Die Schneiderin des Nebels

  • Text: Agnès de Lestrade
  • Illustrationen: Valeria Docampo
  • Originaltitel: »La fileuse de brume«
  • Deutsche Übersetzung von Anna Taube
  • mixtvision Verlag Oktober  2018  www.mixtvision.de
  • gebunden
  • Fadenheftung
  • 48 Seiten
  • 17,90 € (D), 18,40 € (A)
  • ISBN 978-3-95854-130-6
  • Bilderbuch ab 4 Jahren

DEN  NEBEL  LICHTEN

Bilderbuchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Jeder hat seine persönliche Strategie, um mit den Leerstellen und Verletzungen des Herzens umzugehen. Das Mädchen Rosa fängt jeden Morgen mit ihrem Schmetterlings-netz Nebel, verspinnt ihn zu Hause an ihrem Spinnrad zu Fäden und webt aus diesen Nebelfäden Stoffe.

Illustration von Valeria Docampo © mixtvision Verlag 2018 © Text von Agnès de Lestrade

Die Nachfrage nach Rosas Nebelstoffen ist groß; eine Kundin will ihren Spiegel damit verkleiden, um ihre Falten nicht mehr sehen zu müssen, ein anderer will seine Schulden verstecken. Jeder hat Gründe für emotionale Verschleierungstaktiken, und bald ist alles von Nebelschleiern bedeckt.

Eines Tages erhält Rosa einen Brief. Sie erkennt sogleich die Handschrift ihres Vaters und legt einen Nebelschal auf diesen Brief, um den aufkeimenden Schmerz abzuwehren. Doch dann läßt sie doch einen Rückblick auf ihre Kindheit zu, erinnert sich an familiäres Glück, heitere Geborgenheit, elterlichen Streit, an die traurige Trennung ihrer Eltern, das Gefühl des Verlassenseins und das Schweigen der Mutter über den Verbleib des Vaters.

Rosa stellt sich dem alten Schmerz und öffnet den Brief, mit dem ihr Vater warmherzig seinen Besuch ankündigt. Die Nebelschleier beginnen sich zu lichten. „Mit einem Mal ist Rosas Herz eine Sonne“, und sie webt eine leuchtend gelbe Decke aus Sonnenstrahlen als Willkommensgeschenk für ihren Vater.

Das Wiedersehen ist innig und vertraut. Während sich Vater und Tochter liebevoll um- armen, durchdringt immer mehr Sonnenlicht das Nebelgrau, und nach und nach lichtet sich der Nebel im ganzen Land. Von nun an wird Rosa Stoffe aus Sonnenstrahlen weben.

Illustration von Valeria Docampo © mixtvision Verlag 2018

Die Illustrationen von  Valeria Docampo begleiten den Erzähltext zu Beginn mit zurückhaltender Farbgebung, bis auf Rosas gelbe Kleidung ist alles in Schwarz-weiß-grau und Graugrün getönt. Vereinzelte Transparentpapier- seiten, auf denen abwechselnd Text oder Zeichnungen erscheinen, lassen den Betrachter buchstäblich im Nebel blättern und verleihen dem Geschehen eine reizvolle poetische Unschärfe. Je mehr sich Rosas Herz öffnet, desto lichter werden die Bilderbuchseiten, und strahlend sonnige, fast goldglänzende Gelbtöne und sanftes Orange erwärmen die Szenerie.

Agnès de Lestrade erzählt Rosas Geschichte auf leichte, luftige Weise; auch einfache Worte können Poesie transportieren. Nur wenige Zeilen, manch- mal sogar nur eine einzige wohlgesetzte Zeile genügen, um eine anrührende Stimmung hervorzurufen.

„Die Schneiderin des Nebels“ ist ein zärtlich-poetisches Bilderbuch, das anschaulich vermittelt, wie sich im (Sonnen)licht der Liebe Entfremdung in Nähe verwandeln kann. Für Kinder während oder nach einer Scheidung kann diese Geschichte ein Lichtblick sein und sie darin bestätigen, daß ihre kindliche Sehnsucht nach väterlicher Zuwendung selbstverständlich ebenso erfüllt werden sollte wie die nach mütterlicher Zuwendung.

Die besondere buchgestalterische Feinheit mit den transparenten Nebel- seiten, die unmittelbare Farbsprache und die poetische Prosa dieser Vater-Tochter-Geschichte erzeugen ein nachhaltiges Herzensecho.

 

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://mixtvision.de/buecher/die-schneiderin-des-nebels/

Querverweis:

Hier entlang zum bisher bekanntesten Bilderbuch von Agnès de Lestrade und
Valeria Docampo:
Die Wörterfabrik                                 https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/07/08/die-grose-worterfabrik/
Und noch ein feines Werk aus der bewährten Kooperation von Agnès de Lestrade und Valeria Docampo: Der Bär und das Wörterglitzern
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/10/04/der-baer-und-das-woerterglitzern/
Sowie noch ein Weihnachtsmärchenklassiker-Bilderbuch, mit Illustrationen von Valeria Docampo: Der Nußknacker

Der Nussknacker

Die Autorin:

»Agnès de Lestrade schreibt Bücher, erfindet Gesellschaftsspiele und dichtet Lieder. Seit ihrem Debüt 2003 erschienen zahlreiche erfolgreiche Bücher in französischer Sprache. Bei Mixtvision sind inzwischen drei poetische Bilderbücher lieferbar.«

Die Illustratorin:

»Valeria Docampo findet die Inspiration für ihre Illustrationen im Alltag. Geboren wurde sie in Buenos Aires, Argentinien, wo sie auch ihr Diplom in Grafikdesign machte. Seit 2003 widmet sie sich ganz der Illustration von Kinderbüchern.«

Leselebenszeichen-Datenschutzerklärung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/datenschutzerklaerung/

48 Kommentare zu “Die Schneiderin des Nebels

  1. Ein sehr wichtiges und spannendes Thema. Allerdings wirkt es durch die nebeligen Bilder auch ein wenig gruselig. Interessant finde ich dann, dass es ab 4 Jahre ausgeschrieben ist. Tja, da müsste ich wohl wirklich mal näher reinschauen 😉

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    • Die nebelfarbenen Bilder enthalten keine gruseligen Motive, sondern sie sind einfach farblos. Wer dort etwas gruseliges sieht, bringt es also selber mit und interpretiert es möglicherweise in die Bilder hinein.
      Die Nebelseiten sind das Kontrastmittel zu den nach und nach lichter und sonniger werdenden Illustrationen. Ich denke, daß es für vierjährige durchaus annehmbar ist und für größere und ältere Betrachter ganz bestimmt.

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  2. Ein wundervolles, herziges, liebevolles Buch, liebe Ulrike.
    Und wenn die feuchtgrauen Nebel verschwinden, um leuchtendgelben Sonnenstrahlen Platz zu machen, dann weiß ich, es ist ein dringend notwendiges positives Buch

    Liebe Abendgrüße an Dich, liebe Ulrike

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  3. Hui, welch zauberhafte Geschichte und die exquisiten Zeichnungen! Da schau ich doch ob der Etat noch was hergibt. Meine Privatbilderbuchsammlung ist mit zunehmendem Alter der Kids etwas ins Stocken geraten, aber das hier, wunderschön. Danke dir

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  4. Ich schließe mich den vorherigen Kommentaren gefesselt an, liebe Ulrike. Zudem gefiel mir Deine Idee, die Lettern farblich dem Inhalt des jeweiligen Kapitels anzupassen. Es war mal wieder ein Genuß, Deinen einfühlsamen Worten zu folgen.
    Sei herzlich gegrüßt,
    Tanja

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    • Verbindlichen Dank, liebe Tanja,
      für Deine aufmerksame und freudige Resonanz.
      Ich spiele sehr gerne mit Farben, und bei diesem Bilderbuch bot es sich an, die Lettern buchstäblich-farblich mitreden zu lassen. Schön, daß Dir das so positiv aufgefallen ist.
      Sonnige Grüße von mir zu Dir 🙂

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  5. Hallo! Sehr lesenswert! Danke für diese schöne Geschichte am Abend! Hat mich abgelenkt und dafür bin ich dir sehr dankbar! 😀 …meine Gedanken kreisten vorhin nur noch um Hochzeitsgeschenke… 😀 😀 😀 …aber die Geschichte hier war wirklich sehr gut! Also dir noch einen schönen Abend und ganz liebe Grüße! Lena

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  6. Diese bilderbuchverliebten Zeichen des Leselebens mag ich ja ganz besonders. 😀 Da ist eine Begeisterung, die sich in so sanften Tönen ausdrückt, dass ich gerne den Ausdruck „Bilderbuchbeflüsterung“ verwenden würde. 😉
    Und dieser Ton ist ja auch sehr in Harmonie mit Geschichte und Illustrationen in diesem Zauberschatz, den du uns hier vorstellst. Text und Bilder erzählen eine schöne, zuversichtlich stimmende Geschichte. Auch wenn man manche Schicksalsfäden nicht selber in der Hand hat (und hier ja auch nicht unter den Teppich gekehrt wird, dass der Umgang mit dieser Tatsache nicht immer ganz einfach ist), macht es einen großen Unterschied, ob man das in eigener Regie gefertigte Lebensgewebe aus Nebel oder Sonnenstrahlen herstellt.

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    • Liebsten Dank für Dein wohlklingendes und zugeneigtes Herzensecho auf meine „Bilderbuchbeflüsterung“. 😀
      Dein ergänzendes, feinsinniges Wortgewebe über nebelige und sonnige Schicksalsfäden findet meine volle Zustimmung. :mrgreen:
      Herzensharmonische Grüße von mir zu Dir

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  7. Liebe Ulrike,
    was für einen bezaubernden Bilderbuchschatz du uns hier wieder zeigst!

    Ich habe lange nicht mehr nach Bilderbüchern bzw.allgemein nach Büchern Ausschau gehalten, um mich auf die ungelesenen Bücher meines Regals konzentrieren zu können. So entging mir auch dieses feine Büchlein. Wunderbare Idee, feine Illustrationen und Themen, in denen sich auch jene Kinder abseits der als „normal“ porträtierten Familien wiederfinden können. 🙂

    Liebe Grüße
    Kathrin

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    • Liebe Kathrin,
      herzlichen Dank für Dein begeistertes Leseecho.
      „Die Schneiderin des Nebels“ ist wirklich ein Bilderbuchschatz und wirkt gerade durch seine poetisch-psychologische Unaufdringlichkeit tief.
      Ich stimme Dir zu, das es sich besonders für Kinder eignet, deren familiärer Hintergrund Brüche aufweist.
      Sonnige Grüße von mir zu Dir 🙂

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  8. Welch eine wundervolle Wandlung der Geschichte. Aus dem Trübsinn wird Frohsinn und lässt Hoffnung zu. Hoffnung sich zu öffnen um zuzulassen. Herzallerliebst.
    Herzliche Grüße von Ulrike an Ulrike

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    • Liebe Namensvetterin,
      dieses feine Bilderbuch illustriert anschaulich die Wirkung von Herzensöffnung und Hoffnung. Wenn man sich dem Schmerz stellt und ihn verschmerzt öffnet sich wieder der innere und äußere Liebesraum. Eigentlich ganz einfach, aber die Nebelängste sind weitverbreitet.
      Herzenssonnige Grüße von mir zu Dir

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  9. Was mir auch noch an dem Buch besonders gefällt (ausser dem, was die anderen vor mir schon so perfekt dargestellt haben), ist das positive Bild, das vom Vater dargestellt wird. Ich kannte bisher kein Kleinkinderbuch, das die Thematik so darstellt.

    PS: Ich habe es schon so oft gesagt, liebe Ulrike, Du hast eine so liebevolle Art zu schreiben, das musste ich mal wieder anmerken❤

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    • Liebe Ann,
      ich fand die positive Vaterdarstellung auch angenehm bemerkenswert und wichtig. Vater-Tochter-Themen kommen nicht oft in Bilderbüchern zur Sprache.
      Dein zugeneigtes PS freut mich SEHR und die Wiederholung stört mich kein bißchen, Deine Worte sind eine wohltuende Bestätigung für mich und zeigen mir, daß mein Schreibtonfall herzensstimmig ist. 😀

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  10. Oh, wie wunderbar ist die Idee aus Nebel feine Stoffe zu weben oder aus dem Sonnenlicht. Alleine dies hätte mir schon für ein zauberhaftes Märchen gereicht und doch gibt es noch entzückende Zeichnungen hinzu, in einem modernen, aber nicht überspitztem Stil. Eine herzerwärmende Buchvorstellung, liebe Ulrike ❤

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  11. Das klingt mir nach so einem richtig rundem Buch. Ohne Zweifel ist es eckig. Ein Buch, das alle Sinne in das Erleben mit einbezieht, bringt die Phantasie bergauf ins Rollen. Solche Bücher sind Schimmerperlen im Büchermuschelmeer, weil sie so vieles beleuchten. Nicht grell wie ein Scheinwerfer. Eher sanft und warm wie Sonnenstrahlen, die durch den Nebel der Angst vor der Klarheit dringen. Nicht plötzlich, so wenig plötzlich, wie ein Geist, ob klein oder groß, schwere Wunden zu heilen vermag.
    Wieder ein wunderbares Buch vorgestellt.
    Lieben Dank sagt die Fee✨

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    • Lieben Dank, werte Fee,
      für die schönschimmernden, runden, wortperlenden Formulierungen Deines zugeneigten Kommentars.
      Dieses Bilderbuch ist erfüllt von der leisen Strahlkraft der Sanftmut und es freut mich, daß es so gut bei Dir ankommt.
      Sonnenfunkelige Feenstaubgrüße von mir zu Dir 💫

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    • Gerne streue ich hier Buchverlockungen aus, liebe Petra.
      Wenn der Inhalt eines Buches so stimmig ist, fällt es leicht, die passende Wortverpackung für die Buchbesprechung zu finden.
      Sonnige Grüße von mir zu Dir 😀

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  12. … es ist so unfassbar sensiebel gezeichnet… und bietet Raum… nicht nur für die positiven Gefühle… aber letztendlich ist sich verletzt zu Verbarrikadieren… Dunkelheit in einer Welt, die vom Licht lebt…

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