Als der Sommer eine Farbe verlor

  • von Maria Regina Heinitz
  • Roman
  • Berlin Verlag  April 2015  http://www.berlinverlag.de
  • 496 Seiten
  • Taschenbuchausgabe
  •  9,99 € (D), 10,30 € (A), 13,90 sFr.
  • ISBN: 978-3-8333-1020-1
  • inzwischen ist dieser Roman nur noch als E-Buch erhältlich
  • ISBN: 978-3-8270-7699-1*
    Als der Sommer eine Farbe verlor

ZWISCHEN  DEN  ZEILEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

„Als der Sommer eine Farbe verlor“ erzählt in einer sinnlich-vielschichtigen, lasierenden Sprache von Nähe und Ferne, Lösung und Bindung, Imagination und Wirklichkeit, Schmerz und Heilung, Verlust und Geborgenheit sowie von Familie und Freundschaft, Liebe, Tapferkeit und Hoffnung. Dieser Roman ist berührend, ohne zu belasten, er enthüllt, ohne zu entblößen und er macht ein komplexes Gefühlsspektrum wunderbar sichtbar.

Die dreizehnjährige Bénédicte, kurz Bicky genannt, verbringt mit ihrem kleinen Bruder Marcel einen sommerlichen, heiter-verspielten Ferientag. Die Kinder sind einfach glücklich, alles blüht, zwitschert und lebt, der Jasmin duftet vor blauem Himmel, und ihre geliebte Großmutter, zärtlich Mamique genannt, ist bei ihnen in Hamburg zu Besuch.

Aimée, die Mutter der Kinder, ist eine bekannte Malerin, deren Gemüt sich immer wieder verdunkelt und die sich dann aus dem familiären Leben zurückzieht und in ihr Atelier verkriecht, um ihre emotionale Not auf die Leinwand zu bannten.

Die Kinder sind mit diesen mütterlichen Stimmungen vertraut und nennen sie „Farfadetnoir“ (schwarzer Kobold). Der Vater arbeitet als Mediziner und bittet in den Farfadetnoir-Notfällen Mamique, seine Schwiegermutter, um familiären Beistand.

Übermütig tollen die Kinder mit ihrer rüstigen Großmutter durch den Garten, anschließend bereitet Mamique ihnen ihre köstlichen Blaubeerpfannkuchen zu, und die Kinder futtern sich die Bäuche rund. Bicky wird mit einer Portion Blaubeerpfannkuchen ins Atelier geschickt, damit ihre Mutter auch in den Genuß dieser Lieblingsspeise kommt.

Im Atelier betrachtet Bicky nachdenklich das Bild, an dem ihre Mutter seit Monaten malt, und eine Ahnung schmerzlicher familiärer Verstrickung streift ihr Bewußtsein und weckt Fragen in ihr. Da die Mutter nicht im Atelier ist, vermutet Bicky sie im Bade- zimmer und steht nach wenigen Schritten in einer Blutlache, die der Selbstmordversuch der Mutter hinterlassen hat. Die Mutter kann gerettet werden und kommt in ein „Sanatorium“. Wie erholen sich die Kinder von einem solchen Schock?

Der Vater beschließt, ein Arbeitsangebot als Leiter einer psychiatrischen Klinik in einer Kleinstadt anzunehmen und Hamburg zu verlassen. Bereits zwei Wochen später zieht die Restfamilie von Hamburg nach Sprede, „eine heile Was-will-man-mehr-Kleinstadt“. Sie wohnen in einer alten Villa in unmittelbarer Nähe zur neuen Arbeitsstelle des Vaters. Den großen, verwilderten Garten, der die Villa umgibt, nennt der Vater eine „Paradies für Kinder“, aber zunächst fühlen sich die entmutterten Kinder alles andere als paradiesisch.

Mamique, die sie nicht begleiten kann, verspricht aber, wieder zu Besuch zu kommen. Eine resolute Haushälterin wird eingestellt, die für äußere Ordnung und geregelte Mahlzeiten sorgt. Einen Fernseher gibt es nicht, aber der Vater installiert in jedes Zimmer unsichtbare Lautsprecher und beschallt die Bewohner mit klassischer Musik („Brahms ordnet die Gedanken!“) und mit den täglichen Radionachrichten. So läßt die Autorin im Verlaufe des Romanhandlungszeitraums immer wieder streiflichternd die Nachrichtenereignisse der Jahre 1976 bis 1978 einfließen.

Fürsorglich bemuttert Bicky ihren kleinen Bruder, und die Geschwister richten sich eine gewisse Geborgenheit miteinander ein; sie freunden sich mit den neuen Räumen an und erkunden nach und nach entdeckungslustig die Umgebung. Die Mutter schreibt ihren Kindern regelmäßig Briefe (in Schriftform für Bicky und in Bildform für Marcel, der noch nicht lesen kann).

Bicky leidet nicht nur an dem Verlust der mütterlichen Zuwendung, sondern auch daran, daß die Erwachsenen ihr Zusammenhänge verschweigen. Sie tun dies zwar, um sie zu schonen, aber die Unstimmigkeiten und Unklarheiten bezüglich des Aufenthalts- ortes der Mutter und der Hintergründe der mütterlichen Depression führen zu phantasievollen Vermutungen und kindlichen Fehlschlüssen, die ihr eigenes psychologisches Belastungspotential haben.

Zweimal wöchentlich geht Bicky auf Anordnung ihres Vaters zu einer Kinderpsychologin, um ihr Trauma zu verarbeiten. Doch sie hat längst eigene Wege gefunden, sich zu ermutigen und den Herausforderungen des Lebens konstruktiv und kreativ zu begegnen, beispielsweise ihre Methode der Eintagsfliegentage, die es ihr ermöglicht, Neues und Unerwartetes zu tun, weil es für die Verwirklichung mancher Dinge exakt nur diesen einen Moment gebe und sonst keinen. Diese Jetzt-oder-nie-Haltung hilft ihr über so manche Alltags- und Angsthürde hinweg.

Dank ihrer Feinfühligkeit erkennt sie die emotionalen Gegebenheiten, Charakterstärken und -Schwächen anderer Menschen sehr genau und beschreibt diese auf eine einleuchtend anschauliche, musisch-malerische Weise.

Und dann lernt sie Susi Engel kennen. Dieses hochbegabte, eigenwillige Mädchen wird ihre beste Freundin, mit der sie wirklich alles besprechen kann. Die beiden Einzel- gängerinnen sind wie füreinander geschaffen, und gemeinsam forschen sie den abgründigen und romantischen Geheimnissen ihres Umfeldes nach.

Zwischen Bickys Spurensuche und ihren phantasievollen Versuchen, Ordnung in ihr aufgewühltes Gefühlsleben zu bringen, liegt ein weiteres Geheimnis, das erst ganz zum Schluß offensichtlich wird und den Leser erhellend überrascht. Tatsächlich sind die Hinweise auf diese verborgene Erlebnisebene wohldosiert und unauffällig über den Verlauf der ganzen Geschichte verstreut und werden uns Lesern erst im Rückblick so recht DEUTLICH.

Bicky lernt gewissermaßen SEHEN, sie reift und wächst, begeistert sich fürs Theater und sie verliebt sich in den Jungen Misha, der dort als Statist arbeitet. Misha kennt sich aus mit Verlust und Trauer; er hat bereits beide Eltern verloren und lebt bei seiner Tante. Die Liebesannäherung von Bicky und Misha ist von anrührender Zärtlichkeit und ein ganz großes Glück für Bickys Herzensheilung und Wahrheitsfindung.

Mit Mishas Hilfe tritt Bicky aus dem Schatten der mütterlichen Verstrickung und der verschwiegenen Vergangenheit heraus und betritt endlich ihre Gegenwart und ihren eigenen hoffnungsvollen Weg.

Dieser außergewöhnliche Roman ist von einer schwebenden Leichtigkeit, die man dem ernsten Thema kaum zugetraut hätte. Das Gleichgewicht von Ernst und Heiterkeit, Kinderspiel und Kindertragik, Verletzlichkeit und Tapferkeit, die geschickte Figurenchoreographie, die einfühlsamen Dialoge, der lebendige Spannungsbogen, die stimmungsvollen Szenerien und die sinnlich-musische Perspektive „malen“ eine sehr lesens- und sehenswerte Geschichte.

Zum Ausklang nun ein Zitat, das die poetische Bildhaftigkeit illustrieren mag:

»Meine Träume in dieser Nacht waren verschachtelter als die, durch die ich mich sonst hindurchträumen musste. Sie waren wie unzählige Meeresober- flächen, durch die man auftaucht und meint, Luft holen zu können, das Ende erreicht zu haben, endlich Sauerstoff zu atmen. Traumende, und dann geht es doch weiter, immer weiter, ohne an den Eingang der Wirklichkeit zu gelangen, aber immer knapp davor.«
(Seite 143)

 

*Hier entlang zum Buch und zur LESEPROBE auf der  Verlagswebseite:
https://www.piper.de/buecher/als-der-sommer-eine-farbe-verlor-isbn-978-3-8270-7699-1-ebook

 

Die Autorin:

»Maria Regina Heinitz, geboren 1968 in Isny (Allgäu), studierte Deutsche Sprache, Literatur und Französisch, arbeitete als Artbuyerin und Fotoproduzentin und erhielt 2009 den Literaturförderpreis der Kulturbehörde der Hansestadt Hamburg. Sie lebt in Hamburg.«
http://www.mariareginaheinitz.de/

QUERVERWEIS:

Eine feine Ergänzung zu diesem Roman ist das Sachbuch „Das bleibt in der Familie“ von Sandra Konrad, in dem die Risiken und Chancen transgenerationaler Übertragung einleuchtend dargestellt werden. Hier ist meine Besprechung dazu:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/08/07/das-bleibt-in-der-familie/

 

Leselebenszeichen-Datenschutzerklärung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/datenschutzerklaerung/

39 Kommentare zu “Als der Sommer eine Farbe verlor

  1. Vielen Dank für diese wunderbare und inspirierende Rezension! Werde mir gleich mal den Titel aufschreiben, der kommt dann auf meine – zugegebenerweise ewiglange – „will lesen“-Liste.
    Zusätzlich wollte ich mal wieder anmerken, wie schön ich deine Rezensionen geschrieben finde, so mühevoll und liebevoll und besonders schön anschaulich ebenfalls durch die farblichen Hervorhebungen 🙂

    LG, Maret

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    • Herzlichen DANK, liebe Maret,
      für Deine goßzügige Wohlgefallensäußerung zu meinen Rezensionen.
      Bei den farblichen Hervorhebungen kann sich die SYNÄSTHETIN in mir austoben 😉

      Ich bin mir sicher, daß Dir „Als der Sommer eine Farbe verlor“ mit seiner starken musischen Betonung zusagen wird.
      Mit verbindlicher Empfehlung
      Ulrike

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  2. Liebe Ulrike
    Herzlichen Dank für die berührende und neugierig machende Rezension auf dieses bezaubernde, poetische, sprach- und bildstarke Buch!
    Ich habe Ihren Blog vorletzte Woche „per Zufall“ entdeckt und mir das Buch letztens in meiner lokalen Buchhandlung geholt und innerhalb von zwei Tagen fertiggelesen. Ich konnte es einfach nicht mehr weglegen! Ich danke Ihnen auch dafür! Ich werde wiederkommen 🙂
    Herzlichst, Sani

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    • Liebe Sani,
      diese positive RESONANZ auf den Roman und auf meine Leselebenszeichen erfreut mein Herz.
      Vielen DANK für Ihre AUSDRÜCKLICHE Begeisterung und Zustimmung.
      Gutenachtgruß 🙂
      Ulrike

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  3. So manch einer muss weit reisen, um wiederzuentdecken, was in einer „heilen Welt“ selbstverständlich zu sein scheint: dass „Schwarz“ nicht Farblosigkeit bedeutet, und dass ihm „Weiß“ nie ganz verloren gehen kann.
    Wieder mal eine wunderbare, empathische Besprechung von dir, Ulrike! Feinst!

    Gruß von Michael

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    • Werter Arno von Rosen,
      lieben DANK für Dein Kompliment zu meiner Rezension. Dieses Buch ist ebenso schön wie substanziell und es hat eine durchgehend MUSISCHE Grundierung, die mir persönlich sehr gefällt.
      Blaublütige Grüße 😉
      Ulrike von Leselebenszeichen

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      • Ich habe einen Faible für „altmodische“ Wörter, da ich – zumindest UMGANGSFÖRMLICH – im falschen Jahrhundert gelandet bin.
        Gleichwohl wünsche ich Dir nun digital ein beglückendes Wochenende mit herzerfüllten Begegnungen * 🙂 *

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    • Liebe Erika,
      das freut mich für Deine erquicklichen Leseaussichten und für diesen feinen Roman, dem ich ganz viele geneigte Leser wünsche.
      Ich werde, sofern das Wetter mitspielt, im Garten, im Halbschatten eines Baumes auf dem Liegestuhl liegen und lesen, lesen, lesen ,gelegentlich den Singvögeln beim Badeplantschen zuschauen und zuhören (ich habe drei Vogel-„Schwimmbecken“) und Tee trinken …
      Auch Dir wünsche ich ein natürlich-entspanntes Wochenende, herzlich
      Ulrike

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      • Bei mir steht morgen Yoga-Workshop auf dem Programm. Und dann bekomme ich meinen Leihhund für 14 Tage als Ferienkind. Zum Lesen – ist immer Zeit! Bin gespannt, was du lesend entdecken wirst. Tschau

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