Stein und Flöte

  • und das ist noch nicht alles
  • Märchenroman von
  • Hans Bemmann
  • Hörbuch
  • Sonderausgabe
  • Hörbuch Hamburg Osterwold, März 2020 http://www.osterwold-audio.de
  • ungekürzte Lesung von Oliver Rohrbeck
  • Laufzeit: 2519 Minuten bzw. fast 42 Stunden
  • 4 mp3-CDs im Klappschuber
  • 18,00 € (D), 20,20 € (A)
  • ISBN 978-3-86952-451-1

Persönliches Vorwort zu dieser Rezension:

Dies ist meine 500. Buchbesprechung! Aus diesem Anlaß widme ich mich heute mit dem größten Vergnügen einem meiner Lieblingslieblingsbücher: „Stein und Flöte und das ist noch nicht alles“ von Hans Bemmann, in der ungekürzten Hörfassung, gelesen von Oliver Rohrbeck.

M Ä R C H E N W E I S E S

Hörbuchbesprechung  von Ulrike Sokul ©

„Wenn du erst einmal die Töne greifen kannst, wird die Flöte deine Gedanken selbst zum Klingen bringen. Und sie wird jeden, der sie hört, zu dem verleiten, was du beim Spielen im Sinn hast. Vergiß das nie! Du mußt wissen, daß mit der Weitergabe der Flöte eine Bedingung verknüpft ist: Dem Erben darf nur die Griffweise erklärt werden; was er dann auf der Flöte spielt, muß er selbst bestimmen. Mein Unterricht wird also kurz sein.“  (Seite 202)

„Stein und Flöte“ ist ein tiefsinniger, vielschichtiger und weiser Märchenroman von beträchtlicher Länge. Es ist eine klassische Heldenreise, in der ausführlich und charaktertief der Lebenslauf und die Verwandlungen von Lauscher, dem Enkelsohn des Sanften Flöters, erzählt werden. Lauschers Lebensweg ist verbunden mit den schicksalswendigen Menschen und auch einigen Tieren, die ihm – sei es zugeneigt oder abgeneigt – begegnen, ihn beeinflussen und die seiner auf die eine oder andere Art bedürfen. So bietet dieser Roman nicht nur spannende Einblicke in Lauschers Charakter und Ent- wicklung, sondern auch in weitere interessante und starke männliche und weibliche Charaktere, die ihm zugesellt sind.

Der Held dieses Märchenromans heißt deshalb „Lauscher“, weil er sehr leise spricht und auf lautes Ansprechen oder gar Schreien mit Verwirrung und Unverständnis reagiert. Sein Vater ist der „Große Brüller“, ein haariges, kompakt-kräftiges, zupackendes und stimmgewaltiges Mannsbild, das in der Stadt Fraglund das lokale Richteramt ausübt. Seine aus einigen Tagesritten Entfernung zugereiste zarte und leise Mutter ist die Tochter des „Sanften Flöters“, dessen Ruf als diplomatischer Vermittler bei Krisen, Kriegen und Konflikten legendär ist.

Dabei spielt der Sanfte Flöter mit seiner silbernen Flöte keineswegs manipulativ, sondern seine – gewissermaßen mit absichtsloser Absicht gespielten – meditativ besänftigenden, einfühlsam mitschwingenden Flötentöne berühren die Herzen der Zuhörer, wecken ihr Mitgefühl, bringen Tränen zum Fließen oder lösen je nachdem auch Lachen und Schmunzeln aus, sie erinnern an das Verbindende zwischen den Menschen, lösen psychische Verhärtungen auf und führen so dazu, daß sich wieder ein Raum öffnet für ein konstruktives Gespräch zwischen verfeindeten oder zerstrittenen Parteien oder für die sachliche oder heitere Aufklärung von Mißverständnissen.

Als der Stadt Fraglund ein Überfall der Beutereiter droht, versammelt der Große Brüller die waffenfähigen Männer, um den Beutereitern in einer Schlucht eine Falle zu stellen. Lauscher, der zu diesem Zeitpunkt siebzehn Jahre alt ist, soll mitkommen und mitkämpfen, erbittet sich aus, zwar mitzureiten, sich jedoch um die Verwundeten kümmern zu dürfen, da ihm der Umgang mit Waffen nicht liege.

Widerwillig stimmt sein Vater zu. Die örtliche Gemeinschaft kann die Beutereiter erfolg-reich in die Flucht schlagen. Lauscher findet einen tödlich verwundeten, alten Beutereiter namens Arni, kümmert sich um ihn und gibt ihm zu trinken. Lauscher und der Beutereiter unterhalten sich eine Weile, und kurz bevor Arni stirbt, schenkt er Lauscher zum Dank seinen Talisman, einen Stein, der in den Farben blau-grün-violett schimmert und dessen pulsierendes Farbmuster an ein Auge erinnert.

Dieser Augenstein, den Arni einst selbst von der weisen alten Urla geschenkt bekommen hatte, diente ihm dazu, seinem eigenen unkonventionellen Weg zu folgen, und Lauscher hofft, daß dieser Stein sich auch für ihn als schicksalhafter Wegweiser eignen werde.

Nach der Begegnung mit Arni ist Lauscher von Unruhe erfüllt und bittet seinen Vater um ein Pferd, um seine Großeltern zu besuchen. Der Vater hätte Lauscher gerne zu seinem Nachfolger im Richteramt herangebildet, doch er sieht auch ein, daß Lauschers Wesensart wohl eher zu der des Sanften Flöters hinneigt, und so läßt er ihn ziehen. Der Weg zu den Großeltern ist weit und führt durch tiefe Wälder. Etwa auf der halben Strecke, in der Nähe der Stadt Barleboog, hat Lauscher eine „zauberhafte“ Begegnung, die ihn sowohl wortwörtlich als auch zwischenmenschlich von seinem Wege  ablenkt.

So findet er erst nach dramatischen Umwegen zu seinem Großvater, dem nun nur noch eine kurze Zeit bleibt, Lauscher in der Kunst des Flötenspiels zu unterweisen, bevor er sanft stirbt und Lauscher seine silberne Flöte hinterläßt.

Auf der Flöte findet sich eingraviert folgender Spruch:

„Lausche dem Klang,
folge dem Ton,
doch übst du Zwang,
bringt mein Gesang
dir bösen Lohn.“

Lauscher wird noch sehr, sehr, sehr lange brauchen, bis er mit seinem Flötenspiel diesem Leitspruch gerecht wird. Er bekommt zu früh machtvolle magische Gaben geschenkt, für die er noch nicht reif ist. Lauscher ist ungeduldig und selbstgefällig und wähnt sich wiederholt zu schnell und viel zu vordergründig am Ziel, und so geht er auf der Suche nach Bedeutsamkeit und Würde grandios in die Irre, erliegt den Versuchungen von Eitelkeit, Macht und kurzfristigem persönlichen Vorteil. Er tut schlimmes Unrecht und löst eine Kette von Ereignissen aus, die auch ihn selbst schwer treffen und verletzen und ihn nach und nach zu mehr Selbsterkenntnis, Demut, Geduld und Weisheit führen.

»Nur wer Angst hat, strebt nach Macht. Dazu ist deine Flöte nicht geschaffen.«

Lauscher erfährt viele Verwandlungen, lernt die Sprache der Tiere und knüpft lebhafte Freundschaften mit ihnen. Zudem braucht Lauscher lange, bis er seinem Namen wirklich gerecht wird. Wieder und wieder hört er Geschichten darüber, wie der Sanfte Flöter die Macht seiner Flöte zum Wohle der Menschen und zum Wohle des Ganzen genutzt hat. All diese Geschichten und die Begegnung mit den Menschen, die sie erzählen, vermitteln ihm nach und nach auch ein umfassenderes Verständnis für die tieferen Zusammenhänge und Verstrickungen seines eigenen Lebens und Wirkens und weisen ihn schließlich den Weg zu Liebe, Versöhnung, Frieden, Freiheit, Heilung und Selbstgenügsamkeit.

»Alle wesentlichen Dinge sind einfach, wenn man sie erst einmal begriffen hat. Schwierig ist nur der Weg, den man bis dahin gehen muß.« (Seite 646)

Parallel zur Entfaltung von Lauschers Bestimmung und seiner individuellen Gaben handelt dieser Roman auch davon, wie sich soziales, gesellschaftliches Leben und seine Traditionen gestalten und verändern, wie innere und äußere Führung sich wechselseitig ausbalancieren und zu einer tragfähigen, möglichst gerechten und mündigen Gemeinschaft verbinden können, aber auch, wie die bloß formelhafte Nachahmung eines verehrten Vorbildes konterkarierend zu neuer gesellschaftlicher Unfreiheit, Erstarrung, Ungerechtigkeit und Unfrieden führen kann.

Eine abwechslungsreiche Landschaft aus weiten Wäldern, Gebirgen, Mooren, Grasland und Steppen bildet die Kulisse dieses Romans. Hier erfreut der Autor mit stimmungsvollen Naturbeschreibungen und poetisch-präzisen botanischen Beobachtungen von Pflanzen, Jahreszeiten und Wetterlagen. Mythologische Pflanzen- und Heilpflanzenkenntnisse fließen ebenso selbstverständlich mit ein wie feine Bemerkungen zur magischen Wirkung von Musik.

Da „Stein und Flöte“ ein Märchenroman ist, fehlt es auch nicht an sprechenden Tieren. So trifft Lauscher auf musikalisch-wegweisende Amseln, eine ironische Kröte, einen treuen Esel, eine Geborgenheit gebende Ziegenherde, eine weise Schlange, mehrere tapfere Mäuse, ein wendiges Wiesel und auch auf gefährliche Wölfe und einen sehr speziellen mit Vorsicht zu genießenden, grünäugigen Falken.

Lauscher erfährt unterwegs den Schutz, den Ebereschen vor bösen Kräften bieten, er schließt Freundschaft mit eine Nixe, und er bekommt in einer sehr einsamen Phase seines Lebens von einem geheimnisvollen Steinsucher einen Zirbelholzstab mit eingeschnitztem Gesicht geschenkt, der sich, nachdem er endlich dessen Namen herausgefunden hat, als sehr bedächtiger und angenehm duftender Holzgefährte und ebenso kluger wie tiefenentspannter Ratgeber entpuppt.

Der erzählende Vorleser Oliver Rohrbeck gibt einem beachtlich umfänglichen Stimmen-spektrum abwechslungsreich Ausdruck. Er verleiht männlichen, weiblichen, mütterlichen, väterlichen, kindlichen, jugendlichen, erwachsenen, alten, lauten, leisen, genügsamen, gierigen, ängstlichen, tapferen, herrischen, dienenden, stolzen, gütigen, zornigen, zärtlichen, schelmischen, menschlichen, tierischen, hölzernen und magischen Wesen überzeugende stimmliche Gestalt und Ausstrahlung.

Das Einzige, was mir bei dieser Hörbuchproduktion fehlt, ist eine musikalische Einrahmung des Erzähltextes. Zu Beginn und Ende wesentlicher Teilabschnitte wäre eine kurze Flötenspieleinlage eine schöne akustisch-atmosphärische Abrundung und Bereicherung der Lauscherfahrung. 

Die komplex-verflochtene und sinnlich-lebensvolle Komposition dieses Romans fügt sich aus eigenwilligen, charakterstarken Figuren, vielen Geschichtenverzweigungen, Zeitebenen, Bewußtseinszuständen, philoso- phischen Betrachtungen, poetischer Naturverbundenheit und phantasie- vollen Einzelheiten zu einem faszinierenden Ganzen zusammen. Hans Bemmann verbindet in „Stein und Flöte“ mit großem psychologischen Fingerspitzengefühl östliche und westliche Erzähltraditionen zu einem menschenkenntnisreichen und selbsterkenntniswirksamen Reigen.
 
Romane mit einem solchen Reichtum an archetypischer Seelentiefe, märchenhafter Herzensbildung und gütiger Geistesweite haben Seltenheitswert und lohnen eine wiederholte Lektüre bzw. Auditüre.

» „Darin liegt ja gerade das Geheimnis“, sagte Lauscher. „Wäre das Böse nicht in dieser Welt, wäre jedem Menschen die Freiheit genommen, sich aus eigenem Antrieb für das Gute zu entscheiden. Auf solche Weise ist das Böse stets auch der Diener des Guten. Du kannst die Welt nicht auf einen Schlag ändern. Zunächst geht es immer um den einzelnen Menschen.“ « (Seite 786)

Hier entlang zum Hörbuch und zur HÖRPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.hoerbuch-hamburg.de/hoerbuecher/bemmann-stein-und-floete-5227/

Der Autor:

»Hans Bemmann (1922–2003) studierte Musikwissenschaft und Germanistik. Seine ersten Werke veröffentlichte er in den frühen 1970er-Jahren unter Pseudonym, bis er 1983 mit dem Märchenroman Stein und Flöte eines der Kultbücher der phantastischen Literatur schuf. Das Werk wurde vielfach ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die späteren Romane, in denen der Autor wiederum Märchen und Mythen mit der Bewusstwerdung des Menschen verknüpfte, sind ebenfalls sehr erfolgreich.«

Der Sprecher:

»Oliver Rohrbeck, geboren 1965 in Berlin, ist Schauspieler und ein gefragter Synchron- und Hörbuchsprecher. Bekannt wurde seine Stimme vor allem durch die legendäre Hörspielreihe »Die drei ???«. Außerdem ist Oliver Rohrbeck die deutsche Stimme von Hollywood-Star Ben Stiller.«

Musikalische Zugabe:

Da ich das Fehlen einer musikalischen Einrahmung dieses Hörbuches beklagt habe, will ich nachfolgend eine Flötenmusik von Jacob van Eyck, gespielt von François Lazarevitch, darbieten, die recht gut zu diesem Roman paßt.  🎶 🎶  🎶 

Mit herzlichtem Dank an meinen Musikagenten 😉 Maestro Random Randomsen https://randomrandomsen.wordpress.com/ für die umfangreiche Recherche zu den passenden Flötentönen.  🎶 🎶 🎶

Persönliches Nachwort zur Buchausgabe:

„Stein und Flöte“ ist ein SEHR umfangreiches Werk, das ich vor mehr als 25 Jahren gelesen habe. Dieser Märchenroman von Hans Bemmann ist 1983 in der Edition Weitbrecht als gebundenes Buch erschienen, mit 818 Seiten, bedruckt  in der Schriftype Garamond neun Punkt – also eine ameisenspurenkleine Minischrift. Wäre dieser Roman eine aktuelle Neuerscheinung würde man ihn wohl mindestens in drei Bänden publizieren und vermarkten. 1983 waren die Verlage noch nicht so papierverschwenderisch und marketingstrategisch wie heute, wo bedeutend kleinere und kurzatmigere Werke durch entsprechende Schrifttypen- vergrößerung mindestens auf Trilogie-Format aufgeplustert werden.

Zur Zeit gibt es diesen Leseleckerbissen nur noch
im Taschenbuchformat
im Piper Verlag zu 16,00 € (D), 16,50 € (A):
https://www.piper.de/buecher/stein-und-floete-isbn-978-3-492-28230-7

Es ist wahrlich mehr als wünschenswert, diesen wertvollen Roman in drei gebundenen Bänden, vielleicht noch mit einem feinen Leinenschuber und mit Illustrationen von Friedrich Hechelmann, ganz neu aufzulegen. Hechelmann wäre meiner Ansicht nach der ideale illustratorische „Übersetzer“ für dieses märchenhafte Werk. Also liebe mitlesende Verlage: Ran an eine standesgemäße Buchgestaltung für diese zeitlose Lesekostbarkeit!

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Unter uns die Nacht

  • von Becky Chambers
  • Roman
  • Originaltitel: »Record of a Spaceborn Few«
  • Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karin Will
  • Wayfarer-Universum, Band 3
  • Fischer TOR Verlag, April 2019   http://www.tor-online.de
  • Taschenbuch
  • 464 Seiten
  • 9,99 € (D), 10,30 € (A)
  • ISBN 978-3-596-70262-6

INTERGALAKTISCH

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Nachdem im ersten Band der Wayfarer-Reihe eifrig im All herumgereist wurde und die Handlung des zweiten Bandes hauptsächlich auf zwei Planeten stattfand, konzentriert sich die Handlung des dritten Bandes auf die menschlichen Siedlungsraumschiffe der Exodus-Flotte.

Mit dem dritten Wayfarer-Band gelingt Becky Chambers erneut eine feinsinnige Mischung aus spannender Unterhaltung und historisch-gesellschaftskritischer Reflexion sowie einfallsreicher zukunftsmusikalischer Raumfahrts- und Alltagstechnik. Der größte Lesereiz geht von den lebhaft ausgemalten Charakteren mit ihren unterschiedlichen altersspezifischen Blickwinkeln aus.

Wie wir aus den vorhergehenden Bänden wissen, ist die menschliche Spezies noch nicht lange Mitglied in der GU (Galaktische Union). Die Menschen hatten die Lebensgrund- lagen ihres Heimatplaneten zerstört. Die reichen Menschen hatten sich als Erste aus dem Staub gemacht und waren zum Mars ausgewichen, um dort ihr luxuriöses Leben unter Schutzkuppeln weiterzuführen, während der drastisch dezimierte Rest der Menschheit mit dem vergifteten Leben auf der Erde zurechtkommen mußte. Mit vereinten letzten Kräften und sorgfältiger Ressourcenresteverwertung hatten die Menschen schließlich eine Raumflotte gebaut, mit welcher sie ins All flüchteten.

Die Siedlungsraumschiffe der Exodus-Flotte verfügen – inspiriert von der optimalen Raumnutzung der Bienenwabe – über hexagonale Räume, die sich von der sechseckigen Mehrgenerationen-Familienwohnung (sechs hexagonale Räume, die in einem Ring um einen siebten Gemeinschaftsraum angeordnet sind), bis in die nächstgrößere Rauman-ordnung mit jeweils sechs hexagonalen Nachbarschaftswohnungen sowie schließlich, stufenweise geometrisch multipliziert, in die gesamte Raumstrukturverbindung der Raumflotte erstreckt.

Damals, vor vielen Generationen, schworen sich die Menschen, die Fehler, die sie auf der Erde gemacht hatten, nicht zu wiederholen, und sie entwickelten eine neue Gesell- schaftsordnung sowie umfängliche, sehr effiziente Wiederverwertungskreisläufe. Die Exodaner leben seitdem in einem geschlossen System, in dem Pflanzen für Nahrung, Sauerstoffproduktion und Textilfasern angebaut und Insekten als Nahrungsmittel gezüchtet werden. (Gewöhnen Sie sich schon mal an die beiläufige Erwähnung von Grillen-Frittes und Grashüpferburgern.)

Die Exodaner verschwenden nichts, alles wird so weit wie möglich repariert, geflickt oder dem Stoffkreislauf zur Wiederverwertung eingefügt. Sogar die Leichen werden kompostiert. Dies ist die Aufgabe der Hüter und ein sehr angesehenes Amt. Die Hüter ehren die Verstorbenen mit einer feierlichen Abschieds-Zeremonie für die Angehörigen, kümmern sich um den ordnungsgemäßen Ablauf der Kompostierung und um die Verteilung des Kompostes in die öffentlichen Grünanlagen der Raumflotte.

Jedes Mitglied der Raumflotte hat Anspruch auf Wohnung, Nahrung, Luft, Wasser und öffentliche Dienstleistungen. Für die Grundbedürfnisse aller ist gesorgt, und einen Beruf wählt man nach Neigung und persönlicher Begabung, denn es ist selbstverständlich, einen nützlichen Betrag zur Gemeinschaft zu leisten.

Arbeit wird nicht entlohnt, und ein Ratsmitglied, ein Arzt, eine Ingenieurin, ein Lehrer oder eine Pilotin haben auch keinen größeren Zugang zu Ressourcen als Menschen, die einer einfacheren Tätigkeit nachgehen. Berufe, für die eine lange, spezialisierte Ausbil-dung notwendig ist, oder Berufe, die mit körperlichen Risiken verbunden sind, genießen zwar ein besonders hohes Ansehen, gleichwohl wird auch jede einfache Arbeit geachtet.

In der Raumflotte gibt es keine unwichtigen Berufe, da in einem geschlossenen, über-sichtlichen System der Nutzen und der Zweck jeder Arbeit deutlich erkennbar sind; und dank der Einrichtung der allgemeinverbindlichen Reinigungslotterie hat auch jeder schon vorübergehend die Erfahrung von „schmutziger“ Arbeit gemacht.

Handel gibt es nur in Form von Tauschhandel, so daß letztlich alle Ressourcen innerhalb der Gemeinschaft verbleiben.

Wir lernen das Leben in der Exodus-Flotte aus der Perspektive verschiedener Bewohner kennen:

– die weise, alte Archivarin Isabel, die sowohl die Geschichte der alten Erde als auch die Geschichte, Tradition, Ethik und Fortentwicklung der exodanischen Kultur dokumentiert,

– die Lageristin Tessa, die mit ihrem Vater und zwei Kindern zusammenlebt und mit dem Vater ihrer Kinder eine Fernbeziehung pflegt, da er als Schürfer oft für lange Zeiträume in der Galaxis unterwegs ist. Tessa ist die Schwester von Kapitän Ashley Santoso, dessen Bekanntschaft wir im ersten Band gemacht haben.

– Die dreißigjährige Hüterin Eyas verschafft uns einen Einblick in die einfühlsame und verantwortungsvolle Arbeit der Hüter.

– Der sechzehnjährige Kip wirft aus seiner pubertär-trotzigen, ein wenig hormondrang-vernebelten Sicht und zielunsicheren Sinnsuche einen ganz anderen Blick auf die er-probte, selbstgenügsame Lebensweise der Exodaner und liebäugelt damit, die Flotte zu verlassen und auf einem Planeten zu leben.

Ergänzt werden die Betrachtungsweisen durch zwei Besucher:

– den jungen, verwaisten Sawyer, der auf dem Planeten Mushtullo geboren wurde, und der sich sehnlichst die Zugehörigkeit zu einer solidarischen Gemeinschaft wünscht, und diese in der exodanischen Raumflotte zu finden hofft.

– die Hamargianerin Ghuh’loloan Mok Chutp, die als Ethnographin am Institut für inter-stellare Migration in Reskit arbeitet. Sie stattet ihrer langjährigen Brieffreundin, der Archivarin Isabel, einen Besuch ab, um die exodanische Kultur mit eigenen Augen bzw. Stielaugen zu betrachten und darüber einen Bericht zu verfassen. Ghuh‘loloan ist dies- mal die einzige nicht-menschliche Figur, die ausführlich mit ihren speziesspezifischen körperlichen und kulturellen Merkmalen beschrieben wird. Die Hamargianer haben einen molluskenartigen Körper, der sich ohne technische Unterstützung nur sehr langsam fortbewegen läßt. Deshalb sind sie stets mit einem bequemen fahrbaren Untersatz unterwegs. Sie haben eine sehr empfindliche gelbliche Haut und zahlreiche Gesichtstentakel, mit deren hochdifferenzierter Gestik sie ihre verbale Kommunikation ausdrucksvoll begleiten.

Die Gesellschaft der Exodaner verändert sich durch den Kontakt mit der GU und durch die technischen Zugaben, welche die GU ihnen zur Verfügung stellt. Exodaner, die das Leben unter künstlichen Bedingungen nicht mehr attraktiv finden, wandern auf be- wohnbare Planeten aus. Andere arbeiten – wie beispielsweise Kapitän Ashley Santoso – im Raumtransportwesen, und sie verdienen damit die in der GU übliche Bezahlung in sogenannten Credits.

Dieses Geld geben sie teilweise an ihre Familien weiter, die in der Raumflotte leben, und das verändert das wirtschaftliche Gleichgewicht, da sich nun manche Exodaner Dinge oder Materialien hinzukaufen können, die nicht aus dem internen System stammen.

Seit ein Wohnschiff durch einen Unfall in Kombination mit Materialermüdung zerstört wurde, was Tausende Menschenleben gekostet hat, fragen sich viele Exodaner, ob es nicht sinnvoll wäre, die alte Lebensweise aufzugeben. Schließlich seien sie damals aufgebrochen, um neuen Lebensraum zu finden, und durch den Eintritt in die GU stehen ihnen tatsächlich zahlreiche Optionen dafür offen.

Ensk, die traditionelle Sprache der Exodaner, wird besonders von der jüngeren Gene-ration immer mehr mit der in der GU üblichen Standardsprache Klip vermischt. Manche Menschen begrüßen die Öffnung der Raumflotte für neue Einflüsse, manche sträuben sich dagegen.

Es ist faszinierend, wie die Menschen um ihr kulturelles und ethisches Selbstverständnis ringen. Die Archivarin Isabel bringt es beeindruckend auf den Punkt, warum und wofür der Erhalt der exodanischen Flotte wichtig ist – nämlich als lebendige Erinnerung daran, nie wieder einen Planeten zu zerstören.

„Als unser Planet zu sterben begann, war unsere Spezies voll von Geschichten. Wir hatten Tausende Geschichten über uns selbst …, aber es gab nicht genug von uns, die sich mit der Realität der Dinge befassten. Als die Realität uns einholte und wir began-nen, unsere Geschichten zu verändern, um uns anzupassen, war es zu spät. … Deshalb führen wir Archive, deshalb hinterlassen wir Handabdrücke auf Wänden. Damit wir nicht vergessen. Wir sind unsere eigene Warnung.“ (Seite 407/408)

In diesem Roman tritt eine Menschheit auf, die aus ihren tödlichen Fehlern und lebens-fern-ignoranten Verhaltensweisen wirklich gelernt hat und nun einen konstruktiv-enkeltauglichen Lebensstil pflegt. Die in der Exodus-Flotte geläufigen feierlichen Sätze, die rituell zur Namensgebung und zur Beerdigung eines Menschen gesprochen werden, bringen eine bewundernswerte Demut, ein sehr verantwortungsbewußtes Miteinander und eine zwischenmenschliche Verbundenheit zum Ausdruck, die ebenso ernsthaft-mahnend wie tiefsinnig-anrührend auch zu uns – die wir noch auf einer lebendigen Erde heimisch sind – sprechen.

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.fischerverlage.de/buch/becky_chambers_unter_uns_die_nacht/9783596702626

Eine weitere lobeshymnische Rezension zu „Unter uns die Nacht“ gibt es auf dem Bücher-Blog „Feiner reiner Buchstoff“ https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2019/04/20/record-of-a-spaceborn-few/

Hier entlang zum ersten Band: Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten
Zum zweiten Band: Zwischen zwei Sternen
Zum vierten Band: Die Galaxie und das Licht darin

Die Autorin:

»Becky Chambers ist als Tochter einer Astrobiologin und eines Luft- und Raumfahrt-technikers in Kalifornien aufgewachsen. Die Zeit zum Schreiben ihres ersten Romans hat sie sich durch eine Kickstarter-Kampagne finanziert. Das Buch wurde prompt zu einem Überraschungserfolg.«

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Überall & Nirgends

  • Gedichte über Tod und Trauer
  • Text von Bette Westera
  • Illustrationen von Sylvia Weve
  • Originaltitel: »Doodgewoon«
  • Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf
  • Susanna Rieder Verlag 2016  www.riederbuch.de
  • Halbleinen, gebunden
  • Format: 26 x 23 cm
  • 112 Seiten
  • 3 LESEBÄNDCHEN
  • 25,00 € (D), 26,00 € (A)
  • ISBN 978-3-946100-09-6
  • Für Kinder ab 8 Jahren und für Erwachsene

T R A U E R S T I M M E N

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Bette Westera wagt es, sich einen Reim auf den Tod zu machen. Ihre Gedichte über Tod und Trauer formulieren viele Gefühlsfacetten. Sie öffnen das Herz und bringen Tränen zum Fließen. Die einfühlsamen, ebenso tief ernsthaften wie zuweilen auch sanft schmunzlerischen Gedichte „sprechen“, wo sonst oft Schweigen herrscht.

Die Autorin widmet sich schonungslos hin- und mitfühlend dem Tod von Großeltern, Müttern, Vätern, Geschwistern, Kindern, Neugeborenen und Haustieren. Alters- schwäche, schwere Krankheit, Unfall, Selbstmord oder Nahtoderfahrung – all diesen Erscheinungsformen der Sterblichkeit wird in diesem Buch ausdrücklich Raum und Ehre gegeben. Das ist zugleich schmerzlich und tröstlich; der Tod ist kein Ausnahmefall, er gehört zum Leben.

Die Texte stellen sich der Sterblichkeit, der Trauer, dem Verlust, der Verletzlichkeit, der Verzweiflung, dem plötzlichen Riß im Lebens- und Liebesgefüge, der Sehnsucht und der wehmütigen Präsenz der Abwesenheit und weisen zugleich auf die kostbaren Geschenke des Gewesenen hin und nähren – manchmal ganz direkt, manchmal zwischen den Zeilen – eine Haltung der Dankbarkeit, Demut und Wertschätzung für die erlebte Bindung.

Die Gedichte sind stilistisch in einfacher Sprache geschrieben, gleichwohl feinsinnig und getragen von einem eingängigen sprachmelodischen Klang – wofür dem Übersetzer ausdrücklicher Dank gebührt.

In den vielschichtigen Illustrationen von Sylvia Weve finden die Gedichte eine spiegelnd-ergänzende Entsprechung. Die Illustrationen sind abwechselnd sparsam zurückhaltend und farblich angegraut sowie üppig und bunt. Einige Doppelseiten sind mit Halbseiten zum Umklappen versehen, aus denen sich zusätzliche Verbindungen ergeben.

Bestattungsformen (Erd-, Feuer-, Wasser- und Luftbestattung), verschiedene Jenseits-vorstellungen und Trauerrituale unterschiedlicher Kulturen und Zeitepochen werden dargestellt und ebenso die Themen Erbschaft und Haushaltsauflösung. Kindlich-philosophische Betrachtungen zur Winzigkeit des menschlichen Lebens angesichts der Unendlichkeit des Sternenhimmels fügen sich harmonisch in den poetischen Vergänglichkeitschor ein.

© Sylvia Weve & Bette Westera / Susanna Rieder Verlag

© Sylvia Weve & Bette Westera / Susanna Rieder Verlag

Im Anschluß an die illustrierten Gedichte folgen einige Glossarseiten mit kurzen sachlichen, kindgemäßen Erklärungen zu den zuvor erwähnten Begriffen, die thematisch von Allerseelen über Hospiz bis Reinkarnation reichen.

„Überall & Nirgends“ ist mit drei Lesebändchen ausgestattet, die einer schnellen Markierung von besonders ansprechenden Lesepassagen angenehm entgegenkommen.

Dieses berührende Buch kann Herzen öffnen und Trauer befreien. Zumindest bei einem akuten Trauerfall empfehle ich eine Lektüre gemeinsam mit dem Kind, damit sich aufgewühlte Fragen und Gefühle in einem liebevoll-geborgenen Umfeld entfalten und ausweinen können.

 

Hier entlang zum Buch und zur Leseprobe auf der Verlagswebseite:
https://www.riederbuch.de/programm/lyrik-fuer-junge-leser/

Die Autorin:

»Bette Westera, geboren 1958, ist eine sehr vielseitige Schriftstellerin. Ihr umfangreiches Werk umfasst Bilderbücher, Lyrik, erzählendes Kinderbuch und modernes Märchen. Zielgruppe sind dabei Kinder bis zum Alter von 10 Jahren. Nach einer kurzen Zeit als Grundschullehrerin studierte sie Psychologie. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet.«

Die Illustratorin:

»Sylvia Weve, geboren 1954, hat bereits über 150 Bücher illustriert. Ihre ausdrucksvollen, energiegeladenen Illustrationen korrespondieren wunderbar mit Bette Westeras Texten. Die beiden sind ein erprobtes und äußerst erfolgreiches Autorenduo.«

Der Übersetzer:

»Rolf Erdorf, geboren 1956, studierte Germanistik, Romanistik und Niederländische Philologie in Bonn, Köln und Berlin. Für sein umfassendes Übersetzerwerk wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis und dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis

Gerne widme ich diese Buchbesprechung Petra Pawlofskys wertvoller Sammlung „Kinder im Aufwind“:
https://pawlo.wordpress.com/home-2/fundgrube-fuer-kinder-im-aufwind/fundgrube-3-kurzvorstellung-der-beitraege-ab-juli-2017/

Querverweis:

Hier folgen ergänzende Links zu weiteren Kinderbüchern zu den Themen: Abschied, Tod und Trauer:

Ente, Tod und Tulpe
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2017/06/13/ente-tod-und-tulpe/
Erik und das Opa-Gespenst

https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/12/05/erik-und-das-opa-gespenst/
Kleiner Fuchs Großer Himmel
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/11/23/kleiner-fuchs-grosser-himmel/
Nur ein Tag
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/10/13/nur-ein-tag/
Oma trinkt im Himmel Tee
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/11/26/oma-trinkt-im-himmel-tee/
Opa Meume und ich 
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/02/20/opa-meume-und-ich/
Der Tod auf dem Apfelbaum
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/03/20/der-tod-auf-dem-apfelbaum/
Wie lange dauert Traurigsein?
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/12/03/wie-lange-dauert-traurigsein/

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Fünf Meditationen über den Tod und über das Leben

  • von François Cheng
  • Aus dem Französischen von Thomas Schultz
  • C.H.Beck Verlag  August 2015   http://www.beck.de
  • Gebunden, mit Schutzumschlag
  • 169 Seiten
  • 16,95 € (D), 17,50 € (A)
  • ISBN 978-3-406-68319-0
  • E-Buch 13,99 €
  • Umschlagabbildung © Hanka Steidle / plainpicture
    Fünf Meditationen über den Tod und das Leben

LEBENSWACH  UND  TODESMUTIG

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

In weiser Gelassenheit, schicksalserprobter Demut und mit großer kultureller Flügelspannweite umkreist François Cheng in seinem Buch Leben und Tod aus. Das Werk entstand aus philosophischen Gesprächen mit Freunden, und so wird auch der Leser stets zu Beginn jeden Kapitels mit in den Freundeskreis eingeladen, um zu leselauschen, hinzuspüren und sich dem Thema zu stellen.

Vertraut mit fernöstlichen sowie westlichen poetisch-philosophischen Traditionen stellt François Cheng beispielsweise Rilke-Gedichte sowie Tagebucheinträge von Etty Hillesum neben Weisheiten Laozis und weist auf ihre korrespondierenden Sichtweisen bezüglich Sein und Werden, Ewigkeit und Vergänglichkeit, Gott und Religion, Gut und Böse, Leben und Tod hin.

Es geht dem Autor in seiner Darstellung keineswegs um Todessehnsucht, sondern um eine achtungsvolle Akzeptanz der Sterblichkeit, die eine zugewandte Haltung zur kostbaren Einmaligkeit des Lebens verstärkt. Anstatt vom Leben aus ängstlich auf den Tod zu blicken, schaut François Cheng vom Tode aus mutig auf das Leben.

„Den Tod in unsere Sicht eingliedern, heißt, das Leben als ein Geschenk von unschätzbarer Großzügigkeit zu empfangen.“
(Seite 37)

Des weiteren wird in den insgesamt fünf Kapiteln über Körper, Geist und Seele, Eros und Liebe, Leere und Fülle, Kunst und Transzendenz, Trost und Verantwortung sowie Zeit und Augenblick reflektiert. Dabei bezieht sich der Autor u.a. auf Stendhal, Michelangelo, Marcel Proust, Simone Weil, Victor Hugo, Teilhard de Chardin, Pascal, Meister Eckhart, Friedrich Nietzsche, auf den Daoismus und Konfuzianismus sowie auf viele Dichter, u.a. Keats, Shelley, Wang Wei und immer wieder Rilke.

„Jedes Kunstwerk ist in seinem erhabensten Zustand Einklang der Seele mit der Seele der anderen und mit dem SEIN. Auf diese Weise sucht jeder Schöpfer Raum und Zeit zu überwinden, Trennung und Tod zu transzendieren. Er strebt nicht nach Kommunikation, sondern nach Kommunion.“
(Seite 89)

Gerade die Schmerzempfindlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens taucht seine Schönheit und Einmaligkeit in ein besonders intensives Licht. Erst das Bewußtsein des Todes lehrt uns die Kostbarkeit des Lebens.

Im Verlaufe der ersten vier Kapitel ergänzen und illustrieren zitierte Verse und Gedicht- strophen sowie Tagebucheinträge den philosophisch-meditativen Diskurs. Das fünfte Kapitel indes enthält eine Auswahl von François Chengs eigenen Gedichten und verläßt sich schließlich ganz auf die Poesie, als das Instrument, das sich am besten für ein letztes Wort eignet.

So wähle ich zum poetischen Ausklang auch ein paar Verse von François Cheng aus und übergebe sie dem Augenblick.

„ … Inmitten der überwältigenden Sternenunermesslichkeit?
Aufblitzen dieses winzigen Herzens, das da schlägt,
An diesem Nachmittag einer Sommersonnenwende …
Dank sei dem Wunder, das bewirkt, dass dies ist…“      (Seite 159)

François Cheng ©

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.chbeck.de/cheng-fuenf-meditationen-ueber-tod/product/14942043

Der Autor:

»François Cheng, geb. 1929 in China, siedelte bereits mit 19 Jahren nach Frankreich über. Er hat zahlreiche Romane, Gedichtsammlungen sowie Arbeiten über das chinesische Denken und die chinesische Kunst verfasst und ist darüber hinaus ein berühmter Kalligraph. Seit 2002 ist er Mitglied der Académie française.
Bei C.H. Beck ist 2013 vom ihm außerdem erschienen: Fünf Meditationen über die Schönheit.«

 

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Kleiner Fuchs Großer Himmel

  • Text von Brigitte Werner
  • Illustrationen von Claudia Burmeister
  • Verlag Freies Geistesleben, 2015  http://www.geistesleben.de
  • Format 27 x 21 cm
  • 48 Seiten
  • gebunden, Fadenheftung
  • 16,90 € (D)
  • ISBN 978-3-7725-2793-7
  • Bilderbuch ab 5 Jahren
    Kleiner Fuchs Großer Himmel Titelbild

DAS  GANZE  LEBEN

Bilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

In diesem äußerst feinfühligen und großherzigen Bilderbuch führt die Erfahrung des Trauerns und Tröstens gleichsam ins allverbindende Herzklopfen des ganzen Lebens.

Der kleine Fuchs trauert um seinen verstorbenen Großvater. Fuchsmama und Fuchs- papa erklären ihrem Kind, daß der Großvater nun im Himmel beim GroßenLiebenFuchs sei, der alles wisse und sich bestimmt himmlisch um alle Bedürfnisse des Großvaters kümmere. Diese Vorstellung tröstet den kleinen Fuchs ein wenig, aber nicht ganz.

In der Nacht träumt das Fuchskind davon, wie gut es dem Großvater im Himmel geht, und der Großvater winkt seinem Enkel vertraulich zu.

Fuchs_11-12

Illustration von Claudia Burmeister © Verlag Freies Geistesleben 2015

Wieder ein kleines Stückchen getröstet, sucht der kleine Fuchs am nächsten Tag ein sonniges Fleckchen im Wald auf, wo sein Großvater früher gern zum Sonnenbaden lag. Die Erinnerung weckt wieder Traurigkeit, und das Fuchskind spürt, wie Tränen in seine Augen steigen. Ein Eichhörnchen, das des Weges kommt, fragt den kleinen Fuchs nach dem Grund seiner Trauer und setzt sich in stiller Anteilnahme neben das Fuchskind. Schließlich sagt das Eichhörnchen, daß der Großvater nun beim GroßenLiebenEich- hörnchen weile und daß dieses ganz bestimmt gut für den Großvater sorge.

In der folgenden Nacht träumt der kleine Fuchs davon, wie das GroßeLiebeEichhörn- chen den Großvater mit leckeren, weichen Sachen füttert, und wieder winken sich Großvater und Enkel vertraulich zu.

Tag für Tag spaziert der kleine Fuchs zu verschiedenen großväterlichen Erinnerungs- plätzen und trifft dabei unterschiedliche Tiere, die ihr Mitgefühl zeigen und ihm ihre himmelsgöttliche Version zum Trost anbieten. Trotz seiner Verwirrung über die vielen unterschiedlichen Tiergötter träumt er Nacht für Nacht von seinem Großvater Fuchs in den verschiedenen und doch auch wieder ähnlichen Himmeln.

Fuchs_19-20a

Illustration von Claudia Burmeister © Verlag Freies Geistesleben 2015

So lernt der kleine Fuchs den Glauben an die GroßeLiebeSchnecke, an den Großen- LiebenBuntspecht und an den GroßenLiebenFrosch kennen. Dann trifft er eine weiße Eule und auch diese weiß von einem gütigen, allwissenden überirdischen Wesen zu berichten.

Fuchs_23-24

Illustration von Claudia Burmeister © Verlag Freies Geistesleben 2015

Als der kleine Fuchs nachfragt, ob die GroßeLiebeWeißeEule so wäre wie der Große- LiebeFuchs, denkt die weise, weiße alte Eule lange, lange nach und verkündet dem kleinen Fuchs, daß sein Großvater ebenso weit oben im Himmel sei wie ganz nah im Herzen des kleinen Fuchses, weil er ihn lieb habe. Schließlich selbst angenehm über- rascht von ihrer neuen Erkenntnis, fügt sie hinzu, daß die GroßeLiebeWeißeEule einfach alles sei und sich in allen Erscheinungen der Natur zeige, sogar im Wald, im Wind im Regen sowie als GroßerLieberFuchs, GroßeLiebeAmeise und und und …

Fuchs_27-28

Illustration von Claudia Burmeister © Verlag Freies Geistesleben 2015

 

Frohgemut läuft der kleine Fuchs daraufhin zu seinen Eltern und erzählt ihnen, was er über die Einheit in der großen Vielheit des Lebens und Glaubens gelernt hat.

„Und in der Nacht träumte das Fuchskind von dem Himmel.
Der war wirklich sehr GROOOOOSSS!!!
Er hatte Platz für alle.

Und DerDieDasGroßeLiebeWeiseAllesAllesAllesWasIst
hatte Großvater Fuchs in seinem
FlügelFlossenPfotenHerzUndAllesAndereAuchArm
und hatte ihn lieb.

So wie den kleinen Fuchs.“

Die Autorin findet für die unterschiedlichen Gottes-, Schöpfungs- und Jenseitsvor- stellungen Naturbilder, die ebenso anschaulich wie poetisch und lebensfarben sind. Schön ist zudem, wie sie diese Vorstellungen aus den existenziellen Lebensbedürfnissen der verschiedenen Tiere ableitet. So thront der Schneckengott auf einem riesigen Kopfsalat und das GroßeLiebeEichhörnchen auf einer Riesennuß.

Den Gefühlen des kleinen Fuchses wird in warmherzigen, kindgemäßen Maßeinheiten greifbare Gestalt gegeben: „Da war das Fuchskind ein bisschen froh. Aber immer noch ganz viel traurig.“, oder: „Da war das Füchslein ein kleinkleinkleinesbisschen weniger traurig.“ Die kapitelweise wiederkehrenden tröstlichen Schlüsselsätze geben der Geschichte einen verbindenden, zyklischen Rhythmus und unterstützen die Bilderbuch-Vorlesegeborgenheit.

Die phantasievollen Illustrationen sind in einer Malcollagen-Mischtechnik mit wandelbar-proportionierten Raumperspektiven gestaltet und offenbaren beim verweilenden Betrachten zahlreiche verspielte Details.

Das Bilderbuch „Kleiner Fuchs Großer Himmel“ ist erfüllt von einer tiefen, zärtlichen Lebenszugewandtheit und heiteren Demut. Mit dieser Flügel- spannweite gelingt hier das Kunststück, die kleine Endlichkeit tröstlich mit der großen Unendlichkeit zu verbinden. So gehören wir dem Leben, ohne es zu besitzen.

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.geistesleben.de/Buecher-die-mitwachsen/Bilderbuch/Kleiner-Fuchs-grosser-Himmel.html

 

Die Autorin:

»Brigitte Werner, geboren 1948, lebt und arbeitet im Ruhrgebiet und an der Schlei. Sie wollte immer Lehrerin werden, aber noch lieber wollte sie Geschichten erzählen. Nach zehn Jahren Schuldienst und einem Berg ungeschriebener Bücher ist sie umgestiegen in das Leben ohne festes Gehalt, ohne Chef und Vorschriften, aber mit einem Sack voller Lebensideen. Sie hat in ihrem Kindermitspieltheater gespielt, gewerkelt und die Stücke geschrieben, hat ein paar Preise bekommen und schreibt nun für Kinder und Erwachsene. Ihr bisher erfolgreichstes Buch ist Kotzmotz der Zauberer.«

Die Illustratorin:

»Claudia Burmeister, geboren 1976, studierte Grafik und Design in Anklam sowie Germanistik und Erziehungswissenschaften an der TU Berlin. Bis 2011 arbeitete sie als Angestellte in einer Wohnstätte für geistig behinderte Menschen in Berlin und nebenberuflich als Grafikerin und Künstlerin. Seit September 2011 wohnt sie mit ihrer Familie samt Uroma in der Mecklenburgischen Schweiz und arbeitet wieder hauptberuflich als Grafik-Designerin, Kunstschullehrerin und Illustratorin.«

Querverweise:

Hier folgen Links zu weiteren Kinderbüchern zu den Themen: Abschied, Tod und Trauer:

Ente, Tod und Tulpe
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2017/06/13/ente-tod-und-tulpe/
Erik und das Opa-Gespenst

https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/12/05/erik-und-das-opa-gespenst/
Nur ein Tag
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/10/13/nur-ein-tag
Oma trinkt im Himmel Tee
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/11/26/oma-trinkt-im-himmel-tee/
Opa Meume und ich 
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/02/20/opa-meume-und-ich/
Der Tod auf dem Apfelbaum
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2016/03/20/der-tod-auf-dem-apfelbaum/
Überall & Nirgends / Gedichte über Tod und Trauer
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2018/07/03/ueberall-nirgends/
Wie lange dauert Traurigsein?
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/12/03/wie-lange-dauert-traurigsein/

 

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Die Brandungswelle

  • von Claudie Gallay
  • aus dem Französischen von Claudia Steinitz
  • btb Verlag  November 2011  http://www.btb-verlag.de
  • Taschenbuch
  • 560 Seiten
  • 9,99 (D), 10,30 € (A), 14,50 sFr.
  • ISBN 978-3-442-74313-1
    Die Brandungswelle von Claudie Gallay

EIN  LEISES  BUCH  MIT  TIEFSINN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

„Die Brandungswelle“ wird von einem Ich erzählt, dessen Namen wir bis zum Schluß nicht erfahren, doch das fällt mir erst jetzt beim Schreiben dieser Buchbesprechung auf. Auch der verstorbene Liebste der Erzählerin, an den sie manchmal unmittelbar das Wort richtet, bleibt für uns Leser ein namenloses Du.

Die Erzählerin ist Biologiedozentin, hat sich nach dem Tod ihres Mannes von der Universität beurlauben lassen und sichtet nun im Auftrag eines ornitologischen Zentrums Vögel an der nordwestlichen Küste der Normandie. In dem kleinen Hafenort La Hague wohnt sie im ersten Stockwerk eines Hauses, das gefährlich nah am Meer steht. Im Stockwerk darunter wohnt der Bildhauer Raphaël zusammen mit seiner jüngeren Schwester Morgane. Diese drei Zugereisten leben familiär-freundschaftlich beieinander.

Jeder ist auf seine Weise in La Hague gestrandet und vorläufig geblieben. Jeder respektiert den verletzlichen Gefühlsraum und das Schweigen des anderen, überbrückt aber auch die individuelle Einsamkeit durch eine Form des Mitgefühls, die mehr in körperlichen Gesten als in tiefschürfenden Worten  zum Ausdruck kommt.

Lambert,  ein neuer Gast in La Hague, erweckt die vorsichtige Neugier der Erzählerin und sorgt bei den Einheimischen für Unruhe. Er bezieht das alte Ferienhaus seiner Eltern, und wir erfahren, daß er als Kind bei einem tragischen Bootsunfall seine Eltern und seinen kleinen Bruder verloren hat. Angeblich war das Leuchtturmlicht ausge- schaltet worden und das Boot seiner Eltern dadurch an den Küstenfelsen zerschellt. Nach und nach zeigen sich die Verstrickungen einiger Dorfbewohner mit diesem Unglück, alte Geheimnisse werden gelüftet, aber die Zuordnung von Schuld und Unschuld, Gut und Böse erweist sich als sehr komplex und ambivalent.

Während Lambert seine Nachforschungen vorantreibt und auch die Erzählerin ihren Anteil am Entwirren der Schicksalsfäden hat, kommen sich diese beiden verlustgeprüften Menschen sehr behutsam und langsam näher.

Die Sprache, in der diese Geschichte vom Verlieren und Finden gestaltet ist, verdient besondere Beachtung; sie ist von ganz außergewöhnlicher Textur. Wie der Bildhauer Raphaël mit seinen Figuren unausgesprochenen Gefühlen sichtbare Gestalt gibt, so meißelt die Autorin ihre Geschichte aus der Sprache heraus: schnörkellos, karg, rauh, elementar, durchatmet von einer beeindruckenden Demut. Sie erschafft damit eine naturbelassene Gefühlslandschaft von starker und unmittelbarer Präsenz.
Eine Kostprobe davon gibt das folgende Zitat, dem ich hiermit auch gerne das Schlußwort überlasse:

 „Wir machten ganz dicht an der Steilküste Halt, fast am Rand, zwei verlorene Seelen im Angesicht des Meeres, des Ursprungs der Welt. Das Meer wich zurück, kam wieder, Bäume wuchsen, Kinder wurden geboren und starben.

Andere Kinder traten an ihre Stelle. Und das Meer blieb dabei immer gleich. Eine Bewegung, die keiner Worte bedurfte. Die wirkte. Seit Monaten verschmolz ich mit dieser Landschaft, langsam wie ein Tier im Winterschlaf. Ich schlief. Ich aß. Ich lief. Ich weinte.Vielleicht war meine Anwesenheit hier deswegen möglich. Weil sie akzeptabel war. Wegen meiner Stille.“

 

Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Die-Brandungswelle/Claudie-Gallay/btb-Taschenbuch/e381573.rhd

 

Die Autorin:

»CLAUDIE GALLAY, 1961 im Département Isère geboren, ist eine der populärsten Schriftstellerinnen Frankreichs. Ihr internationaler Durchbruch war der Bestseller »Die Brandungswelle«, der monatelang auf der französischen Bestsellerliste stand, mehrfach ausgezeichnet wurde und in weiteren elf Ländern erschien.«

 

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