Sophie Scholl: Es reut mich nichts

  • Portrait einer Widerständigen
  • von Robert M. Zoske
  • Propyläen Verlag, November 2020 www.ullstein.de
  • gebunden, mit Schutzumschlag
  • 448 Seiten
  • 24,00 € (D), 24,70 € (A)
  • ISBN 978-3-549-10018-9


LICHTGESTALT  AUS  FLEISCH  UND  BLUT

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Heute, am 9. Mai 2021, jährt sich Sophie Scholls 100. Geburtstag.

Wegen Widerstandes, Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und Hochverrats gegen den NS-Staat wurden Sophie Scholl, ihr Bruder Hans Scholl und weitere Mitstreiter zum Tode verurteilt. Sophie Scholl starb am 22. Februar 1943 mit nur 21 Jahren durch das Fallbeil.

Sophie Scholl war aktiv beteiligt an der Finanzierung, Materialbeschaffung und Her-stellung der regimekritischen Flugblätter der Münchner Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ und hatte mehrfach bei der Versendung und Verteilung dieser Flugblätter mitge- wirkt. Sophie und Hans Scholl waren dabei erwischt worden, wie sie Flugblätter im Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität München abwarfen, wenig später wurden sie verhaftet.

Die vorliegende Biografie von Robert M. Zoske zeichnet einfühlsam-nachspürend Sophie Scholls Lebensweg, ihre emotionale und geistige Entwicklung nach sowie ihre Wandlung vom regimekonformen BDM-Mädchen hin zur bedingungslosen Widerstandkämpferin.

Gleich zu Beginn zitiert der Autor ausführlich aus der Anklageschrift des Reichsanwalts Albert Weyersberg, wodurch ihm eine gute Einstimmung in den damals vorherrschen- den Zeitgeist gelingt. Erst danach folgt eine chronologische Nacherzählung von Sophie Scholls Leben: Familie, Kindheit, Schulzeit, Freundschaften, Liebschaften und Schwärme- reien, unzählige BDM-Pflichten und Arbeitsdienststunden für das Räderwerk von Diktatur und Propaganda, Ausbildung zur Kindergärtnerin, rege Briefwechsel, Beginn des Studiums von Philosophie und Naturwissenschaften und schließlich der intellek- tuelle Widerstandskampf durch aufklärerische Flugblätter.

Beiläufig vermittelt das in dieser Biografie ausführlich und detailreich dargestellte All-tagsleben unter der nationalsozialistischen Diktatur einen erschreckend lebhaften Ein-druck der umfassend durchstrukturierten systematischen Inanspruchnahme jedes Ein-zelnen sowohl in praktisch tätiger als auch propagandistisch organisatorischer Hinsicht.

Sophie Scholl erscheint facettenreich, komplex, widersprüchlich, ebenso empfindsam wie tapfer, verspielt und tiefernst, begeisterungsfähig und todessehnsüchtig, unkonven- tionell und angepaßt, stark und schwach, asketisch und hingebungsvoll, christlich und mythisch-naturverbunden. Sie legte großen Wert auf Freiheit und Selbstverantwortung, schwankte in Beziehungen zwischen zärtlicher Anhänglichkeit und distanzierter Unab-hängigkeit. Sie war sehr musikalisch, sang gerne und spielte Blockflöte, Gitarre und Klavier und interessierte sich auch für Malerei und Poesie. Eines ihrer Lieblingsbücher war Rainer Maria Rilkes „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“.

Sehr beeindruckend ist das hohe Maß an Selbstreflektion, die Ernsthaftigkeit der religiösen und ethischen Auseinandersetzung und Suche. Ihre niveauvollen schriftlichen Selbstzeugnisse sind auch in Anbetracht ihres zarten Alters erstaunlich.

Robert M. Zoske beschreibt Sophie Scholls Lebenslauf präzise und bietet eine plastische Darstellung mit vielen Einzelheiten; der Anhang mit Anmerkungen und Quelldokumen- ten ist 139 Seiten lang. Er interpretiert und deutet Charaktereigenschaften und Zusammenhänge nur mit achtsamer Zurückhaltung. Stattdessen läßt er Sophie Scholl häufig selbst zu Wort kommen.

Dank dieser zahlreichen Originalzitate aus Tagebüchern, Briefen und Aufsätzen erzeugt der Autor eine große zwischenmenschliche Nähe zu Sophie Scholl. Es ist manchmal fast so, als schauten wir ihr leibhaftig beim Schreiben über die Schulter. So wird die Heldin des Widerstands zu einem nahbaren Menschen. Sie begegnet uns auf Augenhöhe und kann uns Heutigen – ohne ikonografischen Idealisierungsheiligenschein – viel wirksamer ein Beispiel sein für Freiheit, Gerechtigkeitssinn, Selbstverantwortung, Widerstand und Zivilcourage.

„Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen, die mir aus meiner Handlungsweise erwachsen, auf mich nehmen.“
(Sophie-Scholl-Zitat aus dem Gestapo-Vernehmungsprotokoll vom 20. Februar 1943)

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/sophie-scholl-es-reut-mich-nichts-9783549100189.html

Der Autor:

»Robert M. Zoske, geboren 1952 in Schleswig-Holstein, ist evangelischer Theologe und Historiker der Widerstandsgruppe »Weiße Rose«. Bis 2017 arbeitete er als Pastor der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Er hat über Hans Scholl promoviert, 2018 erschien die viel beachtete Biografie Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Robert M. Zoske lebt mit seiner Frau in Hamburg.«

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32 Kommentare zu “Sophie Scholl: Es reut mich nichts

  1. Sophie Scholl und ihre Freunde beweisen uns heute, dass damals Widerstand möglich war. Nicht jeder war ein obrigkeitstreuer Mitläufer und mußte dann später peinlich berührt auf die NS-Zeit zurückblicken. So bleiben Sophie Scholl und ihre Freunde das Vorbild für die moderne wehrhafte Demokratie. Begangenes Unrecht muss fair wissenschaftlich aufgearbeitet werden, denn nur so ist gesellschaftliche Verbesserung hin zur Demokratie und internationalem Denken möglich. Gesellschaftliche Institutionen, Firmen, Vereine müssen ihre obrigkeitstreue Geschichte hinterfragen, um so demokratischer und antinational internationaler zu werden.

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  2. Wie glücklich können wir uns schätzen, dass wir so etwas derzeit nicht befürchten müssen. Umso wichtiger, dass wir uns immer wieder vor Augen führen, dass das eine wichtige Errungenschaft ist, die von vielen vor uns erkämpft wurde.

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  3. Klingt gut.

    „Einen erschreckend lebhaften Eindruck der umfassend durchstrukturierten systematischen Inanspruchnahme jedes Einzelnen sowohl in praktisch tätiger als auch propagandistisch organisatorischer Hinsicht. “
    Das zu vermitteln ist sicher sehr wichtig.

    Sie war sehr jung, aber es gab viele andere, die ihr Leben riskierten oder zumindest heftig umkrempeln mussten in dieser Zeit.
    Wenn ich an meine Heimatstadt etwa denke: Da wurden 16-Jährige in einem letzten örtlichen Widerstand eingebunden. Ihre Gräber sind am örtlichen Ehrenfriedhof zu sehen.

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  4. Es gibt wirklich viele Biographien über Sophie Scholl. „Das kurze Leben der Sophie Scholl“ in den 80er-Jahren im Ravensburger Verlag erschienen versuchte auch schon einen differenzierten Blick auf den Lebensweg Sophie Scholls. Wenn ich mich recht erinnere, wurde es von Inge Scholl stark kritisiert, die in dem Buch „Die weiße Rose“ ein eher idealisiertes Bild entwarf und Sophies anfängliche Begeisterung für den BDM unterschlug. Die Rezension für die neue Biographie von Zoske macht neugierig. Vielen Dank dafür! Gerade, weil sie ein Mädchen aus Fleisch und Blut, mit allem Enthusiasmus, allen Irrungen und Zweifeln war, die alle jungen Menschen umtreiben, bleibt ihr ungeheurer Mut unvergessen!

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    • Verbindlichen Dank für Deinen differenzierten Kommentar.
      Robert M. Zoske geht auf die idealisierte Darstellung Sophie Scholls durch ihre Schwester Inge Scholl ein. Er vermutet, daß sie unter dem zeitgeistigen Druck der deutschen Entnazifizierungsphase Sophie Scholls langjährige Mitwirkung im BDM verschwiegen hat.
      Ich denke, daß der größere zeitliche Abstand zum historischen Geschehen inzwischen eher erlaubt, menschliche Widersprüchlichkeit auch bei Helden und Heldinnen des Widerstands zuzulassen.
      Niemand wird als Mitläufer oder Widerstandskämpfer geboren. Es sind vielseitige und vielschichtige Einflußfaktoren, die einen Menschen eher zur gefälligen Anpassung oder eher zum eigenwilligen Widerstand geneigt sein lassen. Und auch der Mut ist – selbst bei möglichem, stillen inneren Widerstand – nicht bei allen Menschen gleich groß portioniert.
      Ich freue mich, daß meine Rezension Deine Leseneugier weckt.

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  5. Liebe Ulrike,
    für Deine Buchvorstellung zum Geburtstag von Sophie Scholl vielen Dank. Wie gut, dass es weitere Forschungen und Darstellungen gibt.
    Mein Gedenken war zunächst geprägt von Sophies und Hansens Schwester Inge Scholl, „Die weiße Rose“, im Taschenbuch bei Fischer.
    Nachher kamen die Filme dazu, zunächst mit Lena Stolze, dann mit Julia Jentsch – heute Abend in der ARD.
    Auch im Studium und in der Bildungsarbeit sowie biografisch war der gewaltfreie Widerstand der Weißen Rose gegen den Nationalsozialismus ein bleibendes Thema.
    So denke ich auch an Scholls Professor Kurt Huber und ihre Mitstreiterinnen.
    Vielen Dank und herzliche Grüße
    Bernd

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    • Lieber Bernd,
      hab‘ Dank für Deine zustimmende Rückmeldung zu meiner Buchempfehlung.
      Weitere Quellenforschung und eine entsprechend aktualisierte Darstellung von Sophie Scholls Entwicklung und auch von weiteren mit dem Widerstand der Weißen Rose verbundenen Personen bieten sich publikumswirksam besonders zu solchen Jahrestagen an – auch wenn ein solcher Widerstand durchaus ein zeitloses Thema ist.
      Für mich als Jugendliche waren das Buch „Das kurze Leben der Sophie Scholl“ von Herrmann Vinke sowie der Film „Die weiße Rose“ von Michael Verhoeven prägend. Die neue Verfilmung, die Du erwähnst, kenne ich noch nicht, aber das läßt sich ja leicht nachholen.
      Herzlich grüßt
      Ulrike

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  6. Heute, zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl, sprach ihr Neffe bei einer Kundgebung in München. Die Kundgebung fand zu ihrem Gedenken am Sophie Scholl Platz statt. Ich finde diesen Platz bemerkenswert, durch die in das Kopfsteinpflaster eingelassenen Flugblätter.
    Sophie Scholl war eine starke Frau, die für Freiheit und Gerechtigkeit einstand. Als Jugendliche war sie mir schon immer ein Vorbild und sie ist es noch immer.

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    • Vielen Dank für Deine erfreuliche Zusatzinformation über weitere Veranstaltungen zum Gedenken an Sophie Scholl. Ich wußte nicht, daß man Flugblätter der Weißen Rose dort ins Kopfsteinpflaster eingelassen hat – eine gute Idee, Geschichte auf Schritt und Tritt in Erinnerung zu rufen.
      Ich sah als Jugendliche den damals aktuell in die Kinos gekommenen Film „Die weiße Rose“ (1982) von Michael Verhoeven und war seinerzeit sehr beeindruckt davon.

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  7. Vielen Dank für diese interessante Empfehlung! Es klingt sehr spannend, auf so persönlicher Ebene zu erfahren, wie es unter den damaligen totalitären Bedingungen eben doch möglich war, sich gegen das System zu stellen und etwas zu unternehmen. Wie man als junger Mensch, der eigentlich hineingeboren wurde in die ganze Maschinerie, entscheidet, sein Leben selbstbestimmt ausrichten zu wollen. Ich werde das Buch bestellen, denn dies ist ein Thema, das ich dann auch gerne weitergeben möchte an meine Töchter. Danke und liebe Grüße aus Italien!

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    • Es freut mich, liebe Anke, daß meine Buchempfehlung bei Dir auf solch ein waches Leseinteresse und Wissenwollen trifft.
      Beispiele für Widerstand gegen Diktatur und Aufklärung gegenüber Propaganda sind nicht nur von historischem Interesse, sondern auch von sehr aktuellem Wert.
      Herzensdank für Deine Resonanz! 🙂

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  8. Eine schöne Geste, diese Rezension am heutigen Tag zu veröffentlichen. 🌸
    Es erscheint mir sehr wertvoll, wenn ein Portrait mit so viel liebevoller Sorgfalt gestaltet wird und die persönlichen Lebenszeichen der Portraitierten besonderes Gewicht erhalten. Dass „die Heldin des Widerstands zu einem nahbaren Menschen“ wird, wie du es so anschaulich formulierst, halte ich für essentiell. Dadurch kann Sophie Scholl für uns zur greifbaren Inspirationsquelle werden, wenn es darum geht, persönliche Integrität zu leben. Denn der „ikonografische Idealisierungsheiligen- schein“ ist ja recht eigentlich oft einfach ein Ablenkungsmanöver – man pflegt den schönen Schein, um ja nicht das eigene Sein mit etwas zu belasten, was halt doch manchmal eine gewisse Anstrengung erfordern würde…

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    • Gerne habe ich dem 100. Geburtstag von Sophie Scholl durch meine Rezension die Ehre gegeben. 🌸
      Hab‘ Dank für Dein zugeneigtes Leseecho und Deine Befürwortung der Aussagekraft persönlicher Zeugnisse im Rahmen einer Biografie.
      Mit mehr zwischenmenschlicher Nähe und ohne Idealisierungsheiligenschein finde ich es leichter, die Inspirationswirkung und zeitliche Reichweite von Sophie Scholls Freiheitsdrang, Integrität und Handlungsweise gegebenenfalls in eigenes Handeln umzusetzen.
      Idealisierte Menschen bleiben stets unberührbar und unerreichbar, echte Menschen haben eine wesentlich „ansteckendere“ 😉 Wirkung.

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  9. … das freut mich ja, hier etwas zu finden von einem Autor, den ich als solchen gar nicht kannte. Seine Frau war vor langer Zeit Pastorin in Altona; dort hatte ich damals manchmal Kindergottesdienste begleitet. Sehr vielen Dank für diese Buchvorstellung!

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    • Vielen Dank für Deine interessierte Rückmeldung.
      Wie klein die Welt bzw. wie tiefverknüpft das Leben ist, merkt man doch immer wieder an solchen Zufällen, wie dem, daß Du die Gattin des Autors als Pastorin kanntest.

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      • Ja… schön ist das, Ich bin nach ca. 20 Jahren wieder mit dieser Kirchengemeinde verbunden, die nun eine „Kulturkirche“ ist und deren Pastor Gottesdienste in dem Altenheim durchführt, in dem ich arbeite. Kleine Welt und große Welt. Da freue ich mich aufs Lesen; es ist ja großartig, ein Buch von jemanden zu lesen, dessen Ausstrahlung
        einem / einer präsent ist.

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  10. Liebe Ulrike, ich habe einige Zeilen von ihr im Radio gehört und war zutiefst berührt, was für eine weises Wesen Sophie hatte. Sie scheint mir aus einer anderen Zeitebene in die damalige gereist zu sein, als ob ihre Seele um ihre Ewigkeit wüsste – ein erwachter Mensch. Danke für Deine Arbeit und herzlichst aus dem sonnigen Norden, Iris

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    • Liebe Iris,
      verbindlichen Dank für Deine Resonanz und Deine feinfühlige Wahrnehmung der spirituellen Facetten Sophie Scholls.
      Nach der Lektüre dieser Biografie würde ich sagen, daß ihr Mut und ihre unbedingte Entschlossenheit sich gewiß aus einer unvergänglicheren Quelle speisten als „nur“ aus einem Leben. Gleichwohl kämpfte sie auch mit Angst und Unsicherheit.
      Aber so geht es ja allen Menschen, daß die Seelengröße die Persönlichkeit überragt und der Lebensweg zu Zeiten mehr und zu anderen Zeiten weniger konsequent dem Seelenziel folgt.
      Herzensgruß von mir zu Dir

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