Glaube wenig – Hinterfrage alles – Denke selbst

  • Wie man Manipulationen durchschaut
  • von Albrecht Müller
  • WESTEND Verlag 2019 www.westendverlag.de
  • 9. Auflage 2020
  • Klappenbroschur
  • 144 Seiten
  • 14,00 € (D), 14,40 € (A)
  • ISBN 978-3-86489-218-9

GEISTIGE  IMMUNSTÄRKUNG

Buchbeipackzettel von Ulrike Sokul ©

 

 Was ist  das Buch „Glaube wenig – Hinterfrage alles – Denke selbst“ und wie wird es angewendet?

„Glaube wenig – Hinterfrage alles – Denke selbst“ ist ein Mittel zur Belebung, Förderung und Unterstützung und – in manchen Fällen – sogar der Reanimierung der geistigen Immunstärke und Gedankenfreiheit gegenüber weitverbreiteten medialen Manipu- lationsmethoden, strategischer Meinungsmache, Kampagnenjournalismus, PR-Gefälligkeiten und Propagandapraktiken.

Dieses Buch schärft den Blick und das Bewußtsein für den Wert von Demokratie, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Meinungsvielfalt, Respekt und unabhängiger Presse. Die demokratiewirksamen Informationsbestandteile und die entlarvenden Medienanalyen sensibilisieren für die sprachlichen und inszenatorischen Werkzeuge der massen- medialen Meinungsbeeinflussung und der von Machtinteressen gelenkten Irreführung und dienen der Aufklärung, Achtsamkeit, Vernunft und Selbstbestimmung.

Die Einnahme erfolgt buchstäblich durch aufmerksames Lesen, begleitendes Nach- und Mitdenken sowie persönliche Reflektion.

 

Wie ist das Buch zu lesen?

Für Erstleser empfehlen wir eine Lektüre im individuellen Lesetempo, mit wenigstens 50 Seiten täglich, so daß eine komplette Einnahme innerhalb von drei Tagen erfolgt.

Selbstverständlich wird diese Lektüre keineswegs verordnet, sondern sie geschieht absolut freiwillig und eigenverantwortlich

Zur geistigen Verarbeitung der aufklärenden Informationen zu bleibendem Wissen und zur vertiefenden neuronalen Verankerung ist eine zwei- bis dreimalige Wiederholung der Lektüre – gerne mit persönlichen Lesehaftzettelchen oder Textmarkierungen – sinnvoll.

Eine Leseüberdosis ist unbedenklich, außer wenn Ihnen die zahlreichen Erkenntnisse über massive Propagandapraktiken sowie ihre tatsächlichen Auswirkungen auf die Gestaltung gesellschaftlicher und wirtschaftspolitischer Rahmenbedingungen den Schlaf rauben.

Wir weisen darauf hin, daß diese Lektüre bei besonderer Denkeigenwilligkeit und bereits geübter medialer Mündigkeit besonders schnell und nachhaltig wirkt und das konstruktiv-kritische Urteilsvermögen gnadenlos schärft.

 

Woraus besteht „Glaube wenig Hinterfrage alles Denke selbst“?

Albrecht Müller, der Autor dieses Buches, diagnostiziert übersichtlich und komprimiert siebzehn gängige Methoden der Manipulation. Dazu gehören diverse Sprachregelungen und Sprachformeln – so werden Regierungen, die dem Westen mißfallen, bevorzugt als Diktaturen oder Regimes bezeichnet und die entsprechenden Regierungschefs wahl- weise Autokraten, Diktatoren, Machthaber oder Schlächter genannt.

Gerne kommen auch permanent wiederholte wertende Etikettierungsbegriffe zur Anwendung, die entweder positiv besetzt sind, wie beispielsweise Menschenrechte, Reformen, Wachstum, Exportüberschüsse, Zivilgesellschaft oder negativ geladene wie beispielsweise Reformitis, Populist, Linkspopulist, Rechtspopulist oder Querfront. Die einen Begriffe dienen der Seligsprechung, die anderen der Diffamierung. Und mit einer vorschußlorbeerigen, politisch-fürsorglichen Formulierung wie das „Gute-KiTa-Gesetz“ versteht dann auch noch der Dümmste, wie ein solches Gesetz zumindest theoretisch gemeint ist.

Weitere Methoden sind u.a. Verschweigen, Wiederholen, Übertreiben, die gleiche Botschaft aus verschiedenen Ecken aussenden, öffentliche Gesprächsrunden, in denen Meinungseintönigkeit vorherrscht, der Wippschaukeleffekt, Andeutungen und Halb- wahrheiten zur Wahrheit stilisieren, NGOs gründen und benutzen, Experten und Expertisen präsentieren, die eine erwünschte einseitige (alternativlose!) Ausrichtung vertreten und bestätigen, Personen willkürlich miteinander verknüpfen, um eine bestimmte Kontextualisierung, (Ab)Wertung und Stigmatisierung zu erzeugen, Konflikte zur Meinungsmache ausnutzen, aufbauschen oder inszenieren, der gezielte Einsatz von Emotionen und Angst … usw.

Der Methodendarstellung folgen anschauliche Beispiele für aktuelle und historische Fälle von Meinungsmache, Kampagnenjournalismus und rücksichtslose Irreführung im Interesse kommerzieller Kreise. Im Folgenden nun streiflichternd einige Musterexem-plare: Die medialen Kampagnen zur Senkung der Lohnnebenkosten, um angeblich mehr Arbeitsplätze zu schaffen, der endlos sowohl von öffentlich-rechtlichen als auch privaten Medien wiedergekäute demographische Wandel als Hauptargument für die Demontage und systematische Schwächung der solidarischen Gesetzlichen Renten- versicherung zugunsten privatwirtschaftlicher Versicherungskonzerne, die Umdeutung und Umformulierung der Finanzkrise von 2008 in eine Staatsschuldenkrise, für die der Steuerzahler brav aufkommen darf … usw.

Und hochaktuell: Die völlig gedankenlos-fortschrittsgläubige und verantwortungslose Forcierung der Digitalisierung von Kindheit und Bildung. Dieses fatale Bildungsexperi- ment mit kindlichen Versuchskaninchen steht im massiven Interesse kommerzieller Profiteure und keineswegs im Interesse kindlicher Bildungsförderung. Entsprechende warnende Stimmen von Neurologen und Psychologen werden jedoch sowohl von der Politik als auch von den Hauptmedien größtenteils ignoriert.

Dramatisch ist auch der westliche Konfrontationskurs gegenüber Russland. Hinsichtlich dieses politischen und medialen Feindbildaufbaus sollte uns die aktuelle Wiederbe- lebung bzw. Aufrüstung der Sprachformeln „Abschreckung“ und „Politik der Stärke“ eine deutliche Warnung sein.

Diese Meinungsbeeinflussungen und Denklenkungen geschehen vor dem Hintergrund starker Medienkonzentrationen sowie unter dem Einfluß diverser Journalisten und Chefredakteuere, die der NATO tief verbunden sind und dementsprechend ihre Wertungen vornehmen und verkünden. (Für wissenswerte Details dazu siehe: DIE ANSTALT vom 29.4.2014   https://www.youtube.com/watch?v=nX3urDVrwTE , ab Minute 36:10)

Die häufige Einseitigkeit und Unausgewogenheit massenmedialer Berichterstattung zeigt sich auch darin, daß der sich extrem vergrößernde Abstand zwischen Arm und Reich für die reichen Zeitungskonzerne und Medienhäuser allenfalls ein Nischenthema ist – so verengt sich der Artikulationsspielraum für die vielen einkommensschwachen Mitbürger und die faire Repräsentanz ihrer Anliegen.

»Wir haben Klassen-Medien und Klassen-Historiker – das zu erkennen ist ein wichtiger Lernschritt auf dem Weg zum Ziel, selbst zu denken.« (Seite 89)

»Diese Verschiebung verschärft eine immer schon erkennbare Schlagseite der demo-kratischen Meinungsbildung und politischen Entscheidungsfindung: Wer über viel Geld oder publizistische Macht verfügt, kann in viel größerem Maße als die normalen Menschen Einfluss nehmen. Diese Einflussnahme bezieht sich auf die Bildung der öffentlichen Meinung und auch schon auf die Bildung der veröffentlichten Meinung, also die Meinung der Medienmacher.« (Seite 18)

 

Was müssen Sie vor Einlesung des Buches beachten?

„Glaube wenig – Hinterfrage alles – Denke selbst“ sollte besser nicht eingenommen werden bei akuter Denkfaulheit und chronischer Leichtgläubigkeit, obwohl es gerade in solchen Fällen zu großen Erkenntnissprüngen kommen könnte.

Bei ängstlicher Überempfindlichkeit angesichts von fundierter Gesellschaftskritik und gegebenenfalls deutlichem Widerspruch zu den Narrativen der sogenannten Leitmedien kann es gelegentlich zu Kopfschmerzen, Übelkeit bis hin zu Ohnmachtsanfällen kommen.

Menschen, die gewohnheitsmäßig oder suchtartig nur seditativ-zerstreuende Unter-haltungsmedien und eintönige „Talkshows“ einnehmen, werden die hier enthaltenen unbequemen Denk- und Hinterfrageaufforderungen sowie die desillusionierenden aktuellen und historischen Medienanalysen schwer bekömmlich oder viel zu ernüchternd finden, um sich ernsthaft damit zu beschäftigen.

Bequemlichkeit, Engstirnigkeit, Ignoranz, Konformitätsbedürftigkeit und Untertanen- mentalität verhindern zudem ein Überschreiten der Geist-Hirn-Schranke und lassen keine ungewollten Erkenntnisse ins Bewußtsein dringen oder führen im Falle spurenelementarer Durchdringung zu kognitiver Dissonanz.

Besondere Vorsicht ist geboten bei Kapitalismusgläubigkeit und ausgeprägtem neo-liberalem Welt- und Menschenbild sowie naiver ÖRR-Hörigkeit; hier können drastische Intoleranzen, Klassenkampfallergien, das neuartige »Ein-Schimpfwort-Verschwörungs-theoretiker-Tourette-Syndrom« und Bluthochdruck auftreten bis hin zu lesensgefähr-lichen Entzündungen. In freiwilligen Leseversuchen kam es jedoch nur in sehr, sehr seltenen Fällen (1:100.000) zu Buchverbrennungen.

 

Zu Risiken und Nebenwirkungen:

Plötzliche Geistesblitze sind nicht ausgeschlossen, aber unbedenklich!

Kurzfristige leichte bis schwerere Verstimmungen angesichts der unvermeidlich schmerzlichen Enttäuschung über die häufige strategisch-meinungsmanipulierende Ausrichtung der Leitmedien, die vielen finanz- und machtinteressensgebundenen „Experten“ und den Ausverkauf von Demokratie und Gemeinwohl treten mit großer Wahrscheinlichkeit auf. Langfristig sollte diese Desillusionierung jedoch zu mehr geistiger Wachheit, lebhafter Diskussionsbereitschaft und zu unheilbarer staats- bürgerlicher Mündigkeit führen.

Eine häufige Nebenwirkung ist eine zunehmende Abneigung gegen die erdreisteten Rundfunkgebühren des Öffentlich-Rechthaberischen-Rundfunks und die mehr als berechtigte Frage, in welch eklatantem Mißverhältnis hier Preis und Demokratie- leistung bzw. vorgeblich solidarisch-demokratisch-pluralistischer Anspruch und faktisch überwiegend mediale Eintönigkeit und Denklenkungsberieselung stehen.

Wer den häufigen und beabsichtigten Etikettenschwindel massenmedialer Manipulation durchschaut und hinterfragt, unterwirft sich nicht mehr in stillem Gehorsam der Deutungshoheit und Bevormundung der Hauptmedien und entwickelt chronische Wahrheitsliebe.

Eine Überdosis geistiger Immunstärke ist nur in Diktaturen lebensgefährlich!

Erhellende Wechselwirkungen mit anderen Büchern und bereits vorhandenem gesell-schafts- und medienkritischem Bewußtsein sind wahrscheinlich, ja, sogar wünschens- wert, da dies dem Anspruch und der erhofften Wirkungsweise von „Glaube wenig – Hinterfrage alles – Denke Selbst“ ausdrücklich entspricht.

 

Dauer der Anwendung:

Grundsätzlich kann dieses Buch unbegrenzt konsumiert werden, ja, Sie dürfen es auch gerne anderen Menschen leihen, schenken oder Lieblingspassagen daraus vorlesen. Beim Auftreten akuter Begeisterungssymptome, gesteigerter Denkeigenwilligkeit und beflügeltem Aufklärungsgeist sowie zur aktualisierenden Ergänzung empfehlen wir außerdem unbedingt die Webseite des Autors:
„NachDenkSeiten“
https://www.nachdenkseiten.de/

 

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.westendverlag.de/buch/glaube-wenig-hinterfrage-alles-denke-selbst/

 

Der Autor:

»Albrecht Müller, 1938 in Heidelberg geboren, ist Diplom-Volkswirt, Bestsellerautor, Publizist, Initiator und Herausgeber der NachDenkSeiten. Müller leitete Willy Brandts Wahlkampf 1972 und die Planungsabteilungen unter den Kanzlern Brandt und Schmidt. Von 1987 bis 1994 war er für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages. Zu seinen Büchern zählen „Die Reformlüge“, „Machtwahn“ und „Brandt aktuell“.«

 

 

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Wie man die Zeit anhält

  • Roman
  • von Matt Haig
  • Originaltitel: »How To Stop Time«
  • Deutsch von Sophie Zeitz
  • DTV Verlag, April 2018   www.dtv.de
  • gebunden mit LESEBÄNDCHEN
  • 384 Seiten
  • 20,00 € (D), 20,60 € (A), 26,90 sFr.
  • ISBN 978-3-423-28167-6

Z E I T L U P E

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Matt Haig hat eine Talent für faszinierende Außenseiterfiguren. Es sind keine unkonven-tionellen Individualisten oder snobistischen Einzelgänger, sondern Menschen, die auf eine Weise anders sind, daß sie vorsorglich ihr wahres Wesen verbergen; nicht, weil sie etwa eine Gefahr für die Menschheit wären, sondern weil die „normalen“ Menschen zur Gefahr für sie werden könnten, träte ihr wahres Sosein ins Licht der Öffentlichkeit.

In seinem Roman „Ich und die Menschen“ war es ein Außerirdischer, der die Erde besucht, unerkannt seiner interplanetaren Mission folgt und sich von seiner ursprüng-lichen Absicht durch die unerwartete Erfahrung von Liebe und Poesie ablenken läßt (siehe meine Besprechung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/04/01/ich-und-die-menschen/).

Diesmal ist der Romanheld ein sterblicher Mensch, der allerdings mit einer besonderen Veranlagung zur Welt kommt: Tom Hazard altert wesentlich langsamer – ungefähr im Verhältnis 1:15 im Vergleich zur Normalterungszeit. Diese Eigenschaft zeigt sich erst ab der Pubertät, und dann fällt unvermeidlich auf, daß dieser Mensch körperlich außer- gewöhnlich lange unverändert jung bleibt.

Als neuer Geschichtslehrer an der Oakfield Schule in London vermittelt Tom Hazard seinen Schülern den Lehrstoff so lebhaft, als wäre er dabei gewesen, und wenn man wie er ein Alter von 439 Jahren erreicht hat, kann man bei so manchen historischen Bedingungen, Charakteren, Ereignissen und Stadtkulissen – ob ganz alltäglich oder spektakulär – aus persönlicher Lebenserfahrung mitreden.

Selbstverständlich weiß niemand außer ihm und der geheimen Albatros-Gesellschaft, daß Tom schon so alt ist, denn er sieht aus wie Anfang vierzig. Zwar hat Tom im Laufe seines Lebens bisher nur sehr, sehr selten Menschen getroffen, die so sind wie er, gleichwohl gibt es weltweit einige hundert mit dieser Veranlagung. Hendrich, der siebenhundertjährige Leiter dieser Geheimgesellschaft, organisiert und finanziert (er hatte dereinst sehr erfolgreich mit Tulpen spekuliert) den langsam alternden Artge- nossen alle acht Jahre eine neue Identität, damit ihre Besonderheit kein Aufsehen erregt.

Tom Hazard wurde 1581 geboren, und man kann sich leicht vorstellen, welch große Gefahr eine solche Eigenschaft zu jener Zeit bedeutet hat. Die abergläubische Vermu- tung von Hexerei und Teufelsbund kostete seiner Mutter grausam das Leben, und Tom floh entsetzt aus dem engstirnigen Dorf. Er nahm nur seine Laute mit, und nach Tagen des Hungerns, der Schuldgefühle und Verzweiflung traf er auf einem Marktplatz die junge Obstverkäuferin Rose. Sie gewährte ihm Obdach in ihrem kleinen Haus, das sie zusammen mit ihrer Schwester bewohnte.

Vorsichtig schöpfte der frisch in Rose verliebte Tom Hoffnung auf ein normales Leben. Mit seinem Lautenspiel verdiente er in London ein wenig Geld. Kurz darauf lernte er Shakespeare kennen und spielte im Musikensemble des Globe-Theaters mit, was ihm ein sehr auskömmliches Einkommen bescherte.

Tom und Rose heirateten und bekamen eine Tochter. Doch die Tuscheleien der Nachbarn über den ewig-jungen Tom und auch das Wiederauftauchen des einstigen Hexenjägers, der den Tod von Toms Mutter verantwortet hatte, führten dazu, daß Tom die traurige Entscheidung traf, seine Familie zu verlassen, um ihr Leben zu schützen.

Er sah Rose erst an ihrem Sterbebett wieder, und sie erzählte ihm, daß seine Tochter Marion seine seltsame Alterslosigkeit geerbt habe und daß sie eines Tages einfach verschwunden sei. Rose nahm ihm das Versprechen ab, Marion wiederzufinden.

Im Laufe der Jahrhunderte lernte Tom viele Sprachen, zahlreiche Musikinstrumente, und er übte viele Berufe aus, er war Dolmetscher, Matrose, Schmied, Pianist … in gewissen Abständen änderte er seinen Wohnort, seinen Namen, Städte, Länder, Kontinente. Er fuhr mit Captain Cook zur See, traf F. Scott und Zelda Fitzgerald in einer Bar in Paris …  Oft hielt ihn nur die Hoffnung am Leben, irgendwann seine geliebte Tochter aufzuspüren, und der Trost schöner Musik.

Erst im 19. Jahrhundert kam er in Kontakt mit der geheimen Albatros-Gesellschaft, denn er hatte den Fehler begangen, sich einem Arzt anzuvertrauen. Dieser hatte einen Bericht über Toms außergewöhnliche Veranlagung – die „Anagerie“ – geschrieben, und die Albatros-Gesellschaft machte den Arzt umgehend und wortwörtlich mundtot und nahm Tom in ihren Schutzkreis auf.

Der Preis dieser Schutzgewährung ist der Verzicht auf Liebe und nähere zwischen-menschliche Bindungen sowie gewisse Gefälligkeiten gegenüber der Albatros-Gesellschaft – sei es die Entdeckung und Rekrutierung weiterer „Albas“ oder die Eliminierung von unerwünschten Mitwissern. Hendrich spricht von normalen Menschen stets geringschätzig als „Eintagsfliegen“, und er sieht keinen Unterschied zwischen der Bedrohung durch mittelalterlichen Aberglauben und moderne, medizinische Forschungslabore.

Gönnerhaft bietet Hendrich Tom alle acht Jahre ein neues Leben seiner Wahl an, und er ist mißtrauisch, weil sich Tom diesmal für ein schlichtes Lehrerdasein an einem Ort voller schmerzlicher Erinnerungen entschieden hat. Tom empfindet den angeblichen Schutz, den die Mitgliedschaft in der Albatros-Gemeinschaft bietet, zunehmend als Gefängnis, und er zweifelt heimlich an Hendrichs Regeln.

Während Tom nach und nach seinen Unterrichtsstil verfeinert und bei einigen Schülern tatsächlich Begeisterung für Geschichte wecken kann, wird er von vielen Erinnerungen geplagt, und er spürt seine Herzensverluste und seine Einsamkeit stärker als je zuvor. Die Beschreibungen väterlicher Hoffnung, Liebe, Sorge und Kindessehnsucht gehören zu den berührendsten Passagen dieses Romans. Ein Lichtblick in seinem neuen Dasein ist seine Kollegin, die Französischlehrerin Camille, in die er sich nach mehr als 400 Jahren Einsamkeit unaufhaltsam verliebt …

Matt Haig erzählt das Schicksal Tom Hazards mit geschickten Szenen- wechseln von Zeiten, Orten und Ereignissen. Betrachtungen zum aktuellen Zeitgeist wechseln sich ab mit anschaulichen historischen Rückblicken und – angesichts der „Gezeiten des Mitgefühls“ (Seite 339) – berechtigtem Zweifeln am Fortschritt von Zivilisation und Mitmenschlichkeit. In diesem Roman kombiniert Matt Haig spannende Unterhaltung mit zeitloser Gesellschaftskritik und Betrachtungen zur elementaren Bedeutung von Liebe und Verbundenheit für eine bejahende Haltung zum Leben.

Gleichwohl erreicht er hiermit bei weitem nicht das Maß an Tiefsinn und Weisheit, daß ihm mit seinem Roman „Ich und die Menschen“ gelungen ist. Auch wenn es anbetracht von Toms traumatischen Erfahrungen verständ- lich ist, hätten ihm weniger Erinnerungskopfschmerzen und mehr Lebens- reife besser gestanden. Neben den in den Erzählverlauf eingestreuten, feinen Zitaten von Michel de Montaigne erscheinen seine eigenen lebens- philosophischen Erkenntnisformulierungen schwach und bisweilen binsenweisheitlich.

Toms Biographie ist ein Balanceakt zwischen Lebens- und Todessehnsucht, das lange Leben führt zu Wiederholungsermüdungen – zu häufig erlebte neue Moden können auch langweilen, vielschichtige Erinnerungsüber- lagerungen und wehmütige Echos gewesener Gefühle und Bindungen überschatten die Erfahrung der Gegenwart. Es kostet ihn viel Überwindung und dramatische Komplikationen, seine eingeübte zwischenmenschliche Reserviertheit aufzugeben und sich konsequent gegen Angst und Schmerz-vermeidung für Liebe, Verletzlichkeit und Vertrauen zu entscheiden.

 

„Es mag seltsam klingen, sich wegen einer Geste zu verlieben, aber manchmal sieht man in einem einzigen Moment den ganzen Menschen. So wie man in einem Sandkorn das Universum erblicken kann. Ob es Liebe auf den ersten Blick gibt oder nicht, Liebe in einem Augenblick gibt es bestimmt.“

(Seite 282)

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der DTV-Verlagswebseite:
https://www.dtv.de/buch/matt-haig-wie-man-die-zeit-anhaelt-28167/

Parallel zum Buch ist das Hörbuch beim Hörverlag erschienen.

Matt Haig
Wie man die Zeit anhält
Roman
Originaltitel: »How To Stop Time«
Deutsch von Sophie Zeitz
Hörbuch
1 mp3-CD, Laufzeit: 571 Minuten
ungekürzte Lesung von
Christoph Maria Herbst
€ 20,00  € (D), 22,50 € (A), 27,90 sFr.
ISBN: 978-3-8445-2896-1

 

Christoph Maria Herbst vorleseverkörpert virtuos alle Romanfiguren mit charakterstarkem, gefühlvollem Nuancenreichtum und in der Rolle von Camille mit sehr charmantem französischem Akzent.

Hier entlang zum Hörbuch und zur HÖRPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.randomhouse.de/Hoerbuch-MP3/Wie-man-die-Zeit-anhaelt/Matt-Haig/der-Hoerverlag/e537252.rhd

Querverweis:

Hier entlang zu Matt Haigs nachdenklich-amüsantem Roman „Ich und die Menschen“, in dem uns die außerirdische Perspektive auf die Erde und die menschliche Zivilisation einen ganz besonderen Blick auf das Alltägliche verschafft: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/04/01/ich-und-die-menschen/

Und zu seinem autobiographischen Buch zum Thema Depression  „Ziemlich gute Gründe am Leben zu bleiben“: https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/06/14/ziemlich-gute-gruende-am-leben-zu-bleiben/

Der Autor:

»Matt Haig wurde 1975 in Sheffield geboren und hat bereits eine Reihe von Romanen und Kinderbüchern veröffentlicht, die mit verschiedenen literarischen Preisen ausgezeichnet und in über 30 Sprachen übersetzt wurden. In Deutschland bekannt wurde er mit dem Bestseller „Ich und die Menschen“.«

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Manchmal rot

  • Roman
  • von Eva Baronsky
  • Aufbau Verlag April 2017  www.aufbau-verlag.de
  • Taschenbuch
  • 353 Seiten
  • 9,99 € (D)
  • ISBN 978-3-7466-3240-7
  • Leider ist dieser außergewöhnliche Roman inzwischen vergriffen und Sie müssen sich auf antiquarischem Wege darum bemühen.

VORHER – NACHHER
MAL  GANZ  ANDERS

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Wer wird man, wenn man nicht mehr weiß, wer man war? Ohne Hindernisparcours aus Gedankenbremsen, Glaubenssätzen und Gewohnheitsbewertungen wäre der Blick auf Welt und Menschen weitgehend ungetrübt von einer persönlichen Vorgeschichte. Es wäre eine großartige Chance, Ungewagtes zu wagen, Unverhofftes zu hoffen und seine Fähigkeiten, Neigungen, Stärken und Schwächen frisch auszumessen, zu erproben und vielleicht sogar eine zuvor unmögliche Möglichkeit zu wählen.

Eine solche Selbstneubestimmung in Verbindung mit den poetischen Besonderheiten synästhetischer Wahrnehmung wird in „Manchmal rot“ anschaulich und faszinierend sowie mit sprachlicher Virtuosität durchgespielt und beiläufig mit der extremen sozialen Spaltung unserer Gesellschaft verknüpft.

Zunächst erscheint es, als wäre Angelina Niemann, die weibliche Hauptfigur des Romans, weit davon entfernt, musische Neigungen zu entwickeln, die über die Betrachtung von Spielfilmen und einen ausgeprägten Sinn für Farben hinausgehen.

Angelina kommt auf dem Weg zu ihrer Putzstelle an einem Wollgeschäft vorbei und verliebt sich auf den ersten Blick in zwei Wollknäuel mit blautürkispetrolem Farbverlauf. Die Wolle ist preisreduziert auf vier Euro, doch nach einem schnellen kopfrechnerischen Kassensturz nimmt sie betrübt Abstand vom Kauf der Wolle. Sie tröstet sich damit, daß sie heute wenigstens in „ihrer“ schönen Lieblingswohnung aufräumt und saubermacht.

Zweimal wöchentlich kümmert sie sich um diese luxuriöse Penthouse-Wohnung mit grandioser Aussicht auf den Main. Den Besitzer der Wohnung hat sie noch nie gesehen, seine Freundin hatte sie eingestellt, und nachdem diese offensichtlich ausgezogen ist, hat sich an dem illegalen Arbeitsverhältnis nichts geändert.

Immer wartet ein Fünfziger an der vereinbarten Stelle auf dem Küchentresen und manchmal eine Notiz mit Sonderwünschen. Diese Notizen bedeuten Streß für Angelina, denn sie kann nicht richtig lesen und muß die Hilfe ihrer Freundin Mandy in Anspruch nehmen, der sie die Nachricht per Handyfoto sendet.

Mandy ruft dann zurück und erklärt ziemlich genervt, was auf dem Zettel steht. Diesem Telefonat kann man deutlich anmerken, daß Angelinas Selbstbewußtsein ausge- sprochen bescheiden ist. Sie ist ängstlich, unsicher und menschenscheu und zieht sich zur Entspannung gerne zum Stricken auf ihr Sofa zurück. Von ihrem erputzten Schwarzgeld profitiert ihr Freund Pit, der immer nur dann aufkreuzt, wenn ihm das Spielgeld ausgegangen ist oder er gewisse hormonelle Bedürfnisse an ihr austobt.

Dr. Christian von Söchting ist der Besitzer der gediegenen Wohnung. Er arbeitet als erfolgreicher Anwalt in einer internationalen Wirtschaftskanzlei, hat ein Jahresgehalt von gut 500.000 Euro und steht kurz vor der nächsthöheren Karrierestufe, für die er allerdings seinen Seniorchef und einstigen Mentor bei den Fusionsplänen mit einer amerikanischen Kanzlei austricksen muß.

Er fährt einen Porsche 911, und in seiner Wohnung steht ein echter Steinway-Flügel, den er einst für seine künstlerisch-ambitionierte Exfreundin Charlotte als Geschenk gekauft hatte. Dennoch hat Charlotte ihn wegen eines Kulturprofessors verlassen und ist nach Berlin gezogen. Neuerdings leidet Christian an Flugangst, was sehr anstrengend für ihn ist, da er berufsbedingt mindestens zweimal wöchentlich mit dem Flieger unterwegs ist. Schwächen, Unsicherheiten und Fehler kann er sich in keiner Form leisten, denn seine Berufswelt ist ein Haifischbecken.

Neben seinem Liebeskummer wegen Charlotte hat Christian auch verzweifelte finanzielle Probleme. Wohin mit der illegalen Provision von 1,5 Millionen Euro in bar, und wie soll er unauffällig das schweizerische Schwarzgeldkonto seines Vaters mit immerhin 30 Millionen Euro nach Deutschland transferieren? Ja, diese Leistungsträger tragen schon schwer an der existenziellen Notwendigkeit, gutes Geld vor bösen Steuern zu beschützen.

Bis auf den indirekten dienstleistungsbezogenen Kontakt gibt es keine lebensweltlichen Berührungspunkte zwischen Angelina und Christian. Doch dies ändert sich wortwörtlich schlagartig, als Angelina beim Auswechseln einer defekten Glühbirne einen Stromschlag bekommt und in Christians Wohnung von der Leiter fällt. Christian findet die bewußt- lose Putzfrau und veranlaßt ihre Einlieferung ins Krankenhaus.

Angelina erwacht nach einer längeren Bewußtlosigkeit und weiß nicht mehr, wer sie ist. Doch sie sieht Stimmen, Laute und Musik ganz deutlich in farbigen Mustern und Bildern. Die Klinikneurologin macht einige Tests mit ihr. Angelinas Faktenwissen ist intakt, nur ihr biographisches Gedächtnis funktioniert nicht. Sie müsse Geduld mit sich haben, ihre Lebenserinnerungen kämen sehr wahrscheinlich nach und nach zurück.

Christian besucht Angelina im Krankenhaus und erzählt ihr, daß sie seine Putzfrau sei, und wenn sie wolle, könne sie sich nach ihrer Genesung gerne weiter um seine Wohnung kümmern. Er bringt auch ihre Handtasche mit, die in seiner Wohnung liegengeblieben war. Angelina muß erst die Scheu überwinden, einen Blick in diese ihr fremde Hand- tasche zu werfen. Das Gefühl, sich sozusagen unbefugt in einem fremden Leben zu bewegen, begleitet sie noch lange.

Sie forscht der Vorher-Angelina nach, läßt sich von ihrer Mutter und von Mandy erzählen, wie und wer sie sei, aber ihr fehlt der emotionale Bezug. Die Nachher-Angelina ist wesentlich willensstärker und zielstrebiger sowie mangels Vergangenheitsbezügen sehr gegenwärtig.

Die nette ältere Dame, die das Bett neben Angelina belegt, benutzt häufig altmodische Wörter, und Angelina schmeckt diese Worte aufmerksam für sich ab und findet Gefallen an Formulierungen wie „unbeugsame Beharrlichkeit“. Mit unbeugsamer Beharrlichkeit bringt sie sich während des vierwöchigen Krankenhausaufenthalts selbst das Lesen und Schreiben bei, Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe.

In der zur Klinik gehörenden Kirche findet täglich ein Gottesdienst statt, bei dem Schwester Benedicta Orgel spielt. Diese Gottesdienste werden zusätzlich im Fernsehen übertragen. Als Angelina diese Musik hört, ist sie hingerissen, und es zeigt sich ihre klangfarbensynästhetische Wahrnehmung – sie kann Musik sehen:

„Lange Bänder in Grün und Blau, die kennt sie, hat sie schon mal gehört, aber jetzt wachsen Punkte mit fedrigen Spitzen raus, fliegen zu Blüten zusammen und tanzen herum. Jede Blüte hat acht Töne, das weiß ich, ohne zu zählen, und obwohl alle grün und blau sind, hat jede eine andere Farbe. Als sie die Augen aufmacht, sieht sie im Fernseher die Tasten. Schwarz und weiß, sie braucht gar nicht hinzugucken, um zu wissen, dass es immer abwechselnd Zweier- und Dreierpacks sind, damit kenn ich mich aus, dazwischen weiße, also eigentlich fünf und sieben, macht zwölf, zwei Hände, die darauf spielen, ganz groß im Bild. Sobald ein Ton da ist, weiß sie genau, welche Taste als Nächstes kommt.“ (Seite 115)

Später wird sie von Schwester Benedicta dreimal wöchentlich praktisch und theoretisch musikalisch unterrichtet werden und täglich auf Christians verwaistem Steinway-Flügel Etüden üben …

Christian hat derweil einige komplizierte und knifflige Verträge zu überprüfen, jagt von Mandant zu Mandant, von Sitzung zu Sitzung, beäugt mißtrauisch seine Kanzleikollegen und fädelt seine rücksichtslose, geheime Vorteilsnahme in die Vorverhandlungen für die angestrebte Kanzleifusion ein. Ein Versteck für die 1,5 Millionen in gebündelten Hunderteuroscheinen hat er auch spontan gefunden – solche Noten würde man doch niemals im Inneren eines Steinway vermuten oder gar suchen.

Angelina kehrt, begleitet von Mandy, in ihre eigene Wohnung zurück und versucht vergeblich ihr Leben wiederzuerkennen. Zum Befremden ihrer Freundin spricht sie nur in der dritten Person Singular von Angelina und erkundigt sich nach den Einzelheiten ihres Lebens. Offenbar war die liebste Freizeitbeschäftigung der Vorher-Angelina das Stricken, doch die Nachher-Angelina findet das langweilig.

Die neue Angelina ist wißbegierig und wird eine eifrige Leserin. Sie entdeckt die Schönheit der Sprache für sich: „… in diesem Buch gibt es massenhaft Sätze, die sie nicht auf Anhieb kapiert. Aber wenn sie die Stelle zwei- oder dreimal gelesen hat, kann’s passieren, dass einer zu leuchten anfängt und sie staunen muss, wie viel Schönheit man aus so ein paar Buchstaben zusammensetzen kann, es ist, als würde vor lauter Schönheit auch in ihr drin was zu leuchten anfangen.“ (Seite 190)

Plötzlich steht Angelinas angeblicher Freund Pit vor der Tür und reklamiert ihre lange Abwesenheit. Mit analytischer Distanz betrachtet sie sein unverschämtes Gebaren und denkt, daß sie Mandys Einschätzung, daß sie Pit getrost vergessen könne, innerlich zustimmt. Sie wird gewissermaßen doppelt wütend auf sich selbst und auf die alte Angelina, die sich eine solche grobmaschige Machobehandlung hat gefallen lassen.

Als sie sich verbal und körperlich deutlich von ihm abgrenzt, wird er gewalttätig, und Schlimmeres wird nur dadurch verhindert, daß sie kein Bier im Kühlschrank für ihn bevorratet hat und er erst mal abzischt, welches zu kaufen – natürlich mit ihrem Geld. Geistesgegenwärtig packt sie eine Tasche mit dem Nötigsten und flüchtet in Christian von Söchtings Wohnung, über deren Schlüssel sie nach wie vor verfügt.

Christian ist zunächst nicht amüsiert beim häuslichen Feierabend, seine Putzfrau vorzufinden. Sie tritt ihm gegenüber selbstbewußter auf, als sie sich fühlt, und sagt frech, daß sie vorübergehend das Gästezimmer beziehen werde. Seinen Hinweis, daß er die Polizei rufen könne, um sie loszuwerden, kontert sie mit einem dezenten Hinweis auf die Banknoten, die sie im Steinway gefunden habe, und auf die ungesicherte Strom-leitung, der sie ihren Stromschlag verdanke; sie habe schließlich nichts zu verbergen …

Ausschlaggebend für Christians Einverständnis mit Angelinas Einzug in seine Wohnung ist jedoch, daß er ihre Verletzlichkeit spürt, und dies weckt zu seiner eigenen Verwunderung Beschützerinstinkte in ihm.

Während Christian beruflich wie gewohnt weitermacht, kümmert sich Angelina um den Haushalt, liest sich durch Christians Bücherschrank, hört seine Musik-CDs und übt eifrig und unermüdlich Klavierspielen. Sie probiert Gewürze und verschiedene Kaffee- varianten aus und findet heraus, was ihrem Geschmack entspricht und was nicht.

Angelina formt und festigt ihr neues Ich. Sie entwickelt einen bemerkenswert klaren Blick auf ihre Mitmenschen, sie durchschaut ihre Masken und inneren Beweggründe. Abends stellt sie Christian viele Fragen zu Wörtern und Themen, die sie in Büchern gefunden und nicht ganz verstanden hat, und Christian beantwortet diese gerne.

Ihr Auffassungsvermögen ist sehr gut und ihre Folgefragen sind durchaus originell und zeugen von einem ausgeprägten Sinn für sprachliche Mehrdeutigkeiten und Zwischen- töne. Angelinas Attraktivität wächst in Christians Augen, und er versteht gar nicht mehr, warum er sie früher für unscheinbar hielt …

„Manchmal rot“ ist das komplexe Psychogramm zweier Charaktere, deren soziale, lebensweltliche Distanz extrem ist. Geschickt gibt die Autorin jedem Charakter einen eigenen Sprachausdruck: Angelinas Sprache ist eher umgangssprachlich, direkt und mit einfachem Vokabular. Ihr Denken und Fühlen kreist um zwischenmenschliche Belange, um Resonanz und Sympathie, um ihre sinnliche und synästhetische Wahrnehmung sowie um ihre Selbstentdeckung und ihre Hingabe an die Musik als Ausdruckskraft.

Christians Sprache ist anspruchsvoller, gebildet und durchsetzt mit Wirtschaftsenglisch. Sein Denken und Fühlen ist bestimmt von Ehrgeiz, Konkurrenz, Leistung, Mißtrauen, Status, berechnendem Taktieren und monetären Werten sowie von gelegentlichen Selbstzweifeln und Angst. Er ist mehr im Haben zu Hause und Angelina mehr im Sein.

Sowohl inhaltlich als auch sprachlich ist „Manchmal rot“ von außer gewöhnlicher Einfühlsamkeit und eröffnet dem Leser lebhaft-sinnlich fremde Perspektiven. Romanfiguren mit synästhetischer Wahrnehmung gibt es nicht oft. Da ich selbst Synästhetin bin, fand ich diese spezielle Thematik selbstverständlich besonders ansprechend und gelungen.

Wer aufgrund der Überbrückung der großen sozialen Distanz zwischen Angelina und Christian ein romantisches Ende à la „Pretty Woman“ erwartet, wird mit dem offenen Ende der Geschichte hadern. Wer jedoch gerne miterlesen möchte, wie sich eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen beherzt emanzipiert, zu Selbstbewußtsein kommt und sich durch ihre Klangfarbensynästhesie einen neuen musikalischen Horizont erschließt, der findet in  „Manchmal rot“ eine ebenso berührende wie seltenheitswerte Charakterstudie mit wohldosierten Prisen trefflicher Gesellschaftskritik.

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
http://www.aufbau-verlag.de/index.php/manchmal-rot-3982.html
Leider ist dieser außergewöhnliche Roman inzwischen vergriffen und Sie müssen sich auf antiquarischem Wege darum bemühen.

Querverweis:

Bereits Eva Baronskys erster Roman „Herr Mozart wacht auf“ spielte virtuos und amüsant mit der außergewöhnlichen Perspektive eines zeitgereisten Mozarts, der unversehens in der heutigen Gegenwart erwacht.
Hier entlang zu meiner Rezension von „Herr Mozart wacht auf“:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/02/14/herr-mozart-wacht-auf/

Die Autorin:

»Eva Baronsky, 1968 geboren, lebt im Taunus. Für ihren überraschenden und sehr erfolgreichen Debütroman „Herr Mozart wacht auf“ (2009) erhielt sie den Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises der Stadt Bad Homburg v. d. Höhe. Nach „Magnolienschlaf“ (2011) erschien 2015 ihr dritter Roman „Manchmal rot“

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Der Club der Idealisten

  • Über die Kunst, an das Gute zu glauben
  • (auch wenn so ziemlich alles dagegen spricht)
  • von Eva-Maria Altemöller
  • Sanssouci Verlag September 2016   www.sanssouci-verlag.com
  • gebunden mit bordeauxrotem LESEBÄNDCHEN
  • 240 Seiten
  • 18,–  € (D), 18,50 € (A)
  • ISBN 978-3-99056-000-6
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B I B L I O T O P

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Zu welchem Club gehören Sie? Zu den Idealisten, den Realisten, den Materialisten, den Pessimisten oder den Optimisten? Nun, Sie haben die freie Wahl nicht nur bezüglich des Clubs, sondern auch bezüglich Ihrer Lektüre.

Eva-Maria Altemöller, die Autorin des vorliegenden Buches, ist jedenfalls eine unheilbare Idealistin, wie übrigens fast alle Buchhändler, die ich kenne – mich höchstselbst eingeschlossen!

Die Autorin (und selbständige Buchhändlerin) widerspricht dem ethischen und kulturellen Werteverfall, wehrt sich beredt gegen „die Diktatur des Profits“ (Seite 97) und beschwört mit unermüdlicher Begeisterung bedrohte Tugenden wie Aufrichtigkeit, Freundlichkeit, Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Besinnlichkeit, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Mitgefühl, Respekt und Herzensbildung. Und sie übt gelassen Gesellschaftskritik, beschreibt „das tendenziell etwas unterreflektierte Gedankengut des Neoliberalismus“ (Seite 75) als lieblose, lebensfeindliche, narzißtische Störung und entlarvt den egozentrischen, schnäppchen-jagenden Homo oeconomicus als Mythos der Wirtschaftswissenschaften.

Neuere biologische und neurologische Forschungen haben ergeben, daß es – weder in genetischer noch in psychologischer Hinsicht – der menschlichen Natur entspricht, sich um jeden Preis wirtschaftliche Vorteile, Statussymbole & Co zu verschaffen. Menschen werden vielmehr durch Kooperation, soziale Resonanz und Kommunikation sowie Empathie wesentlich nachhaltiger motiviert und neuronal belohnt. Ein Geschenk zu geben ist ebenso erfreulich, wie eines zu bekommen.

Die Gedanken, Betrachtungen, Infragestellungen und Reflexionen dieses Buches werden von lebensläufigen Anekdoten und glaubhaft überlieferten wahren Geschichten aus dem persönlichen und beruflichen Umfeld der Autorin unterfüttert und lebhaft-amüsant bis anrührend gewürzt. Außerdem verweisen mehr als 250 kleine rote Ziffern an diversen Stichworten im Fließtext auf zusätzliche Anmerkungen und Buchtipps, die auf der Webseite der Autorin abgerufen werden können.

In zweiten Kapitel ihres Idealismusratgebers schwärmt uns Eva-Maria Altemöller vom kleinen „Café Goertz“ in Bregenz vor und macht uns mit ihren sinnlichen Lobgesängen auf die dort mit solidem Konditorenhandwerkskönnen kunstgefertigten Kuchen den Mund wahrlich wässrig. Doch dies dient nur als schmackhafte Kulisse, denn just dieses Café hatte sich der Initiator eines gemeinnützigen Idealistenclubs als Gründungstreffpunkt ausgesucht.

Seiner bescheidenen Kleinanzeige nach rechnete er wohl nur mit einer Handvoll Interessenten, es kamen jedoch so viele, daß die zwanzig Sitzplätze des Cafés bereits eine halbe Stunde vor Beginn der anvisierten Uhrzeit besetzt waren und wenig später auch die Stehplätze. Der Initiator verlegte die Veranstaltung daraufhin gutgelaunt in den nahegelegenen Saal einer anderen Lokalität …

In zwölf Kapiteln umkreist Eva-Maria Altemöller eloquent diverse zwischenmenschliche, charakterspezifische, gesellschaftliche und mediale Zustände sowie Zumutungen und empfiehlt praktizierten Idealismus als wesentlichen Teil zur Lösung globaler und lokaler Probleme. Ihrer Vermutung stimme ich zu, daß jeder Idealist Problemlösungsideen oder zumindest Lösungsansätze in der Gedankenschublade habe und sich meist bloß nicht traue, diese in die breite Öffentlichkeit zu tragen.

Die rege Beantwortung der FrageDie Welt wäre ein besserer Ort, wenn …“ (Seite 263) kann als neues Gesellschaftsspiel viele phantasievolle Ideen ins Bewußtsein heben und von dort aus ins konkrete, konstruktive Handeln.

Zahlreiche Anregungen, mit dem eigenwilligen Idealistenkompaß dem „Mainstream“ zu trotzen, seine Wettbewerbsmentalität zu boykottieren und quer zu denken, runden dieses kultiviert-aufmüpfige Buch inspirierend ab.

Naheliegenderweise empfiehlt die Autorin den Besuch kleiner, konzernunabhängiger, engagierter Buchhandlungen, in denen Idealisten garantiert gleichgesinnte Menschen und Bücher treffen, die sie vielleicht nicht ausdrücklich gesucht, aber gerne gefunden haben …

„Bücher helfen uns, die Perspektive zu wechseln und mit neuen Ideen frischen Wind in unsere vielleicht schon seit längerem nicht gelüfteten Gedankengebäude zu bringen.“ (Seite 197)

Eva-Maria Altemöller schreibt in einem geistreichen, elegant-ironischen Plauderton. Gelegentlich ist sie dabei charmant-redundant, aber sie hat ja recht: Manche Leitsätze und manch aufklärerisches Gedankengut kann man gar nicht oft genug wiederholen.

Spätestens nach der Lektüre dieses ermutigenden Buches wissen Sie, daß es viel mehr Idealisten und Idealismus gibt, als die Mainstreammedien uns mit ihrer ungesunden Konzentration aufs Beängstigende, Negative und Sensationelle vorzugaukeln bestrebt sind.

„Wir können unser Geld … in den besten Wertpapieren anlegen, die es gibt, in Büchern nämlich, und so (wieder) in Formen von Transzendenz hineinwachsen, die uns der Mainstream eigentlich abgewöhnen wollte.“ (Seite 251/252)

Wertschätzen Sie Ihre Werte und drücken Sie Ihre Ideale im alltäglichen Denken, Sprechen und Handeln vorbildlich aus! Herzensbildung kann ansteckend wirken. Und sammeln Sie idealistische Ideen, Inspirationen, Lösungen, Visionen, Verbündete und Weltrettungspuzzleteilchen … und/oder gründen Sie einen weiteren „Club der Idealisten“.

Passend zum Lesebuch „Der Club der Idealisten“ gibt es zudem ein Notizbuch, damit die Gedankenblitze, Begeisterungsfunken, Erkenntnisbeflügelungen und ermutigenden Zitate nicht vergessen, sondern blau auf weiß aufgeschrieben werden und sich von dort aus nach und nach in die Wirklichkeit erheben.

 

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Notizbuch
Format: 9,5 cm x 15,00 cm
112 Seiten
broschiert mit Lesebändchen
illustriert mit zahlreichen Vignetten
10 € (D), 10,30 € (A)
ISBN 978-3-99056-013-6

 

 

 

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
Leider ist die Webseite des Verlages noch nicht „fertig“ 😦

Hier entlang zum Buch auf der Webseite der Autorin:
https://www.clubderidealisten.de/home/das-buch/
Und hier entlang zum Blog „Club der Idealisten“:
https://www.clubderidealisten.de/2016/10/23/willkommen/

Die Autorin:

»Eva-Maria Altemöller, Autorin, Buchhändlerin und Inhaberin verschiedener, liebevoll ausgestatteter Läden, lebt in Lindau am Bodensee. Sie hat ein seltenes Talent, das sie auch in diesem Buch unter Beweis stellt: nämlich leicht, brillant, klug, witzig und mit Tiefgang schreiben zu können zu können. Ihre Texte haben ein hohes Glücks- und Ermutigungs-Potential und versprechen reichen Erkenntnisgewinn.«
Mehr auf der Webseite der Autorin:  http://www.altemoellersche.de

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