärmt.« (Seite 242)

Emmy ist ein bemerkenswert authentischer Charakter, der sofort Sympathie weckt. Sie ist eine Person, mit der man gerne befreundet wäre oder vielleicht sogar verwandt. Der Roman ihres Lebens ist eine einfühlsame biographische Würdigung und zugleich ein glaubwürdiges persönliches Panorama deutscher Geschichte.

 

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https://www.dumont-buchverlag.de/buch/golz-sturmvoegel-9783832181376/

Die Autorin:

»Manuela Golz, geboren 1965, studierte Germanistik, Erziehungswissenschaften und Psychologie. Sie lebt in Berlin und arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Psychotherapeutin. 2006 debütierte sie mit ›Ferien bei den Hottentotten‹ als Autorin. Ihr neuer Roman ›Sturmvögel‹ ist vom Leben ihrer Großmutter Emmy inspiriert.«

 

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28 Kommentare zu “Sturmvögel

  1. Liebe Ulrike,
    Auch ich würde nach Deiner Vorstellung Emmy gerne persönlich kennenlernen. Die Art und Weise, wie sie dem Arzt (und vielleicht auch dem gesamten medizinischen System) begegnet beweist, daß sie sich selbst kennt und weiß, was sie will.
    Würdest Du mir verraten, ob in dem Roman Möwen eine Rolle spielen, oder ist der Titel nur sinnbildlich zu verstehen?
    Lieben Gruß,
    Tanja

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    • Liebe Tanja,
      es freut mich, daß Dir Emmy nach meiner Vorstellung ebenso sympathisch ist wie mir. Emmy ist in der Tat eine Frau, die sehr selbstgenügsam mit sich im Einklang ist und sich keinerlei Bevormundungen gefallen läßt – auch keine medizinischen.
      Möwen spielen keine Rolle in diesem Roman. Der Titel Sturmvögel bezieht sich auf die Lebensphase auf der Insel und Emmys Vater, der Walfänger ist. Die heil an Land wiederkehrenden Seeleute wurden dort Sturmvögel genannt.
      Herzensgruß von mir zu Dir 🙂

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  2. Zunächst die Einschränkung: solch rundum überlegene Charaktere, die sich von Kriegen und Verlusten nicht aus der Bahn werfen lassen, wirken unglaubwürdig. Wie die Autorin das statthaft vermitteln will ist nun eine spannende Frage.
    Nun ist es freilich so, zum anderen, dass wir alle eben diese Leute kennen, die über Not und Verzweiflung zu einer inneren Stabilität gelangt sind (die anderen, die es aus der Bahn warf, gabs und gibts ebenso). Dass wir diese Menschen unter unsere Vorfahren, direkt oder indirekt, zählen können.
    Das bringt uns die Protagonistin wieder näher, bleibt die Frage, wie die Autorin das Kunststück geschafft hat, das ebenso lebensnah wie lebenswirklich rüberzubringen.

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    • Da muß ich deutlich widersprechen!
      Emmy ist keineswegs ein überlegener Charakter. Sie ist ein gereifter, lebensweiser und liebevoller Charakter mit Sinn für Humor. Sie erlebt Krisen und erfährt Verlust und Schmerz, aber sie wächst an den Herausforderungen des Schicksals. Gewiß haben Menschen, die ihren Schmerz heilen können und ihre Liebesfähigkeit bewahren, Seltenheitswert – heutzutage vielleicht sogar noch mehr, da es so wenig erwachsenene Erwachsene gibt und so viele, die in unerfüllten kindlichen Liebesbedürfnissen feststecken, die dann zu diversen neurotischen und narzisstischen psychischen Verzerrungen führen.
      Die Autorin hat das Leben ihrer Großmutter – jedenfalls in meinen Augen – einfühlsam und lebensecht dargestellt.

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      • Wenn sie das geschafft hat, wie im letzten Satz geschrieben, und wenn sie die Entwicklung über die Zeit und die Schicksalsschläge und Lebensphasen hinweg nachvollziehbar aufbaut ist es gut. Genau das, was viele Romane – in knappe Kurzgeschichten paßts ja nicht rein – vermissen lassen, leider.

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  3. Klingt schön, was ich von Dir zu diesem Buch lese, liebe Ulrike. Ich werde mir den Titel merken und mal sehen, vielleicht lese ich es tatsächlich noch. Im Moment liegt mir ein anderes am Herzen, aber danach… 🙂
    Liebe Grüße von Bruni an Dich

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  4. Danke fürs rezensieren.
    Solche Menschen dürfte es ruhig ein bisschen häufiger geben. Es wäre ein gutes Mittel, die Verbissenheit der heutigen Zeit etwas aufzuweichen.
    Glücklich kann sich schätzen, wer einen solchen Menschen als Wegbegleiter hat. So wie die Autorin, kann ich mich glücklich schätzen und bin dankbar dafür, dass mit WoMoline ein solcher Mensch vor 14 Jahren in mein Leben getreten ist und mich seither begleitet.

    LG, der WoMolix war da 😉

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    • Und ich danke für Dein aufmerksames Lesen und Deine Zustimmung zu Emmys Wesensart. Schön, daß Du für Dich eine Partnerin gefunden hast, die ebenso stark, authentisch und liebesfähig ist. Die zufriedene Bescheidenheit und charakterstarke Selbstgenügsamkeit, die Emmy vorlebt, sind gewiß ein heilsames Gegengewicht zu den häufigen narzisstischen Persönlichkeitsdeformationen der heutigen Zeit.
      Herzliche Grüße von
      Ulrike 🙂

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      • Das hast du sehr schön formuliert; ich danke dir dafür.
        Und für die Begrifflichkeit: „narzisstische Persönlichkeitsdeformation“ als Beschreibung für den aktuellen Zeitgeist, müsstest du eigentlich einen Preis bekommen. 😉

        LG, der WoMolix war da 😉

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  5. Das klingt alles so lebendig und wahr und ist ein Rück-Spiegel auch auf unsere deutsche Geschichte, wie sie im Einzelnen wirklich war. In dieser Weise sollte unsere Geschichte auch wieder aufgearbeitet und ins Bewustsein gehoben werden. Es geht hier doch um hohe sittliche (ethische)Werte, die nicht verlorengehen dürfen. Ich habe es auch auf meinem Blog sichtbar gemacht.

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  6. Auch ich bin von Deiner Rezension begeistert, liebe Ulrike; Nicht nur wegen der sehr sympathischen Protagonistin, sondern auch der Darstellung einer Zeitgeschichte, die einem so nahe ist, andererseits inzwischen entfernt, da sich die Welt so schnell ändert. Liebe Grüße an Dich, Barbara 💦🦦💦

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    • Herzensdank, liebe Barbara, für Deine doppelt zugeneigte Resonanz auf die Hauptfigur und die zeitgeschichtlichen Aspekte des Romans.
      Da ich nicht über solch ein oberputziges Fischotter-Emoji verfüge wie Du, winkegrüße ich Dich sehr herzlich mit Grünzeug 🌿🌿🌿

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    • Es freut mich, lieber Michael, daß meine Buchempfehlung so leseverführerisch ist und ich danke für die guten wochenendlichen Wünsche. Dir ebenfalls ein heiteres Wochenende! 🙂

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  7. Es sieht ganz danach aus, als hättest du mit der liebenswürdigen Hauptpersönlichkeit dieses Romans mühelos Freundschaft geschlossen. Und das ist ja auch eine gute Voraussetzung für eine solche Zeitreise. Dass man jemanden hat, dem man vertrauensvoll durch eine derartige Geschichte folgen kann. Damit wird es, denke ich, auch möglich, eine sehr spannende Perspektive darauf zu bekommen, wie der rote Faden eines (im umfassendsten Sinne) menschlichen Lebens sinnvoll in die unterschiedlichsten Hintergründe eingewoben werden kann, mögen sie äußerlich auch noch so verschieden sein von dem, was wir heute kennen.

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    • Verbindlichen Dank für Deine feinfühlige Leserückmeldung. Mit Emmy war ich in der Tat sogleich innerlich auf Du und zwar schon bei ihrer Arztmuffeligkeit „Warum soll ich meine kostbare Zeit bei einem Arzt verschwenden?“ (Seite 11) – das hätte von mir sein können. 😉
      Aber auch viele andere Eigenwilligkeiten und ihre sehr bewußte Dankbarkeit für die erhofften und unverhofften Geschenke des Lebens sind sehr ansprechend. Diese Lektürezeitreise durch ein knappes Jahrhundert deutscher Geschichte am Beispiel eines unaufdringlichen Frauenlebens vermittelt einen lebhaften Eindruck historischer Daseinsbedingungen.

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Sie dürfen gerne ein Wörtchen mitreden, wenn's konveniert!