Zwischenzeit

  • von Natalie Berghahn
  • Roman
  • WESTKREUZ Verlag 2016, www.westkreuz-verlag.de
  • Broschur
  • 224 Seiten
  • 19,90 €
  • ISBN 978—3-944836-29-4

Zwischenzeit
NACHBARSCHAFTEN  UND WAHLVERWANDTSCHAFTEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Dieser Roman setzt sich aus einem spannenden Figuren- und Perspektivenmosaik zusammen, dessen Zentrum die eigenbrötlerische Johanne und ihr Refugium bilden. Da Johanne zu Beginn des Romans sehnsüchtig auf die alljährliche Wiederkehr der Mauer-segler wartet, deren luftige Anmut sie bewundert, wage ich zunächst eine Vogelperspek-tive auf die Romanszenerie.

Aus dieser erhöhten Sicht zeigt sich eine alte Siedlung am Stadtrand. Das Haus von Johanne und das ihrer unmittelbaren Nachbarin Eva verfügen noch über die ursprüng-lichen großen Gärten, während die anderen Grundstücke inzwischen durch einige neue Häuser bauverdichtet und entsprechend kleingartig ausfallen.

Eva hat Alzheimer und unzählige Katzen. Kontaktfreudig bietet sie jedem Passanten eine Hausbesichtigung an. So spricht sie auch Juan an, einen illegalen Einwanderer aus Ecuador, der nach einem Streit mit seiner deutschen Freundin auf der Suche nach einem vorübergehenden Schlafplatz ist. Er nimmt die Einladung ins Haus an, ist aber nicht angetan vom desolaten Zustand des Haushalts, und als Evas mobiler Pflegedienst eintrifft, versteckt er sich flugs im Garten. Dort entdeckt er ein Gartenhäuschen, das seinen Bedürfnissen genügt, und richtet sich dort ein.

Etwas entfernter, aber doch in fußläufiger Nachbarschaft lebt Petra recht gutbürgerlich mit ihrem Mann. Petra hat nach schmerzlich unerfüllt gebliebenem Kinderwunsch ein Pflegekind aufgenommen. Die achtjährige Brinda wurde aus der Obhut ihrer psycho-tischen Mutter genommen, doch der Schatten der mütterlichen Wahnvorstellungen und Ängste „vor der Strafe der Engel“, deren obskure Vorschriften man befolgen müsse, wirkt  nach und erschwert Petra den Herzenszugang zu Brinda. Vielleicht ist es aber auch Petras eigene Liebesbedürftigkeit, die dem traumatisierten Kind nicht angemessen gerecht werden kann.

Nun nähern wir uns Johanne: Johanne spricht fünf Fremdsprachen und kennt die latei-nischen Namen von Pflanzen und Tieren, aber sie hat große Probleme, mit Menschen zu sprechen. Selbst einfache zwischenmenschliche Begegnungen bedeuten für sie Angst und Unsicherheit. Ihre seltsam verzögerte kommunikative Reaktionszeit führt zu pein- lichen Mißverständnissen, die dann wiederum den Streß erhöhen. Deshalb meidet sie Menschen weitmöglichst, verhält sich meist mürrisch abweisend und einsilbig, wenn sie angesprochen wird, und möchte vom – wie sie es nennt – „Sprech“ am liebsten verschont bleiben.

Dabei ist Johanne durchaus selbstreflektiert und bedenkt ihr Anderssein und ihre kommunikative Phasenverschiebung recht selbstironisch mit folgenden Worten:  „Ein Strickfehler in Johannes Kopf, eine Laufmasche im Hirngespinst sozusagen, eine von vielen.“ (Seite 53)

Am besten versteht sie sich mit Tieren und Pflanzen. Sie lebt sehr zurückgezogen, in einem alten Haus, das sie von ihrer Großmutter geerbt hat, kultiviert selbstversor- gerisch ihren großen Garten, hält eine kleine Schar Hühner und pflegt einen drei- pfotigen Igel, den sie als Unfallopfer auf der Straße gefunden hat. Das wenige Geld, das sie braucht, verdient sie sich mit der polyglotten Übersetzung diverser Spielanleitungen.

Gelegentlich zieht sie nachts los und macht mit Hilfe eines sehr scharfen Jagdmessers – die Klinge besteht aus zweiundreißiglagigem Damaszenerstahl – die Straßen igelsicher und die Autoreifen platt.  

Deshalb ist sie, neben ihren üblichen Ängsten – „schimmelige Haustierangst und grelle Planetenangst“ -, auch entsprechend erschrocken, als zwei Polizisten bei ihr anklopfen. Doch sie erkundigen sich bloß, ob Johanne zufällig ein Kind aus der Nachbarschaft ge- sehen habe. Dieses Kind sei seinen Pflegeeltern weggelaufen und man vermute, daß es sich irgendwo in der Nähe versteckt habe. Davon hat Johanne – bis auf die Suchplakate – nichts mitbekommen, und nachdem die kriminalistische Begutachtung von Johannes Gartenschuppen auch nichts ergeben hat, verabschieden sich die Polizisten wieder.

Johanne hat aber durchaus gemerkt, daß sich in ihrem Schuppen nicht alles am rechten Platz befindet und schaut später noch einmal nach, wobei die das vermißte Mädchen entdeckt. Nach dem ersten Schreck lädt Johanne das Kind einfach zum Mittagessen ein. Erstaunlicherweise funktioniert die Kommunikation in diesem Fall ziemlich reibungslos. Johanne empfindet Brinda nicht als Störenfried, und Brinda weiß die unaufdringliche Fürsorge Johannes zu schätzen.

Juan, der vom Fenster „seines“ Gartenhäuschens schon gelegentlich neugierige Blicke auf Johanne geworfen hat, möchte den Versuch wagen, die spröde Schöne zu verführen. Er pflückt einen Blumenstrauß und klopft an Johannes Tür. Sie ist keineswegs empfäng- lich für seinen Charme, aber sie bietet ihm immerhin einen Brennesseltee an. Langsam wird es voll in Johannes Einsiedlerleben.

Später bringt dann noch ein sympathischer, einarmiger Tierschützer mit dem Internet-spitznamen „Mauersegler“ einige aus einem Tiertransporter befreite Hühner vorbei. Denn Johanne hatte sich zuvor angeboten, diese armen Hühner aufzupäppeln.

Die Situation wird immer komplizierter und verwickelter, indes – so viel darf ich verraten –  löst sich alles passabel auf. Brinda und Petra kommen auf dem Umweg über Johanne zu einer ersten echten Annäherung und Vertrauensbasis, und schließlich wird sogar Brindas Geburtstag in Johannes Garten gefeiert, und es scheint, als keime langsam auch für Johanne ein erfreulicher Zuwachs an möglicher zwischenmenschlicher Nähe und Verbundenheit.

Bei diesem Roman ist die einfühlsame, sehr stimmige Figurenzeichnung besonders her- vorzuheben und zu loben. Dieses lebhafte Panoptikum außergewöhnlicher Charaktere, die ebenso in biografischen Rückblenden wie aktuellen Verhaltensmustern dargestellt werden, transportiert vielfältige Sichtweisen auf das Leben, stellt so manche Selbstver- ständlichkeit in Frage und weitet den Horizont für jene Menschen, deren Daseinsvor-aussetzungen beängstigend, schwierig und verletzlich oder schlicht etwas schräg und seltsam sind.

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.westkreuz-verlag.de/de/zwischenzeit

 

Die Autorin:

»Natalie Berghahn, geboren 1966, ist gelernte Kinderkrankenschwester und lebt mit ihrem Sohn und zwei Pflegekindern am Rand von Hamburg. Sie hat ein Faible für Tiere, Gärten und ungewöhnliche Geschichten.«
Hier entlang zu weiteren Informationen rund ums Buch auf Natalie Berghahns Blog: „FUNDEVOGELNEST- GEFUNDENES UND ERFUNDENES“ https://fundevogelnest.wordpress.com/about/

Querverweis:

Johannes kommunikative Blockade hat mich stark an das noch wenig bekannte Phänomen des selektiven Mutismus erinnert. Daher bietet sich ergänzend „Das Mundschloß“ von Simone Dräger an. Dieses Buch ist ein autobiografischer Bericht über das Leben mit selektivem Mutismus, einer Krankheit aus dem Autismusspektrum, die es den Betroffenen sehr schwer macht, in kommunikativen Kontakt zu kommen.
„Wie soll ein Mensch sich weitersagen, wenn die Anwesenheit unvertrauter Menschen oder das Betreten ungewohnter Räume so viel Angst auslösen, daß sich das wahre Selbst ver- schließt, der sprachliche Ausdruck blockiert und der Körper beinahe erstarrt ist, während das Denken krampfhaft darum kreist, irgendwie doch noch passende Worte und soziale Gesten hervorzubringen, ja, schließlich sogar das Denken verschwimmt und nur noch das Überleben eine Rolle spielt? Das ist mehr als „normale“ Schüchternheit, das ist selektiver Mutismus.“ https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/11/09/das-mundschloss/

 

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29 Kommentare zu “Zwischenzeit

  1. Liebe Ulrike, mich hast du mit dieser feinen Rezension auch gewonnen, steht nun auf der Wunschliste. Und passt zu meinem heutigen Beitrag: Nischenliteratur vortrefflich. Ich füge mal noch einen Link hinzu!
    Herzliche Grüße
    Ulli

    PS: Ich musste dir heute erneut folgen, warum auch immer noch, ich bekam keine Benachrichtigungen mehr von dir.

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    • Liebe Ulli,
      es freut mich für mich, daß Dir meine Rezension gemundet hat und es freut mich für Natalie, daß Du ihr Buch auf Deine Wunschliste gesetzt hast. Verbindlichen Dank auch für die Verlinkung.
      Herzensgruß von mir zu Dir 🙂

      PS: Das sind die üblichen WordPress-Pannen, die mir auch schon passiert sind. Meist merkt man es selber, wenn längere Zeit keine Beiträge mehr von den gewohnten Blogs kommen.

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  2. ‚Zwischenzeit‘ scheint mir eine einfühlsame Skizze auf die Bewohner der alten Siedlung zu sein. – Grad sind die Mehlschwalben zurückgekehrt mit Geschichten aus dem Süden. So könnte wohl meine Skizze beginnen… Danke liebe Ulrike für die Buchvorstellung und herzliche Grüße, Susanne

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  3. Liebe Ulrike, ich bin sehr gerührt und dankbar für diese schöne Rezension, nachdem das Buch doch nun schon fünf Jahre alt ist 😉
    Danke auch für den interessanten Querverweis.
    Für mich ist Johanne die, die ich vielleicht geworden wäre, wenn ich nicht an ein paar entscheidenden Abzweigungen großes Glück gehabt hätte …

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    • Liebe Natalie,
      ich freue mich, daß Du Dich über meine Rezension freust. 🙂
      Beim Lesen hatte ich bereits vermutet, daß Johanne eine gewisse Wesensverwandtschaft zu Dir aufweist. Und ich denke außerdem, daß mein Querverweis bei Dir gut aufgehoben ist.

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  4. Das klingt nach einem wundervollen und lehrreichen Roman. Die Mischung der Charaktere mit ihrem Ausschnitt aus der Bandbreite menschlichen Lebens, wobei jedes einzelne seinen Sinn hat/erfüllt, macht offen für die Vielfalt – sofern man es nicht schon ist. Mich berührt dabei auch die Verwobenheit der gesamten Natur inklusive des Menschen, die zu Heilung und Sinnerleben führen kann.

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    • Lieben Dank für Dein reges Leseinteresse.
      Dieser Roman bietet in der Tat eine beachtliche Artenvielfalt eigenwilliger Charaktere und schräger Situationen sowie die Gelegenheit, jenseits gängiger Komfortzonen Wege zur Heilung zu finden.

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  5. Nach Natalies Blogtexten zu schließen, ist das sicher eine ebenso gut geschriebene wie herzerwärmende Geschichte. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich mir nicht schon längst ein Exemplar besorgt habe. Eine gute Initiative von dir !

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    • Schön, daß ich Dich mit meiner Besprechung nun zum Erwerb von Natalies Roman bewegen konnte. Du kannst das Buch übrigens auch direkt bei Natalie bestellen, wenn Du dem unter der Rezension verlinkten Hinweis auf Natalies Blog folgst.
      Die Initiative ging hinter den Blogkulissen von einem Herrn aus Wien aus, der mir „Zwischenzeit“ sozusagen ans rezensorische Herz legte und mir ein Exemplar zukommen ließ.

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  6. Ein charmantes Geschichtengewebe. Und ich bin mir sicher, dass dieser Roman nicht nur dank der Mauersegler und scharfen Klingen seinen Weg ins Bücherfeenherz gefunden hat. 😉 Musikalisch gesprochen kommt es mir vor, als würden hier diejenigen Instrumente, die im Sinfonieorchester meist mehr Pausen als Noten zugeteilt bekommen, ihre eigene Kammersinfonie aufführen. Mit originellen Melodien, die sich – vielleicht über teilweise dissonante Umwege – in feinen Harmonien aufeinander einstimmen. Dazu passt für mich auch die Aura des Titelbildes mit dem zwar stacheligen aber nicht kratzbürstig wirkenden Gesellen. 🙂

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    • Verbindlichen Dank für Deinen schönen musikinstrumentalischen Vergleich, der dem Personalpotpourri und auch den tierischen Nebenfiguren dieses Roman gut entspricht. 🙂
      Dieses Buch wurde hinter dem Rücken der Autorin von einem mit ihr befreundeten anderen Blogger an mich „herangetragen“ …
      Meine persönliche Zuneigung zu Mauerseglern und meine berufliche Tätigkeit im Deutschen Klingenmuseum und der damit verbundene Bezug zu KLINGEN im allgemeinen und besonderen sind zufallschoreografische Zugaben. 😉

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      • Immerhin sind die zufallschoreographischen Zugaben von einer Art, dass dieses Buch für dich doch fast schon so etwas wie ein Heimatroman ist. 😉 😀
        Auch eine feine Zugabe ist übrigens, dass deine Rezension zeitlich schön mit dem Einsatz der Mauersegler in der tierweltlichen Jahreszeitenpartitur harmoniert. 🙂

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  7. Liebe Ulrike, das ist ja ein spannender bunter Reigen von Menschen ! Und mir gefällt die Entwicklungsvorschau, daß dem Extremen „den Wind aus den Segeln genommen wird“ und Heilsames passiert. Romane sagen mir im Allgemeinen nicht so zu. Aber dies hier ist ja auch keine „gewöhnlicher“ Roman … in ähnlicher Form gibt es auch solche Menschen ! Herzlicher Gruß, Elli

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    • Vielen Dank, liebe Elli, für Deine leseneugierige Rückmeldung. „Zwischenzeit“ ist in der Tat kein klassischer Roman, sondern eher eine unkonventionelle, psychogrammatische Mixtur mit therapeutischen Prisen.
      Herzlicher Gruß auch von mir zu Dir

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