Das Evangelium der Aale

  • von Patrik Svensson
  • Hörbuch
  • ungekürzte Lesung von Johann von Bülow
  • Buchausgabe: Hanser Verlag 2020
  • Übersetzung von Hanna Granz
  • Der Audio Verlag DAV, Januar 2020  https://www.der-audio-verlag.de/
  • 1 mp3-CD in Pappklappschuber
  • Laufzeit: ca. 7 Stunden, 54 Minuten
  • 23,00 € (D), 25,80 € (A)
  • ISBN 978-3-7424-1379-6

AALFRAGEN,  AALANTWORTEN  UND  DAS  LEBEN  DAZWISCHEN

Hörbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Im Vergleich zu Delphinen, Walen oder Tintenfischen führen Aale in der allgemeinen naturliebhaberischen Aufmerksamkeit eher ein Schattendasein. Die Auditüre dieses Hörbuches wird dies allerdings schnell ändern und erstaunliche Einblicke in die außer- gewöhnliche Lebensweise einer nach wie vor nicht gänzlich erforschten Fischart ver- mitteln. Was wir heute über den Aal wissen, ist zwar viel, aber längst noch nicht alles.

Alle europäischen Aale stammen aus der Sargassosee. Die Sargassosee, die der Autor „als Meer im Meer“ beschreibt, ist ein Meer ohne Küsten, eingerahmt von mehreren großen Meeresströmungen, etwa 500 Millionen km² groß und stellenweise 7000 m tief und durchwachsen von großen Algenteppichen aus der Braunalge Sargassum.
  
Aale sind Virtuosen der Metamorphose und der Navigation. Als millimeterkleine, durch-sichtige Larven, die man Weidenblatt (1. Stadium) nennt, schlüpfen sie in der Sargasso-see, treiben mit der Meeresströmung zur europäischen Küste, die sie als sogenannte Glasaale (2. Stadium) erreichen. Von der Küste aus schwimmen sie in Binnengewässer, Flüsse, Seen, Teiche und Sümpfe, meistern den Wechsel  von Salz- zu Süßwasser und verwandeln sich in den Gelbaal (3. Stadium). Sie bleiben äußerst anpassungsfähig und standorttreu in dem Gewässer, das sie sich ausgesucht haben. In den ersten drei Stadien seines Lebens ist der Aal geschlechtslos.

Irgendwann nach zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zieht es den Aal zurück in die Sargassosee, denn nur dort wird er sich fortpflanzen. Dies initiiert sein viertes und letztes Lebensstadium als Blankaal. Erst zum Zeitpunkt seiner vierten Metamorphose entwickelt sein Körper Geschlechtsorgane, das Verdauungssystem bildet sich zurück, die Hautfarbe ändert sich zu blauschwarzgrau, die Augen werden größer und wandeln ihre Farbe von schwarz zu blau, damit er auf seiner langen Reise zurück zu seinem Ursprung in der Tiefsee besser sehen kann.

Aristoteles glaubte, der Aal werde mit Hilfe von Regenwasser aus dem Schlamm geboren. Jahrhundertelang gaben die fehlenden Keimdrüsen des Aals jedem Natur- forscher Rätsel auf; sie konnten nicht ahnen, daß die Geschlechtsorgane im Stadium des Gelbaals einfach noch nicht vorhanden sind. Noch im 19. Jahrhundert sezierte der junge Zoologiestudent Sigmund Freud auf der Suche nach den Keimdrüsen dieses Fischs 400 Aale – eine vergebliche Mühe, aber auch eine köstliche Ironie des Schicksals, bedenkt man seine spätere Beschäftigung mit den psychologischen Untiefen menschlicher Geschlechtsidentität. 

1896 beobachteten die italienischen Forscher Giovanni Battista Grassi und Calandruccio zum ersten Mal die Verwandlung einer Weidenblattlarve in einen Glasaal. Nun erkannte man, daß die Weidenblattlarve keine eigenständige Fischart ist, sondern die Vorstufe des Glasaals, und daß der Aal offenbar durch den Atlantik „wandert“.

Erst dem dänischen Biologen Johannes Schmidt gelang es schließlich Anfang des zwan-zigsten Jahrhunderts, durch jahrelange, akribische Kartographierung der abnehmenden Körpergröße der Weidenblattlarven den Geburtsort der Aale in der Sargassosee zu lokalisieren.

Auch Literaten befaßten sich mit der geheimnisvollen Existenz und Wirkung des Aals, beispielsweise im Roman „Die Blechtrommel“ von  Günter Grass oder im Roman „Der Schaum der Tage“ von Boris Vian.

In Patrick Svenssons „Evangelium der Aale“ werden die bisherigen Erkenntnisse über den Aal und die manchmal abenteuerlichen Wege, die zu diesen Erkenntnissen geführt haben, ebenso spannend und vielschichtig wie wissensbereichernd dargestellt. Bei allen naturwissenschaftlichen Anekdoten und meßbaren Fakten zum Aal bleibt Raum für das unmittelbare Staunen angesichts eines Lebewesens, das sich so geschickt der menschlichen Kontrolle entzieht.

Jedem natur- oder kulturhistorischen Kapitel über die Erforschung oder Thematisierung des Aals folgt ein persönlich-biographisches Kapitel, in dem der Autor von seinen Kind-heitserinnerungen und den Aalfangerfahrungen mit seinem Vater erzählt. So ist die schrittweise Lösung der Rätsel, die der Aal aufgibt, verflochten mit Betrachtungen zur familiären Herkunft, zum sozialen Milieu, zu Erlebnissen von zwischenmenschlicher Nähe und Verbundenheit. Stimmungsvolle Naturbeschreibungen, eine detailreich-liebevolle Charakterisierung und Würdigung des Vaters und die hinterfragende Refle- xion kindlicher Wahrnehmungen vermitteln ein berührendes Lebensbild, durch das sich die theoretische und praktische Beschäftigung mit dem Aal als roter Faden schlängelt.

Johann von Bülow liest „Das Evangelium der Aale“ mit stimmlicher Klarheit, ruhiger Präsenz  und hörbarem Staunen.
 

Hier entlang zum Hörbuch und zur HÖRPROBE auf der Verlagswebseite:
Das Evangelium der Aale

Hier entlang zur Buchausgabe und LESEPORBE auf der Hanser-Verlagswebseite:
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/das-evangelium-der-aale/978-3-446-26584-4/

Der Autor:

»Patrik Svensson, geboren 1972, ist an der schwedischen Aalküste aufgewachsen. Er studierte Sprachen und Literatur und arbeitet als Kulturjournalist. „Das Evangelium der Aale“ ist sein Debüt und löste schon vor Erscheinen einen internationalen Hype aus.«

Der Sprecher:

»Johann von Bülow, 1972 in München geboren, debütierte 1995 an der Seite von Franka Potente in 2Nach fünf im Urwald“. Darauf folgten zahlreiche Filmrollen, u.a. in „Elser“ und „Kokowäh“. Von Bülow ist zudem regelmäßig im Fernsehen zu sehen, z. B. in „Herr und Frau Bulle“ und „Mord mit Aussicht“. Für DAV las er zuletzt die „Subutex“-Trilogie von Virginie Despentes ein.«

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26 Kommentare zu “Das Evangelium der Aale

    • So ging es mir mit dem unbekannten Wesen des Aals auch, liebe Belana Hermine, und ich fand es sehr erhellend, wenigstens das zu erfahren, was man inzwischen erforscht hat.
      Danke für Dein Leseecho! 🙂

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  1. Aale sind mir unheimlich und niemals würde ich einen essen. Aber ich bin ja auch kein Fischesser – zum Leidwesen meiner gesamten Familie und trotzdem scheint es mir ein hochinteressantes Buch zu sein, liebe Ulrike. Hörbücher liegen mir nicht so sehr. Ich blätterte lieber die Seiten um…

    Liebe Grüße in die Nacht von Bruni an Dich

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    • Liebe Bruni,
      dem Aspekt des Unheimlichen, das viele Menschen angesichts des Aals empfinden, geht „Das Evangelium der Aale“ auch auf pyschologisch-philosophisch erhellende Weise nach. Du kannst ja mal in der verlinkten Hanser-Leseprobe blättern.
      Lieben Dank für Dein Leseecho und liebe Gutenachtgrüße auch von mir für Dich

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    • Die Darstellung bzw. Inszenierung der Aale in der „Blechtrommel“ ist ziemlich unappetitlich. Im „Evangelium der Aale“ überwiegt die Faszination über die erstaunlichen Daseinsformen des Aals. Das Einzige, was mich in diesem Text sehr abgestoßen hat, waren die menschlichen, grausamen Tötungsarten des Aals, die aber nur einen kleinen Raum im Romanganzen einnehmen.

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  2. Ich will nicht verhehlen: Beim bloßen Gedanken an diese glitschigen Tiere erfasst mich leichtes Schaudern. Deine Rezension, liebe Ulrike, habe ich trotzdem mit großer Neugier und viel Gewinn gelesen. Allein der Hinweis auf den jungen Zoologiestudenten Freud – köstlich! 😉

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    • Hab‘ Dank für Deine Rückmeldung, liebe Maren.
      Da ich keine eigene Erfahrung mit der Glitschigkeit der Aale habe, konnte ich mich ganz unbefangen auf dieses Thema einlassen.
      Die zahlreichen kompositorisch gut eingeflochtenen Naturwissenschaftler-Anekdoten fand ich ebenfalls sehr ansprechend, weshalb ich eine davon exemplarisch als Leselockhäppchen erwähnt habe. Und wie sich hier nun zeigt, hast Du angebissen … 😉

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  3. Jetzt schon einiges Spannende über Aale gelernt! Vielen Dank dafür. In einer anderen Rezension war davon die Rede, dass der zweite Handlungsstrang weniger überzeugend mit dem Aalthema verbunden sei. Wie haben Sie das empfunden?

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    • Vielen Dank für die Nachfrage zu den beiden Handlungssträngen.
      Die Romankomposition aus vielschichtiger wissenschaftshistorischer Betrachtung und autobiographisch nachspürender Vater-Sohn-Beziehung finde ich gelungen. Der Aal ist jedoch unverkennbar die Hauptfigur und alle menschlichen Figuren kreisen um den Versuch, sich dem Ungreifbaren dieses Lebewesens zu näheren.

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  4. War der Aal mir bisher ein mystisches Unter-Unter-Wasser-Wesen, das ich aus respektvollem Abstand wahrnahm, so ist er mir nun durch diese zum Lesen motivierende Besprechung schon allein deshalb fast menschlich nahe gekommen, weil er sich der menschlichen Kontrolle entzieht, was ich ebenfalls mein Leben lang versuche, zum Teil mit reichlich Erfolg.

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  5. Ich habe mich ein paar Jahre mit dem Leben der Aale beschäftigt, doch bis heute gibt es keine Erkenntnisse über deren Liebesleben oder den Akt der Fortpflanzung, weil eben alles in der Tiefsee stattfindet. Früher habe ich als nordeutsches Kind natürlich geräucherten Aal gegessen, doch heute ist mir dieses Lebewesen zu wichtig, um es essen zu wollen. Sicher ein gutes Hörbuch für Menschen, welche etwas über eines unserer geheimnissvollsten Meerestiere erfahren möchten. Danke liebe Ulrike!

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    • Lieber Arno,
      hab‘ Dank für Deine positive Resonanz.
      Der Aal ist nach wie vor rätselhaft und es stimmt, was Du über das noch immer unbeobachtete Liebesleben der Aale schreibst.
      Man weiß eben nur, daß die Weidenblattlarven aus der Sargassosee kommen, aber bisher hat kein Mensch einen erwachsenen – lebenden oder toten – Aal in der Sargassosee gesichtet.
      Ich habe noch nie Aal gegessen und werde es auch in Zukunft nicht tun, zumal sie inzwischen vom Aussterben bedroht sind.
      Das vorliegende Hörbuch ist auf jeden Fall ein lebendiger Einstieg ins Aalthema.

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  6. Also sind europäische Aale sozusagen emigrierte amerikanische.😁
    PS: Ich verwundere mich, dass eine so interessante Spezies so wenig Aufmerksamkeit bis jetzt erhalten hat. Zumindest bei mir.😉 Danke für die Vorstellung, meine Neugier ist geweckt. Liebe Grüße, Barbara

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    • Vielen Dank für Deine Rückmeldung, liebe Barbara. 🙂
      Der Europäische Aal (Anguilla anguilla) ist eine eigene Aalart, er hat mehr Wirbel als die amerikanischen Aale, aber beide werden in der Sargassossee geboren und ihre Wege trennen sich später ganz gezielt.
      Ich gebe zu, daß ich vor meiner Hörbuchauditüre ebenfalls keinen Schimmer von dieser interessanten Spezies hatte und nun durchaus fasziniert von diesen Wandelwesen bin.
      Herzlich grüßt Dich
      Ulrike

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