Abschweifung Nr. 1

B U C H S T A B E N S U P P E

von Ulrike Sokul ©

Buchhändler handeln nicht nur mit dem gedruckten Wort, sondern sie pflegen auch vielseitigen, verständnisvollen Umgang mit der alltäglich gesprochenen Sprache. Und diese ist ein unerschöpflicher Quell für synaptische Querverbindungen der ausgesprochen vergnüglichen Art.

Da bestehen Schüler darauf, daß ihr Lehrer ihnen aufgetragen habe, das Buch „Angora“ von Max Frisch als Deutschlektüre zu erwerben oder gar den „Gallenstein“ von Schiller; ja selbst vor Goethes „Blutsverwandtschaften“ schrecken sie keineswegs zurück. Und auch Eichendorffs „Aus dem Leben eines Traudichnichts“ kann sie nicht entmutigen.

Sophokles‘ „Antigene“ erlauben tiefe Einblicke in ganz neue, fächerübergreifende Unterrichtsmethoden. Bertolt Brecht wiederum darf sich rühmen, mit seinem „Dreigroschenopa“ linkstypisch einen bitteren Vorgeschmack auf die Rentenaussichten aller im Buch- und Einzelhandel Berufstätigen auf die Bühne gebracht zu haben – und das lange vor den neoliberalen Arbeitsmarktverformungen.

Die Novellen „Das maskierte O“ und „Die Erdbeeren in Chili“ werden gewiß noch Generationen von Kleistkennern beschäftigen.

Ich bedaure, daß ich mir nur wenige dieser amüsanten Schöpfungen aufgeschrieben habe. Denn seit Anno Smartphone bekommt man oft gleich eine Ablichtung des gewünschten Buches präsentiert, und wieder sind unzählige Stilblüten vom sprachlichen Aussterben bedroht.

Expeditionen in die unendlichen Weiten kreativer Pluralbildungen sind ebenfalls spannend. Da tun sich viele Welten auf: Aus einem Globus werden dann wahlweise Globusse, Globanten oder gar Globuli.

Angesichts der Kundenfrage nach einem „Globus von Deutschland“ muß man sich allerdings ernsthaft fragen, was manche Leute unter Globalisierung verstehen.

Auch bei unaussprechlichen Autorennamen lassen sich kreativ-assoziative Pendants finden. Der polnische Autor „Andrzej Szczypiorski“, dessen Roman „Die schöne Frau Seidenman“ 1988 im Diogenes Verlag erschienen ist, bereitete uns und den Kunden viel Zungenbrechen. Eine Stammkundin, die den Roman von Andrzej Szyzypiorksi häufig kaufte, und die auch stets über die Aussprache dieses Namens stolperte, taufte ihn beim vierten Versuch einfach um und sagte schelmisch: „Ich möchte bitte noch einmal das Buch vom Herrn Seidenmann.“ Dankbar und erleichtert überna(h)men wir diese ausgesprochen raffinierte Lösung und verkauften ganz entspannt noch viele Bücher vom Herrn Seidenmann.

Ein weiteres Phänomen ist die Bedeutungseinebnung von Buchtiteln; die Titel ver- selbständigen sich durch ihren häufigen Sprachgebrauch so, daß man die wörtliche Bedeutung nicht mehr wahrnimmt.

So gibt es – wieder bei Diogenes  – eine Trilogie von Philipp Djian: Der erste Band heißt „Betty Blue“, der zweite „Erogene Zone“ und der dritte „Verraten und verkauft“. Unver- geßlich wird mir die Szene bleiben, in der ein Kunde den zweiten Band bei meinem Chef nachfragte. Da das verlangte Buch im Verkaufsregal fehlte und ich gerade eine Diogenes-Lieferung auspackte, rief mein Chef ganz unschuldig, aber lauthals durch den ganzen Buchladen: „Haben wir noch eine erogene Zone?“

Worauf meine Antwort so lautete: „Nicht nur eine…“

 

PS:
Für meine geringfügig weniger belesenen Leserinnen und Leser folgen hier die korrekten Buchtitel in der Reihenfolge ihres Textauftrittes:

Andorra     (Max Frisch)

Wallenstein     (Friedrich Schiller)

Die Wahlverwandtschaften     (Johann Wolfgang von Goethe)

Aus dem Leben eines Taugenichts     (Joseph von Eichendorff)

Antigone   (Sophokles)

Dreigroschenoper   (Bertolt Brecht)

Die Marquise von O…. und Das Erdbeben in Chili   (Heinrich von Kleist)

QUERVERWEIS:

Und hier geht es weiter zur Abschweifung Nr. 2: MEIN LIEBER SCHWAN
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/06/03/abschweifung-nr-2/

Sowie zur Abschweifung Nr. 3: BUCHGESICHTER
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2017/04/13/abschweifung-nr-3/

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