Ich hab doch keine Angst!

  • Der kleine und der große Igel, Band 2
  • Text und Illustration von Britta Teckentrup
  • Verlagshaus Jacoby & Stuart, 2022 www.jacobystuart.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • Format: 21,5 x 28,5 cm
  • 32 Seiten
  • 14,00 € (D), 14,40 € (A)
  • ISBN 978-3-96428-130-2
  • Bilderbuch ab 3 Jahren

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ERMUTIGUNG  ZUR  ANGST

Bilderbuchrezension von Ulrike Sokul ©

Der kleine Igel, der im ersten Band (siehe meine Besprechung: Warte doch mal!) ein erfolgreiches Beispiel für kindliche Verzögerungstaktik hinsichtlich des Zubettgehens bot, wacht nun morgens auf, und der große Igel ist nicht anwesend. Zunächst sucht der kleine Igel rund ums Haus nach dem großen Igel, doch dort scheint er nicht zu sein. Der kleine Igel fürchtet sich und überlegt, ob der große Igel vielleicht im Keller sein könne. Auch der dunkle Keller ist etwas angsteinflößend, aber der kleine Igel sagt sich selbst, daß er keine Angst habe und geht langsam die Kellertreppe hinab.

Zum Glück kommt ihm dort schon der große Igel entgegen, und als dieser fragt, ob sich der kleine Igel geängstigt habe, antwortet der kleine Igel, erleichtert über das Wieder-finden,: „Ich hab doch keine Angst!“.

Die beiden Igel unternehmen einen Ausflug in den Wald und pfeifen dabei ein Lied. Viel-leicht pfeifen sie ein Lied, weil der Wald nicht nur schön, sondern auch „etwas unheim-lich“ ist. Allerdings wird es tatsächlich erst unheimlich, als sie spontan mit dem Pfeifen aufhören und das Lied trotzdem weitergepfiffen wird. Es zeigt sich daraufhin, daß eine Schar Vögel Gefallen am Igellied findet und dieses einfach weiterzwitschert. Sie ent-schuldigen sich beim kleinen Igel und versichern ihm, daß sie ihn nicht erschrecken wollten. Wieder antwortet der kleine Igel mit: „Ach was, ich hab doch keine Angst!“.

Die beiden Igel laufen weiter. Plötzlich wittern sie Fuchsgeruch, und der große Igel ruft dem kleinen Igel zu, er solle sich fest einigeln und den Hang hinunterrollen. So entkom-men sie der Gefahr. Der große Igel fragt beim kleinen Igel nach, ob er auch solch große Angst gehabt habe, doch der kleine Igel sagt wieder, wenn auch mit leiser Stimme, seinen Spruch von der Angstlosigkeit auf.

Die beiden geraten noch in weitere mehr oder weniger gefährliche Situationen, und stets wiederholt sich das Dialogmuster. Der große Igel vermutet zu Recht, daß der kleine Igel Angst gehabt habe, doch der kleine Igel verneint – wenig glaubwürdig – seine Angst.

Erst auf dem Weg nach Hause gibt der kleine Igel gegenüber dem großen Igel endlich zu, daß er doch Angst gehabt habe. Lächelnd bestätigt der große Igel den kleinen Igel mit den Worten: „Ich weiß, kleiner Igel, und das ist auch gut so.“ 

So vermittelt der große Igel dem kleinen Igel einfühlsam und fürsorglich, daß Angst manchmal berechtigt ist und zudem eine sinnvolle Schutzfunktion hat. Auch zuvor hat der große Igel bereits dadurch, daß er stets unbefangen seine eigene Angst zugab, dem kleinen Igel ein gutes Beispiel für eine angemessene und authentische Gefühlsreaktion geboten.

Auch der zweite Band vom großen und vom kleinen Igel bietet Kindern leicht zugäng- liche Identifikationsmöglichkeiten. Außerdem regen die beschriebenen Gefahren- situationen und die Angstverleugnung des kleinen Igels dazu an, mit Kindern zu besprechen, wie sie selbst eine ähnliche Situation empfinden würden, oder auch generell nachzufragen, wovor sie Angst haben, und einen konstruktiven Umgang mit der Angst zu finden.

Britta Teckentrup hat die zweite Geschichte vom großen und kleinen Igel illustratorisch in eine schöne Wald- und Stadtrandkulisse gebettet. Die gewissermaßen „pflanzen- echte“ Farbtönung und die abwechslungsreichen Lichteffekte sind sehr stimmungsvoll. Kleine Details, wie die auf fast jeder Seite umherkrabbelnden und fliegenden Ameisen, Falter, Grashüpfer, Käfer, Glühwürmchen, Vögel und ein munteres Eichhörnchen, laden von Seite zu Seite zum Wiederentdecken ein.

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.jacobystuart.de/buecher-von-jacoby-stuart/neuerscheinungen/ich-hab-doch-keine-angst/

Hier entlang zum ersten Band vom großen und kleinen Igel: Warte doch mal!

Die Autorin & Illustratorin:

»Britta Teckentrup, geboren 1969 in Hamburg, hat in London Kunst studiert. Nach siebzehn Jahren in England, während derer sie zahlreiche erfolgreiche Bilderbücher weltweit veröffentlichte, lebt sie heute mit ihrer Familie in Berlin. http://www.brittateckentrup.com/«

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Firmin

  • von Sam Savage
  • Aus dem Amerikanischen von
  • Susanne Aeckerle, Marion Balkenhol und
  • Hermann Gieselbusch mit Katrin Fieber
  • Ullstein Verlag 2006  http://www.ullstein.de
  • gebunden, mit Schutzumschlag und LESEBÄNDCHEN
  • 211 Seiten
  • 16,90 €
  • ISBN 978-3-550-08742-4
  • Taschenbuch Oktober 2009 List Verlag http://www.list-taschenbuch.de
  • 8,95 €
  • ISBN 978-3-548-60921-8
  • leider sind beide Ausgaben inzwischen restlos vergriffen
  • Ende März 2022 ist dieses außergewöhnliche Buch wieder neu aufgelegt worden. Siehe die entsprechende Verlinkung zur Ullstein-Verlagswebseite am Ende meiner Rezension.
    9783548609218_cover.jpg Frimin groß

NENNT  MICH  LESERATTE

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Ein sehr belesenes Buch!

Die kleine Ratte, die auf den Papierfetzen von „Finneganns Wake“, das Licht der Welt bzw. das Flimmerlicht einer Neonröhre im Keller einer Antiquariatsbuchhandlung erblickt –  das ist Firmin, der tierisch literarische Held des Romans von Sam Savage.

Wir schreiben die frühen sechziger Jahre, und die Buchhandlung befindet sich in einem heruntergekommenen Stadtteil, dem Scollay Square in Boston.

Firmin ist etwas zarter besaitet als seine zwölf Geschwister und bekommt zu wenig Rattenmuttermilch. Der Hunger treibt ihn dazu, Bücher anzunagen, und nach einiger Zeit entdeckt Firmin bei dieser Bücherdiät, daß er lesen kann.

Während seine Geschwister und seine Mutter das Nest verlassen, richtet sich Firmin, wissenshungrig und neugierig, in der Zwischendecke der Buchhandlung ein, beobachtet das Geschäftsleben, lernt die Stammkunden kennen, lauscht den Gesprächen der Menschen und verfolgt in der Zeitung die Pläne der Stadtverwaltung, den Scollay Square komplett abzureißen.

„Dieser Spalt in der Decke in Form eines C wurde einer meiner Lieblingsplätze. Er diente mir als Fenster zur Menschenwelt, mein erstes Fenster. Es glich einem Buch – man konnte dadurch in Welten schauen, die nicht die eigene waren.“ (Seite 49)

Firmin entwickelt eine leider gänzlich unerwidert bleibende Anhänglichkeit an den Ladenbesitzer Norman. Außerdem hofft er auf eine Seelenverwandtschaft mit Jerry, einem erfolglosen Schriftsteller, der in einer Wohnung im gleichen Haus lebt und der einen Roman über außerirdische und hochzivilisierte Ratten geschrieben hat.

Durch ausgiebige Lektüre und heimliche nächtliche Kinobesuche bildet sich Firmin weiter: „Mein Verstand wurde schärfer als meine Zähne.“ In seinen Tagträumen bewegt er sich auf Augenhöhe zwischen Charakteren aus den Klassikern der Weltliteratur und führt geistreiche Gespräche.

Firmin lebt ein einsames Leben, er ist der unbeobachtete Beobachter und der absolute Außenseiter. Seinen Artgenossen ist er zu humanistisch, und Menschen sehen nur ein Tier –  ja sogar Ungeziefer –  in ihm. Die Unmöglichkeit einer „zwischenmenschlichen“ Begegnung wird leidensgekrönt durch seine unglückliche Verliebtheit in Ginger Rogers:

Unerwiderte Liebe ist schlimm genug, aber unerwiderbare Liebe kann einen richtig fertig machen. Ich aß dann zwei Tage nichts. Ich las Byron. Ich las „Sturmhöhe“. Ich nannte mich Heathcliff. Ich lag auf dem Rücken. Ich betrachtete meine Zehen. Anschließend stürzte ich mich voller Energie in die Arbeit. Ich wurde Jay Gatsby. Ich war nicht unterzukriegen. Ich ging weiter meinen Geschäften nach. Äußerlich blieb ich der nette Typ, wer ahnte schon, dass sich in meiner Brust ein gebrochenes Herz verbarg?“  (Seite 83)

Firmins geistige Größe steht im krassen Gegensatz zu seiner wortwörtlichen Sprach- losigkeit, doch er sucht tapfer nach einer Möglichkeit, die Sprachbarriere zu über- winden. Schließlich kommt er auf die Idee, sich der Taubstummenzeichensprache zu bedienen, ein entsprechendes Handbuch hat die Buchhandlung auf Lager. Nach komplizierten Proben, in denen er unter Ganzkörpereinsatz eine menschliche Hand darzustellen versucht, reichen seine Fähigkeiten jedoch nur für zwei leserliche Zeichen: „Auf Wiedersehen“ und „Reißverschluß“.

Dieser verzweifelte Kontaktversuch geht ziemlich schief, aber Jerry findet den verletzten Firmin und adoptiert ihn als Haustier. So kommt die Leseratte zu geregeltem Frühstück mit Kaffee, zu abendlichem Rotwein und ungestörtem Lektüregenuß – nur zum ersehnten Gespräch kommt es nie. Alle Gedanken, klugen Antworten und kultivierten Bonmots bleiben verborgen in Firmins Kopf. So müssen auch wir Leser davon ausgehen, daß Firmin seine uns vorliegende Biographie eigentlich nur in Gedanken schreibt.

Die Lebensgeschichte Firmins wird wortgewandt, melancholisch und selbstironisch erzählt, und es wimmelt von literarischen Anspielungen, die eine nicht unbeträchtliche Belesenheit voraussetzen.

Ich bin sehr begeistert vom kleinen, großen Firmin!

Hier entlang zu Neuauflage als Taschenbuch für 13,99 €, erschienen Ende März 2022 bei Ullstein: https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/firmin-ein-rattenleben-9783548291543.html

Der Autor:

»SAM SAVAGE wurde in South Carolina geboren und lebt heute in Madison, Wisconsin. Er promovierte in Philosophie, unterrrichtete auch kurzfristig, arbeitete als Tischler, Fischer, Drucker und reparierte Fahrräder. FIRMIN ist sein erster Roman.«

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