Der Klang der Wälder

  • von Natsu Miyashita
  • Roman
  • Originaltitel: »Hitsuji to Hagane no Mori«
  • Aus dem Japanischen von Sabine Mangold
  • Insel Verlag 2022 www.insel-verlag.de
  • Taschenbuch
  • 238 Seiten
  • 11,00 € (D), 11,40 € (A)
  • ISBN 978-3-458-68217-2

Der Klang der Wälder

K L A N G S P U R E N

Rezension von Ulrike Sokul ©

Eine zufällige Begegnung führt den Schüler Tomura kurz vor dem Schulabschluß zu seiner Bestimmung. Ein Lehrer bittet ihn, stellvertretend den Klavierstimmer in der Schule zu empfangen und ihn zum Schulklavier, das in der Turnhalle steht, zu begleiten.

Tomura führt also Herrn Itadori, den Klavierstimmer des örtlichen Musikinstrumenten-händlers, in die Turnhalle. Während der Klavierstimmer einige Töne anschlägt, wird Tomura unmittelbar von diesen Klängen ergriffen und erinnert sich an seine Kindheit, an sein heimatliches Bergdorf und an die ausgedehnten Wälder, ja, er riecht sogar plötzlich den Wald.

Fasziniert beobachtet er die sorgfältige Arbeit des Klavierstimmers, die Werkzeuge und die Prüfung der Töne. Itadori erklärt ihm bereitwillig einige Details zum Aufbau eines Klaviers, er spricht von Tasten, Saiten und Hämmern, die mit Filzköpfen ausgestattet sind, sowie über Holzarten. Zum Abschied gibt ihm Itadori seine Visitenkarte und lädt ihn dazu ein, ihn im Klaviergeschäft zu besuchen.

Tomura folgt dieser Einladung und fragt Itadori bei dieser Gelegenheit spontan, ob er ihn als Lehrling annehmen würde. Freundlich weist er Tomura auf eine Fachschule für Klavierstimmer hin, die er zunächst absolvieren solle. Dann sähe man weiter.

Entschlossen und diszipliniert läßt sich Tomura auf dieses zweijährige, durchaus an-strengende Studium ein und wird tatsächlich als Lehrling eingestellt. Praktische Erfahrung erwirbt Tomura nun durch das tägliche Stimmen der Klaviere und Flügel, die sich im Ladenlokal befinden. Außerdem begleitet er die älteren und erfahrenen Klavierstimmer bei Hausbesuchen. Zwar darf er nur selten mit Itadori zusammen- arbeiten, aber Itadori bleibt gewissermaßen sein Leitstern und Vorbild.

So sammelt Tomura vielsaitige handwerkliche und zwischenmenschliche Erfahrungen. Er erlebt helle und dunkle Augenblicke, Selbstzweifel und Unsicherheit hinsichtlich seiner Fähigkeiten, aber ebenso Ermutigung und eine langsam wachsende Verfeinerung seines handwerklichen Könnens – und beiläufig auch seiner persönlichen Gestimmtheit.

In regelmäßigen Abständen stimmt Tomura das Klavier eines jungen Mädchens namens Kazune. Er schätzt ihr Klavierspiel ganz besonders und freut sich immer, wenn er ihrem Spiel lauschen darf. Als Kazune sich entschließt, Profi-Pianistin zu werden, bemüht sich Tomura stärker darum, den Klang des Klaviers auf Kazunes Spielweise und auf ihr Wesen abzustimmen. Dies vertieft sein Verständnis für das Klavierstimmen weit über das rein Handwerklich-Technische hinaus, und es beflügelt ihn, freudig und dankbar seinen Betrag zur Schönheit der Musik zu leisten.

Neben der Entwicklung und Reifung von Tomuras Charakter und der Entfaltung seiner Fähigkeiten erliest man in diesem Roman viel Wissenswertes über Theorie und Technik des Klavierstimmens. Anfänglich ist sich Tomura unsicher, ob er dem richtigen beruf-lichen Weg folgt. Doch Schritt für Schritt und buchstäblich Klaviertaste für Klaviertaste klärt sich der Weg, öffnet sich der Horizont. Tomura findet im Dienst für die Musik und im wohlgestimmten Klavier nicht nur die Schönheit des Klangs, sondern die Klänge evozieren die Schönheit und Verbundenheit der Welt, der Wälder, der Jahreszeiten – der Klang atmet und verleiht dem Leben poetischen Sinn.

Natsu Miyashitas Sprache ertönt auf sehr klare, leise, ruhige, sanftmütige Weise und schwingt gleichsam in harmonischer Resonanz mit der Romanhandlung.

»Nach und nach war mir klar geworden, dass Musik kein Wettbewerb sein sollte. Und das gilt erst recht für Klavierstimmer. Da hat Konkurrenzdenken schon gar nichts zu suchen. Wenn man nach etwas strebt, dann sollte es kein Platz auf einer Rangliste sein, sondern ein Zustand der Seele.« (Seite 152)

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.suhrkamp.de/buch/natsu-miyashita-der-klang-der-waelder-t-9783458682172

Die Autorin:

»Natsu Miyashita wurde 1967 in der japanischen Präfektur Fukui geboren. Sie liest für ihr Leben gern und spielt Klavier, seit sie klein war. Für „Der Klang der Wälder“ erhielt sie den renommierten japanischen Buchhändlerpreis. Der Roman war in Japan ein Millionen-bestseller und wurde 2018 von Kojiro Hashimoto verfilmt.«

Die Übersetzerin:

»Sabine Mangold, geboren 1957, hat mehrere Jahre in Japan als Dozentin gearbeitet und zahlreiche literarische Werke aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen. 2019 wurde sie mit dem Preis der Japan Foundation ausgezeichnet. Mangold lebt in Berlin.«

31 Kommentare zu “Der Klang der Wälder

  1. Kurz und bündig: nach einigem Überlegen (und schon immer neugierig auf die erweiterte Persönlichkeit von Klavierstimmern weil jene, mit denen ich in Berührung kam, nach meinem Eindruck aufgrund ihrer abschließenden Probe ihrer Arbeit mehr ‚draufhatten‘, als die fallweise ewiglich dauernde Klimperei mit stets nur einer Taste, oberflächlich vermuten ließ ;-)) und bemessen des Sundoku hab ich es heute doch bestellt; im Verbund mit dem zuvor besprochenen Buch … 😉

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  2. Empfindungen der Seele sollten immer Vorrang vor unseren menschengemachten, zerstörerischen Wettbewerben haben. Und alle Empfindungen sind dabei gleich viel wert – auch wenn wir sie sprachlich mit möglicherweise wertbelegten Begriffen bezeichnen.
    Danke für Deine Einladung, dieses Buch zu lesen.

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    • Hab‘ Dank für Dein Leseinteresse und Deinen Einklang mit dem im Zitat betonten Vorrang der seelischen Empfindungen. Konkurrenzdenken und Wettbewerbsbetonung wirken einer tieferen kreativen und musischen Entfaltung eher entgegen.
      Harmonische Grüße von mir zu Dir 🙂

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  3. Da bin ich eben ganz fix 30 Jahre zurück gehüpft und sah meinen Klavierstimmer und meinen verstorbenen Exmann. Der Klavierstimmer kommt – schlägt Töne an und der Mann sagtfragt: Oh, da kann man so Schönes drauf spielen?..
    Meine Tochter hat ihm anschließend bewiesen, dass noch mehr geht… 😉

    Die Geschichte des vorgeschlagenen Buches klingt also emotional gefärbt schon von daher ansprechend.

    Liebe Grüße,
    Syntaxia

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  4. Das klingt, als würde es mir gefallen. Ich werde danach schauen. Ich hab gerade von Murakami „Die Ermordung des Commendatore II“ gelesen. Da geht es auch um Musik – der Titel bezieht sich auf Mozarts Don Giovanni – aber mehr noch um Malerei. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich „reingekommen“ bin, dann fand ich es spannend mit interessanten Einblicken in andere Lebens- und Denkweisen.

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    • Hab‘ Dank, liebe Bruni, für Deine zugeneigte Resonanz auf meine Buchbesprechung. Du kannst Dir ja ruhig Zeit lassen, und diesen Roman dann lesen, wenn Du genug Muße dafür hast.
      Liebe Gutenachtgrüße auch von mir zu Dir!

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  5. Danke für diese wohltemperierte Rezension, liebe Ulrike. Das Buch klingt sicher auch nach dem Zuendelesen noch lange nach.
    Ich muß mit Scham gestehen, daß ich noch ein Buch eines asiatischen Schriftstellers gelesen habe, eine echte Bildungslücke. Hast Du einen Vorschlag für einen ersten Einstieg?
    Lieben Gruß,
    Tanja

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    • Vielen Dank, liebe Tanja, für Dein Leseinteresse und Deine Nachfrage.
      Für den Einstieg ins Kennenlernen eines asiatischen Schriftstellers finde ich „Der Klang der Wälder“ durchaus geeignet, zumal auch einige Facetten der japanischen Mentalität darin mitspielen und weil dieses Buch in Japan sehr beliebt ist.
      Interessant ist auch der autobiografische Roman „Abendkranich“ von Hisako Matsubara sowie Banana Yosimotos Roman „Lebensgeister“ Lebensgeister
      Mein persönlicher Einstieg in japanische Literatur fand allerdings über die japanische Kurzgedichtform des HAIKU statt.
      Nachfolgend ein Nachleselink: HAIKU
      Herzlich grüßt
      Ulrike

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      • Ich danke Dir für Deine Antwort und Vorschläge, liebe Ulrike, und werde mich nach den empfohlenen Büchern umschauen. Da ich noch nicht so bald in Deutschland sein werde, suche ich mir wahrscheinlich die englischen Übersetzungen.
        Herzliche Grüße,
        Tanja

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  6. Klingt seeehr interessant, liebe Ulrike. Hat mich sofort an den tollen Roman „Der Klavierstimmer “ von Pascal Mercier erinnert. Mal sehen, was ich nun als nächstes lesen werde *lächel *
    Herzliche Abendgrüße vom Lu

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    • Es freut mich, lieber Lu, daß Dich „Der Klang der Wälder“ anspricht. 🙂
      Den Roman „Der Klavierstimmer“ von Pascal Mecier habe ich zwar nicht gelesen, gleichwohl vermute ich, daß Dir Natsu Miyashitas musikalischer Roman zusagen wird.
      Herzliche Abendgrüße von mir zu Dir 🎶

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      • Beim Klavierstimmer von Mercier stellt sich beim Lesen bald heraus, dass er nicht nur Klaviere stimmen kann, sondern auch Opern komponieren 🙂
        Herzliche Morgengrüße vom Lu

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  7. Das klingt ausgesprochen fein und sehr einladend. 🌟 Ganz besonders freut es mich, dass dieser Roman in gewisser Weise eine Hommage an einen Berufsstand ist, der nicht immer die verdiente Anerkennung bekommt. Naturgemäß stehen Klavierstimmer nicht im Rampenlicht, worüber einige auch heilfroh sind. Aber wenn ein Klavier die ihm innewohnende Fülle des Wohllauts gänzlich ausleben darf, ist es sicher nicht verkehrt, einen dankbaren Gedanken in Richtung des Klavierstimmers zu senden.
    Sehr ansprechend finde ich auch bereits den Beginn der Geschichte. Denn es kommt tatsächlich immer mal wieder vor, dass jemand plötzlich und unerwartet zu einer Berufung findet, von der er zuvor noch nicht einmal träumen konnte, weil ihr eigentliches Wesen ihm bis dato unbekannt war.
    Mit einem wohlgestimmten Abendgruß 🐻

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    • Verbindlichen Dank für Deinen harmonischen Einklang mit meiner Buchempfehlung. 🙂
      Ich begrüße es ebenfalls, daß in diesem Roman der Berufsstand des Klavierstimmers einfühlsam gewürdigt wird.
      Vor vielen Jahren war ich mit dem Liebesliebsten während einer Reise in einem Lokal. Dort wurde in einem Nebenzimmer das Klavier gestimmt. Neugierig schauten wir nach, der Klavierstimmer ließ uns zuschauen und kam später noch an unseren Tisch und erzählte uns von seiner langjährigen Ausbildung und von seiner Liebe zum Beruf. Er wirkte auf uns sehr authentisch und sympathisch in seiner Berufung und Begeisterung. Es führte dazu, daß ich beim Hören von Klaviermusik nicht mehr nur an den Komponisten und Interpreten denke, sondern auch an den unsichtbaren Klavierstimmer.
      Mit einem ebenfalls wohlgestimmten Abendgruß von mir zu Dir 🎶🎶🎶

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  8. Diese Beschreibung ist ja wie Musik! Und ist zugleich Ausdruck einer wunderbaren Menschlichkeit! Da wird einem warm ums Herz.
    Dabei ist es ja zugleich ein ganz handwerklich-praktisches Buch.
    Ich finde gar keine Worte, da alles viel schöner „zum Klingen“ kommt in dieser Rezension.

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    • Vielen Dank, liebe Gisela, für Deine ausdrückliche Zustimmung zu Inhalt und Stil meiner Rezension! 🙂
      Und Du hast ganz richtig erlesen, daß dieser Roman neben den musisch-musikalischen und zwischenmenschlichen auch die handwerklich-praktischen Facetten des Klavierstimmens beschreibt.

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  9. Ich habe mir das Buch sofort bestellt. Ich bin sehr gespannt. Danke für die schöne Rezension. Es gibt eine Anime-Serie, ich bin selbst erstaunt, aber sie ist wirklich gut, die auch übers Klavierspielen geht (Sekunden in Moll), die ich wärmstens empfehlen kann (ich habe sie zweimal gesehen). Nun bin ich gespannt auf Klang der Wälder! Danke!

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