Marzahn mon Amour

  • Geschichten einer Fußpflegerin
  • von Katja Oskamp
  • Verlag Hanser Berlin 2019 hanser-literaturverlage.de
  • gebunden mit Schutzumschlag
  • 145 Seiten
  • 16,00 € (D), 16,50 € (A)
  • ISBN 978-3-446-26414-4

F U S S N O T E N

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Die Autorin Katja Oskamp entschließt sich mit Mitte vierzig, ihrem Leben eine pragma-tische Wende zu geben. Die Schriftstellerei stagniert, ihre letzte Novelle wurde von zwanzig Verlagen abgelehnt, ihr Mann ist erkrankt und das Kind ist flügge. Sie macht eine Umschulung zur Fußpflegerin und findet eine Anstellung in einem Kosmetikstudio in Marzahn. „Ich hatte zwei gesunde Hände, die einer nützlichen Arbeit nachgehen würden. Der Anfang würde nicht leicht sein, aber schön wie jeder Anfang.“ (Seite 12)

Was theoretisch wie ein Karriereknick erscheint, erweist sich praktisch als eine befriedi-gende Tätigkeit, die stets zu einem sichtbaren Ergebnis, ja, meist sogar Erfolgserlebnis führt. Die Arbeit als Fußpflegerin bringt sie buchstäblich mit Menschen in Berührung, und durch die Gespräche, die sich während der Behandlung ergeben, erfährt sie viel über das Schicksal, die Lebenseinstellungen, Marotten und Charakterzüge ihrer Kundinnen und Kunden.

Diese Lebensgeschichten erzählt die Autorin nun in ihrem Buch nach, sie übersetzt also das Leben sogenannter kleiner Leute aus Berlin-Marzahn in Literatur. Es gelingt ihr dabei eine Kunstform, die zwischen sozialhistorischer Dokumentation, würdigender Kurzbiographie und (meist) sympathisierender Charakterisierung changiert. Sie hört sehr gut hin, betrachtet aufmerksam den Zustand von Füßen und Persönlichkeiten und skizziert mit wachem Einfühlungsvermögen, zugeneigter Achtsamkeit und wenigen gleichwohl umfassenden Zeilen immer wieder ein ganzes Lebenspanorama nebst historischer Kulisse. 

Ihre Kundschaft führt ein eher unscheinbares Leben. Auch Füße führen im Allgemeinen ein solch unscheinbares, ja, fast verborgenes Leben, obwohl sie uns doch durch dieses Leben tragen und wir mit ihnen all‘ unsere Wege  beschreiten.

Bei der Behandlung der strapazierten Füße lauscht Katja Oskamp mit ihrer einfühlsam-einladenden kommunikativen Kompetenz den Lebenswegen ihrer Kunden nach. Nicht wenige verdanken den angegriffenen Zustand ihrer Füße körperlich anstrengenden beruflichen Tätigkeiten oder Erkrankungen, oder sie sind schlicht nicht mehr dazu im-stande, ihre Füße selbst zu pflegen. Für viele alte und einsame Menschen ist der Fuß-pflegetermin ein Festtag des vertrauten Berührtwerdens in einer berührungsarmen Welt.

Die meisten Stammkunden sind betagt, leiden an diversen Krankheiten und verfügen nur über geringen finanziellen Spielraum. Es gibt viel Mühsal, Tragik, Verlust, Verletz- lichkeit, manchmal auch Verwahrlosung, aber auch unendliche Tapferkeit, weise Heiterkeit, Charme, Selbstironie, sympathische Eigenwilligkeit, Genußfreude, wahre Lebenskunst und bescheidene und daher umso würdevollere Großzügigkeit. Meist wird in den Gesprächen, die in direkter Rede wiedergegeben werden, munter berlinert, gelegentlich auch gesächselt. 

Dieses kleine Buch ist randvoll mit zwischenmenschlichen Begegnungen. In diesen Geschichten spielen jene Menschen die Hauptrolle, die sonst nur Nebenrollen oder Statistenrollen zugestanden bekommen.

Katja Oskamp offeriert mit „Marzahn mon Amour“ eine Milieustudie ohne Berührungsängste, anrührende Schicksale ohne herablassendes Mitleid und amüsante Szenen sowie witzige Dialoge ohne Bloßstellung. Sie schreibt nicht ÜBER all diese Menschen, sie schreibt auf Augenhöhe MIT ihnen und verleiht ihren Geschichten und Lebensläufen dadurch eine selbstver- ständliche Erzählenswertigkeit, die beim Lesen unwillkürlich lebhaftes Interesse und Anteilnahme weckt. Hierin sehe ich das beachtenswerteste Merkmal ihrer schriftstellerischen Darstellung.

 

Hier entlang zum Buch, zur Leseprobe und zu weiteren Zusatzinformationen auf der Verlagswebseite:
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/marzahn-mon-amour/978-3-446-26414-4/

Hier entlang zu einer weiteren Rezension auf dem Bücherblog „Feiner reiner Buchstoff“:
https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2020/02/09/grossartige-literatur-und-pflichtlektuere/
Und auf dem Blog „Spätlese“ gibt es ebenfalls lebhafte Lesezustimmung:

Von unten

Die Autorin:

»Katja Oskamp, geboren 1970 in Leipzig, ist in Berlin aufgewachsen. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft arbeitete sie als Dramaturgin am Volkstheater Rostock und studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Bisher wurden von ihr der Erzählungsband Halbschwimmer und die Romane Die Staubfängerin und Hellersdorfer Perle veröffentlicht.«

 

Leselebenszeichen-Datenschutzerklärung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/datenschutzerklaerung/

18 Kommentare zu “Marzahn mon Amour

  1. Eine bemerkenswerte Frau, die etwas zu erzählen hat und ein bemerkenswerter Schreibstil, unauffällig und jenseits des Mainstreams. Er macht Lust, mehr vom täglichen Leben einer Anpackerin zu erfahren, die sich nicht unterkriegen läßt und ihren ‚Betreuten‘ mit natürlicher Achtbarkeit gegenübertritt – zumindest läßt dies die Leseprobe auf der Verlagsseite vermuten. Danke.

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    • Herzlichen Dank für Dein interessiertes Leseecho. Ich kann bestätigen, daß der Schreibstil von Katja Oskamp unprätentiös, authentisch und bemerkenswert MITmenschlich ist.
      Solche Geschichten sind das Gegenteil von den eitlen Biographien und modischen Luxusproblemchen, die man beispielsweise in der Zeitschrift GALA lesen kann, aber teilweise auch in der Mainstreambelletristik.

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  2. Eine Welt, die ich seit Anfang der 70er kenne, weil meine Tante in Lichtenberg am Ring-Center dort eine der ersten Bewerber mit ihrem Mann Mathedozent an Uni und Schule in der 4,5ten Etage erfolgreich einziehen konnte, Stolz des DDR Wohnraumbaus.
    Knapp 50 Jahre mit Zwangsumtausch und Müggelseeausflug oder Palast der Republik bis Fortbildung im Gesamtdeutschen Kommunalen Fortbildungswerk e.V. um die Ecke.
    Im Juli wurde alles grundsaniert mit Glasbalkon und elektrischer Spiegelsteuerung, ohne Mieterhöhung durch Nebenkostenumlegung besonders ausgabefreundlich für die Bewohner und Genossen.
    Wie erhaben war es, die Frankfurter Allee vierspurig nach Mitte zu cruisen, später direkt in den Westen nach links abzweigen – Berlin autofahren, ist immer wie ein Formel 1 Grand Prix und eine Ralley zusammen gewesen.
    Jetzt kann sich meine Tante nur noch wenig draußen tümmeln, Fidschistände, Eisdiele, Kaffee, Supermarkt, Friseur, S-Bahn.
    Sie wird in der Platte wohl unsere gemeinsamen Abenteuer auf dieser Welt beschliessen. Die Bilder und Eindrücke aber sind alle gespeichert und laufen im Gehirnkino, wie der Berlinale Film im Kino International über Mata Hari die schwarze Tänzerin mit Spionagekarriere.
    Na dann geh ich morgen wieder Schrippen holen.
    Danke für die Vorstellung diesen Buchs mit dem menschlichen Plot 🤗😎👍
    PS etwas länger aber blitzhaft spontan

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  3. Ein interessanter Versuch, das Leben vom Kopf auf die Füße zu stellen! Oder auch: bei den Füßen sollt ihr beginnen. Da seht ihr viel über das menschliche Geschick, was das Gesicht gern verheimlicht.

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