Das ist mein Baum

  • Text und Illustrationen von Olivier Tallec
  • Originaltitel: »C‘est mon arbre«
  • Übersetzung aus dem Französischen von Ina Kronenberger
  • Gerstenberg Verlag, Juli 2020  www.gerstenberg-verlag.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • matt laminiert
  • Format: 20 x 28 cm
  • 36 Seiten
  • durchgehend farbig
  • 13,00 € (D), 13,40 € (A), 16,90 sFr.
  • ISBN 978-3-8369-6069-4
  • Bilderbuch ab 3 Jahren laut Verlag
  • ab 4 Jahren laut meiner Einschätzung

EIN  EIGENTÜMLICHER  MEINLING

Bilderbuchbesprechung  von Ulrike Sokul ©

Das Eichhörnchen aus Olivier Tallecs Bilderbuch „Das ist mein Baum“ ist sehr auf seinen Besitzanspruch an seinen Baum und seine Kiefernzapfen fixiert. Es sorgt sich unent- wegt, daß ein anderes Eichhörnchen Anspruch auf seinen Baum erheben, es sich in seinem Baumschatten gemütlich machen und gar seine Zapfen verspeisen könnte, ja, vielleicht – so die angstvolle Vorstellung – wollten sogar alle anderen Tiere ebenfalls an seinem Baum und dessen Vorzügen teilhaben.

Dem will das Eichhörnchen energisch vorbeugen, denn es ist ein ausgesprochen eigen-tümlicher Meinling. Es erwägt, ein großes Tor aufzustellen, das seinen Baum als sein Eigentum markiert, oder einen Lattenzaun rundherum um seinen Baum zu ziehen. Da ihm diese Maßnahmen immer noch nicht ausreichend erscheinen, baut es eine dicke, hohe und sehr lange Mauer, damit sein Baum vor fremden, unbefugten Zugriffen bestmöglich geschützt sei. Diese Schutzmauer wird so lang, daß sie schließlich an eine andere Mauer stößt.

Illustration von Olivier Tallec © Gerstenberg Verlag 2020

Angesichts dieser Mauer fragt sich das Eichhörnchen, was sich wohl dahinter befinden mag. Sogleich stellt es sich Zapfen vor, die noch viel größer sind als die Zapfen seines Baumes, sowie einen anderen Baum, der viel schöner und noch höher ist und viel mehr Zapfen trägt als sein eigener Baum. Vielleicht ist sogar ein ganzer Wald hinter dieser Mauer zu finden, der nur darauf wartet, vom nimmersatten Eichhörnchen in Besitz genommen zu werden.

Das Eichhörnchen erklettert die Mauer, und auf dem Mauersims eröffnet sich ihm die Aussicht auf einen nahen Wald voller Bäume und jede Menge fröhlich herumspringen- der und -kletternder Eichhörnchen. Da macht es große Augen und staunt, und es wirkt ein bißchen verloren, aber auch sehnsüchtig. Es könnte sein, daß in diesem Meinling durchaus noch ein Miteinanderling verborgen ist …

Illustration von Olivier Tallec © Gerstenberg Verlag 2020

Die Geschichte dieses besitzergreifenden Eichhörnchens wird von Olivier Tallec in ein-fachen kurzen Sätzen mit unmittelbarer Aussage erzählt. Durch die ausdrucksvolle Körpersprache und Mimik zeigen die Illustrationen von Olivier Tallec sehr präzise und zugleich mit einem amüsanten Schmunzeleffekt, was das Eichhörnchen denkt und fühlt.

Einerseits ist das Eichhörnchen ein ausgemachter, am Haben und Behalten orientierter Egoist, andererseits wirkt es trotz seiner wehrhaften Besitzverteidigungsbemühungen ziemlich klein und verletzlich und in einigen Szenen auch sehr einsam. Besonders die Szenen, die in der Mauerecke spielen, machen zudem die Unfreiheit und Verschlossen- heit des Eichhörnchens sehr deutlich. 

Die Geschichte endet mit der Aussicht des Eichhörnchens auf eine andere – mehr auf das Sein und ein auskömmliches, entspanntes, spielerisches Miteinander bezogene – Lebenseinstellung. Es bleibt offen,  ob das Eichhörnchen begreift, daß genug für alle da ist und daß geteilte Freuden möglicherweise ergiebiger sind als einsame ungeteilte Freuden.

So eröffnet die Betrachtung dieses Bilderbuches eine gute Gelegenheit, mit Kindern über angemessene und unangemessene Besitzbedürfnisse zu sprechen sowie über den weiteren Fortlauf der Geschichte und eine mög- liche Einstellungsveränderung des Eichhörnchens zu spekulieren. Wird es sich aus seiner Verschlossenheit befreien, seine anstrengende Besitzan- klammerung loslassen und seine Verlustangst überwinden? Wird es sich auf Kontakt einlassen und zu teilen lernen? Und mit der Frage, welche Lebens- einstellung wohl langfristig freier, glücklicher und zufriedener macht, können sich gerne auch die Erwachsenen beschäftigen.

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite: Das ist mein Baum

Der Autor & Illustrator:

»Olivier Tallec, geboren 1970, hat an der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs in Paris studiert und teilt seitdem seine Zeit zwischen Design und Illustration. Seine Bücher wurden in zahlreichen Ländern veröffentlicht und ausgezeichnet.«

Querverweis:

Ergänzend empfehle ich zudem das Bilderbuch „Zwei für mich, einer für dich“ von Jörg Mühle, das auf sehr amüsante Weise das Thema des gerechten Teilens in Szene setzt.

Zwei für mich, einer für dich

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29 Kommentare zu “Das ist mein Baum

  1. Ich denke da gerade nicht nur an Kinder und Erwachsene. Es gibt da noch ganz andere Gattungen, die man überall auf der Welt finden kann 😉 Die Zeichnungen sind toll und es braucht eigentlich keine Worte mehr dazu. Und es macht sehr deutlich, welches Verhalten sich wie anfühlt. Vielleicht regt es manchen zum Teilen an. Danke für DEIN Teilen und deine kreativwortschöpferische Rezension dazu! Herzensgruß von mir zu dir!

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    • Verbindlichen Dank, liebste Almuth,
      für Dein ausdrückliches Wohlgefallen an meiner Buchempfehlung und an meiner Wortschöpferigkeit.
      Meinst Du mit den angedeuteten anderen Gattungen etwa solche internationalen, elitären, supersuperreichen „Leistungsträger“, chronischen Steuerzahlungsvermeider, übereifrigen Arbeits- und Finanzmarktderegulierer, Bargeldmiesmacher und Gemeinwohlprivatisierer, die sich mit Blattgold den Allerwertesten abwischen könnten und immernoch nicht genug Geld, Einfluß, Macht, Selbstwertprothesen und Applaus haben und die das Wort „Teilen“ nicht einmal buchstabieren können? 😉
      Herzensgruß auch von mir zu Dir!

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    • Herzlichen Dank für Deine Rückmeldung.
      Ja, das Titelbild ist bereits sehr aussagekräftig und weckt unmittelbar Neugier auf diesen Baumeigentümer.
      Ich finde auch, daß schon mehr als genug „Meinlinge“ in unserer Welt herumhüpfen.

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    • Vielen Dank für Dein positives Leseecho.
      Die Bezeichnung „Meinling“ kam mir angesichts der Verhaltensweise dieses Bilderbucheichhörnchens spontan in den Sinn. Gewiß ließe sich diese Wortschöpfung ganz nach persönlichem Gusto um Deinling, Unserling und Miteinanderling ergänzen. 😉

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  2. In der Walnuß vor meinem Fenster sitzen drei Eichhörnchen. Die kriegen das zusammen ganz gut hin. Ich nehme an, es gibt familiäre Bande zwischen ihnen. Ein spanndendes Thema mit dem Teilen und mit dem Miteinander.

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    • Hab‘ Dank, liebe Blaue Feder,
      für Deine persönliche Eichhörnchen-Beobachtungszugabe.
      Eichhörnchen in der Natur sind – außerhalb der Brutpflege – eher Einzelgänger. Vielleicht sind Deine drei Eichhörnchen wirklich miteinander verwandt und einander noch vertraut oder der Baum verfügt einfach über genug Walnüsse für alle.

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  3. Interessanterweise ist das ein in verschiedener Hinsicht eigentümliches Buch. Das Titelbild ist bereits heiterkeitserregend, weil das Eichhörnchen ja ein Stück weit wie ein lustiger Vogel ausschaut. Und der Rasenmäher verstärkt den eigentümlichen Eindruck. Ich finde das insofern klug gemacht, weil das ja immer wieder eine Gratwanderung ist. Auf der einen Seite wirken solche Tiere durch ihre Niedlichkeit als Herzensöffner und sie sind auch gute „Platzhalter.“ Denn eine ähnliche Geschichte in einem menschlichen Milieu könnte ja leicht „moralapostelig“ wirken. Auf der anderen Seite ist es auch gut, wenn solche Stellvertreter-Tiere nicht zu naturalistisch daherkommen. Denn die Bildergeschichten-Tiere sind von ihrem Verhalten her ja doch recht anders geartet, als ihre echten Artgenossen. Die Thematik ist freilich eh ein echter Dauerbrenner im menschlichen Zusammenleben. Zumal das „Meinling-Verhalten“ ja nicht grundsätzlich verkehrt ist. Es ist einmal mehr die wohlbekannte Frage der Dosierung.

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    • Herzensdank für Deine zugeneigte Resonanz und Deine vielsaitigen und bemerkenswerten Betrachtungen zu Bilderbuchtieren und natürlichen Tieren und ihrer emotionalen und unterhaltsamen Funktion in Bilderbüchern.
      Ich stimme Dir zudem lebhaft zu, daß das „Meinling-Verhalten“ eine Frage der Dosierung ist. 🙂

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    • Vielen Dank, liebe Nina,
      für Deine Zustimmung zu meiner Formulierung „Meinling“. Eines Tages schafft es noch die eine oder andere meiner Wortschöpfschätzchen in den Duden … 😉
      Herzlich grüßt
      Ulrike

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  4. Das ist ein feines Buch, wunderbar als Gesprächsanlass geeignet. Ich glaube, dass gerade sensible Kinder zeitweise ein Problem mit dem Teilen haben und das in einem gewissen Rahmen auch legitim ist.
    Die Zeichnungen sind bezaubernd. Und ich stimme Dir zu, ab 4 Jahren ist es viel passender.
    Herzliche Grüsse von mir zu Dir, Barbara

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    • Danke, liebe Barbara,
      für Deine Zustimmung zu meiner Bilderbuchempfehlung und für die Bestätigung meiner Einschätzung der passenden Altersstufe.
      Etwas haben und behalten zu wollen ist selbstverständlich in Ordnung und man sollte Großzügigkeit bei Kindern nicht erzwingen. Mit diesem Bilderbuch können Kinder jedoch spielerisch erkennen, daß es nicht unbedingt befriedigend ist, wenn man immer und in überzogenem Maße alles besitzergreifend betrachtet.
      Herzliche Grüße auch von mir zu Dir,
      Ulrike

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    • Verbindlichen Dank für Dein aufmerksames Lesen, Dein illustratorisches Wohlgefallen und Deine heitere Bezugnahme auf meine vorherige Eichhörnchen-Buchbesprechung. Solche seriellen Reihungen entstehen bei mir absichtlich-zufällig. 😉
      Es freut mich, daß Dir meine Wortschöpfung „Meinling“ zusagt. Es war das erste Wort, welches mir spontan zur Charakterisierung dieses speziellen Eichhörnchens einfiel. 🙂

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