Emily Dickinson Gedichte

  • Emily Dickinson
  • Gedichte
  • englisch und deutsch
  • Herausgegeben, übersetzt
  • und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler
  • Carl Hanser Verlag 2006   www.hanser.de
  • in Leinen gebunden, Fadenheftung
  • mit Schutzumschlag
  • 560 Seiten, Dünndruck
  • 45 € (D), 46,30 € (A), 59,90 sFr.
  • ISBN 978-3-466-20782-0
    Dickinson

EIN  SCHWERER  SCHMETTERLING

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Emily Dickinson (1830 – 1886) hat einer – bis in unsere Tage – staunenden Nachwelt fast 1800 Gedichte und mindestens 1200 Briefe hinterlassen.

Ihre Gedichte erschließen sich nicht dem flüchtig-oberflächlichen Blick, sondern nur der verbindlich-zugewandten Lektüre. Doch dann öffnen sich wunderbare Bedeutungshorizonte, und man hört das Herzenspochen unsterblicher Poesie.

I dwell in Possibility –     
A fairer House than Prose –                          
More numerous of Windows – 
Superior – for Doors –  

Of Chambers as the Cedars –
Impregnable of eye –
And for an everlasting Roof    
The Gambrels of the Sky –

Of Visitors – the fairest –
For Occupaton – This – 
The spreading wide my narrow Hands 
To gather Paradise –   

Emily Dickinson: GEDICHT Nr. 466

Die vorliegende Gedichtsammlung enthält mehr als 600 Gedichte Emily Dickinsons im englischen Original und in deutscher Übersetzung. Dies ist die bisher umfangreichste Gedichtauswahl für deutsche Leser. Die chronologische Ordnung und Numerierung der Texte basiert auf dem aktuellen Stand der amerikanischen Forschung zu Emily Dickinson. Ralph W. Franklins »Reading Edition« aus dem Jahre 1999, in der jedes Gedicht stets nur in seiner letzten Fassung wiedergeben wird, bildet die Grundlage für diese deutsche Ausgabe.

Das einfühlsame Nachwort der Übersetzerin Gunhild Kübler informiert komprimiert über Emily Dickinsons Lebensumstände, Bezugspersonen, Brieffreundschaften sowie über die speziellen poetischen Besonderheiten der Dickinsonschen Lyrik und die komplizierte, verzögerte – von familiären Eingriffen und Streitigkeiten erschwerte – Editionsgeschichte.

Warum Emily Dickinson keine Veröffentlichung ihrer Gedichte angestrebt hat, werden wir wohl nie erfahren. Die Schriftstellerin Helen Hunt Jackson, mit der sie eine innige Brieffreundschaft verband, hat sie deutlich zur Publikation aufgefordert: »Du bist eine große Dichterin – und Du tust dem Tag unrecht, an dem Du lebst, wenn Du nicht laut singen willst(Seite 531)

Stattdessen verwahrte Emily Dickinson ihre Werke in einer Kommodenschublade. In die Welt schickte sie Abschriften ihrer Gedichte lediglich als Beilagen zu ihrer umfang- reichen und intensiv gepflegten Korrespondenz mit verschiedenen Brieffreunden.

So kam der Ruhm posthum, doch dafür umso nachhaltiger. Emily Dickinson wird inzwischen längst zu den größten englischsprachigen Dichtern gezählt. Mit dieser großzügigen Gedichtauswahl und einer so sensiblen Übersetzung, wie sie uns Gunhild Kübler hier vorlegt, kann die Dichterin nun auch ausführlicher von deutschsprachigen Leserinnen und Lesern entdeckt werden.

Auf Emily Dickinsons Gedichte muß man sich einlassen, sie sind eigenwillig und viel- schichtig. Obwohl diese Texte schon fast 150 Jahre alt sind, wirken sie jung und sehr lebendig – keineswegs angestaubt, sondern zeitlos herzensfrisch.

Wiederholte Lektüre und auch der Vergleich zwischen englischem Original und deutscher Übersetzung vertiefen das Verständnis der Texte und zugleich die Hoch- achtung für die tiefsinnige, poetische Übersetzungsleistung von Gunhild Kübler. Ich geriet beim Lesen in eine Art Wachtrance, als würde ich auf die Dichterin eingestimmt und mit ihrem Sprachkosmos vertraut gemacht.

Diese Gedichte sind erstaunlich ungezähmt, magisch, unkonventionell, rätselhaft, manchmal traurig, manchmal verspielt, liebesstolz und liebesweh, widersprüchlich, schonungslos, empfindsam, verwegen, geheimnisvoll und mehrdeutig.

Auch stilistisch geht Emily Dickinson sehr variabel und ausgesprochen originell vor – so verzichtet sie konsequent auf Gedichtüberschriften und erlaubt sich die Überschreitung von Sprach- und Grammatikregeln, wenn es der hintersinnigen Schreibabsicht dient.

Ein passender Oberbegriff für Emily Dickinsons Werk wäre wohl WEITE – alle Gedichte Emily Dickinsons ATMEN Weite. Diese Weite erstaunt umso mehr, wenn man bedenkt, daß die Dichterin ihr ganzes Leben in der Kleinstadt Amherst, Massachusetts, verbracht hat. Die weltferne Isolation der häuslichen „Beschränktheit“ und der puritanische familiäre Hintergrund haben Emily Dickinson nicht daran gehindert, ihren Geist fliegen zu lassen und das Große im Kleinen und das Kleine im Großen zu erkennen und ihrem lebhaften Fühlen und Denken zumindest sprachlich Gestalt zu geben.

Es gibt nur eine einzige Photographie von Emily Dickinson: Der Konvention der Zeit ent- sprechend trägt sie ein schlichtes, steifes schwarzes Kleid, das Haar ist streng geschei- telt und eng an den Kopf geschmiegt. Gestalt und Gesicht wirken zart, gleichwohl selbstbewußt-aufmüpfig; sie erscheint nonnenhaft, fast asketisch und zugleich zärtlich-verträumt und feenhaft. Emily Dickinsons Portrait changiert zwischen allerlei Gegensätzen.

So wie auch ihre Gedichte zwischen Kontrasten changieren. Sie changieren zwischen Lebensglut und Todessehnsucht, zwischen Einsamkeit und Verbundenheit, zwischen Liebessehnsucht und Selbstgenügsamkeit, Nähe und Distanz, Himmel und Erde, Desillusionierung und Träumerei, Schmerz und Heiterkeit, Präzision und Zauberspruch.

Wir lesen feine Naturbetrachtungen, zwischenmenschliche Auslotungen, Denkspiele, Klagelieder, radikale religiöse Infragestellungen, märchenhafte Minidramen, viel- stimmige Naturbilder, „liebesbriefige“ Gedichte, Psychogramme und lebensreife Weisheiten.

In folgendem Gedicht zeigt sich eine frühe bemerkenswert, ironisch-gelassene Unabhängigkeit von Publicity:

I‘ m Nobody! Who are you? 
Are you – Nobody – too?     
Then there’s a pair of us!    
Dont tell! they’d advertise – you know!    

How dreary – to be – Somebody!   
How public – like a Frog –  
To tell ons’s name – the livelong June – 
To an admiring Bog!      

Emily Dickinson: GEDICHT Nr. 260

In Anbetracht der Tatsache, daß Emily Dickinsons Gedichte zu ihren Lebzeiten nur im Verborgenen geblüht haben, mutet das folgende Gedicht geradezu prophetisch an, was den erst spät (posthum) erfolgten blühenden dichterischen Ruhm betrifft. Indes, vielleicht beschreibt dies Gedicht auch nur einen ersten Liebeskuß oder eine durchaus doppelsinnig-sinnliche Naturbetrachtung der Blütenbestäubung:

Come slowly – Eden!   
Lips unused to Thee –  
Bashful – sip thy Jessamines –  
As the fainting Bee – 

Reaching late his flower,    
Round her chambers hums –
Counts his nectars –   
Enters – and is lost in Balms. 

Emily Dickinson: GEDICHT Nr. 205

Es ist reizvoll, daß diese Lyrik solchermaßen in der Schwebe bleibt, sich nicht entblößt, sondern unser geduldiges, mitlesendes Einfühlen verlangt. Oder, wie Gunhild Kübler in ihrem Nachwort über die dichterische Ausstrahlung Emily Dickinsons so treffend schreibt:

Diese Erfahrung einer beinahe körperlich spürbaren Intoxikation macht unweigerlich, wer sich in Dickinsons Lyrik vertieft. Noch bevor sie ganz von Bewußtsein verstanden sind, ziehen diese Texte ihre Leser in einen inneren Dialog, der das Gedicht über den Abgrund seiner zeitlichen Entrücktheit hinweg aus dem Vorrat des persönlichen Erlebens ergänzt. Was erfrischend wirkt auf die eigenen Erfahrungskräfte und eine Steigerung der Lebensintensität mit sich bringt.“ (Seite 544)

Emily Dickinsons Gedichte haben uns viel zu sagen – es lohnt sich, über ihren seltsamen Verschwiegenheiten zu brüten, bis sich in uns selbst etwas davon offenbart.

 

Touch lightly Nature’s sweet guitar  
Unless thou know’st the Tune   
Or every Bird will point at thee  
Because a Bard too soon –   

Emily Dickinson: GEDICHT Nr. 1403

We never know we go when we are going-
We jest and shut the Door –
Fate – following – behind us bolts it –      
And we accost no more –         

Emily Dickinson: GEDICHT Nr. 1546

 

Die Übersetzerin:

»Gunhild Kübler studierte Anglistik und Germanistik und promovierte bei Peter von Matt. Sie lebt in Zürich. Ihre 2008 mit dem Paul-Scheerbart-Preis ausgezeichnete Dickinson-Auswahl enthält ein Drittel des Gesamtwerks

 

Die obig besprochene Ausgabe ist nicht mehr lieferbar, man ziehe also bitte die nachfolgend erwähnte Gesamtausgabe in wohlwollende Erwägung.
Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:

https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/saemtliche-gedichte/978-3-446-24730-7/

 

Für diejenigen Leserinnen und Leser, die noch mehr von Emily Dickinson lesen möchten, habe ich die erfreuliche Nachricht, daß am 23.2.2015 eine GESAMTAUSGABE ihrer Gedichte im Hanser Verlag erscheinen wird, in der erstmals ALLE Gedichte ins Deutsche übersetzt sind.

  • Emily Dickinson
  • Sämtliche Gedichte
  • Zweisprachig
  • Übersetzt von Gunhild Kübler
  • Nachwort von Gunhild Kübler
  • Herausgegeben von Gunhild Kübler
  • 1408 Seiten
  • 49,90 €(D), 51,30 € (A), 66,90 sFr.
  • ISBN : 978-3-446-24730-7

Nachfolgend ein Zitat aus der Verlagsvorankündigung:

»Die erste deutsche Gesamtausgabe von Emily Dickinsons rund 1800 Gedichten zeigt die ganze Vielfalt ihrer Themen, ihren Einfallsreichtum im Formalen und ihre überraschende Entwicklung. Ihr lyrisches Werk kam zu früh für ihre engstirnige puritanische Umgebung in den USA. Kein Wunder, dass Dickinson ihre Zeitgenossen auf Distanz und ihre Lyrik unter Verschluss hielt – ihre Gedichte sind voller Ketzerei und Spottlust, ihr Werk mutig, frei und radikal im Nachdenken über die Grundfragen unserer Existenz. Die Übersetzerin Gunhild Kübler zeichnet im Nachwort ein Bild vom Leben dieser großen amerikanischen Dichterin.«

 

Leselebenszeichen-Datenschutzerklärung: https://leselebenszeichen.wordpress.com/datenschutzerklaerung/

 

13 Kommentare zu “Emily Dickinson Gedichte

  1. Liebe Ulrike,
    ich muss diesen letzten Kommentar damals überlesen haben. Darfst du sagen, wie hoch die Lizenzgebühren für ein Gedicht gewesen wären? Weißt du generell, ob die einfach so nach Gefühl und Wellenschlag festgelegt werden dürfen? Ich frage mich sowieso oft, wie man denn den jeweiligen Ansprechpartner herausfindet, wenn man (wie du) den “ordentlichen” Weg gehen will.
    Liebe Grüße
    Christiane

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    • Liebe Christiane,
      an den exakten Preis kann ich mich nicht mehr erinnern, er lag jedoch im zweistelligen Bereich (ca. 50 €) und die Lizenz wäre auch nur für ein Jahr gültig gewesen. Ich hatte den Eindruck, daß der betreffende Verlag feste Pauschalen und Zeitbegrenzungen für diverse Lizenztypen hat. Außerdem muß man das wochenlang vor der Publizierung mit einem schriftlichen VERTRAG zwischen Verlag und Blogbetreiber regeln. Ich war auch baff, wie BÜROKRATISCH das ist.
      Ebenfalls abstrus fand ich das verlegerische Gegenargument, daß ein Blog ja ÖFFENTLICH sei und jeder sich aus dem Internet das Gedicht für unlautere Zwecke herausfischen könne.
      Wer fremde Texte mißbräuchlich nutzen will, kann ja auch in die öffentliche Bibliothek gehen und sich dort Bücher ausleihen und beliebige Texte kopieren. Keine Ahnung, wie Verlage dies verhindern oder kontrollieren wollen.
      Meine Ansprechpartner bei Verlagen sind in erster Linie die Presseabteilungsmitarbeiter, die ich mir von der jeweiligen Verlagswebseite „hole“. Für Lizenzfragen gibt es jedoch oft eigene Ansprechpartner, auch diese finden sich auf den Verlagswebseiten.

      Unbürokratische und nachtaktive Grüße von Ulrike

      PS:
      „Gefällt mir“ darfst Du klicken bis zum Abwinken 😉

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      • Liebe Ulrike,
        ich danke dir, besonders, dass das zeitlich geregelt ist, schockt mich jetzt. Mein Interesse ist nicht von ungefähr, ich kümmere mich um ein kleines Gedichtprojekt, dessen Autoren alle tot sind, aber einige noch unter die 70-Jahre-Frist fallen, und habe mich von daher schon gefragt, ob es nicht die Möglichkeit gäbe, die Gedichte früher „frei“ zu bekommen. Unter diesen Umständen allerdings nicht. Trotzdem unbefriedigend.
        Danke und liebe Grüße
        Christiane

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      • Die hier ausführlich von mir besprochene Ausgabe mit den ausgewählten Gedichten habe ich selbstverständlich gelesen und kann sie dementsprechend empfehlen. Ich würde jedoch jetzt – als Kennerin – durchaus die ganz frischgedruckte GESAMTAUSGABE von Emily Dickinsons Gedichten vorziehen, einfach weil es dann noch mehr Poesie fürs Geld gibt.
        Lyrische Grüße 😉

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  2. Kompliment für diesen schönen „runden“ Beitrag. Ich habe immer mal wieder einige Gedichte gelesen von ihr und genossen, bin aber von der Anschaffung des abgebildeten Hanser-Buches noch zurückgeschreckt. Ein wenig hat sich mir auch das, was ich von ihrem Leben weiß, vor ihre Gedichte gestellt in meiner Wahrnehmung. Ich warte jetzt mal das angekündigte neue Hanser-Buch ab (gut, dass ich das durch Dich erfahren habe), vielleicht dann ein neuer Anlauf, um ihre Gedichte aufzunehmen…

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    • Liebe Birgit,
      vielen DANK für Deine Wohlgefallensäußerung. Wie erfreulich, daß ich mit meiner Besprechung Dein Interesse an Emily Dickinsons Gedichten „reanimieren“ konnte. Ihre Gedichte sind sehr abwechslungsreich und die zweisprachige Lektüre ist unbedingt zu empfehlen, um sich angemessen auf sie einzuschwingen.
      Poetische Grüße
      Ulrike

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  3. Liebe Ulrike,
    was für ein wunderbarer Text über die Gedichte von Emily Dickinson. Ich gestehe, ich habe mit Deinem Text zum ersten Male auch Ihre Gedichte bewusst wahrgenommen. Bisher habe ich sie irgendwie immer ignoriert. Du hast sehr recht, diese Gedichte atmen Weite und eine Art Unabhängigkeit des Geistes, die man selten findet. Ich habe die von Dir zitierten Gedicht mehrmals langsam gelesen, sie betonen sich von selbst, es ist unglaublich, und dann entfalten sie einen regelrechten Sog. Sehr gespannt bin ich dann auf die deutschen Übersetzungen von Gunhild Kübler, und wie die beiden ‚Versionen‘ dann nebeneinander auskommen. – Für mich jedenfalls ein tolle Entdeckung und ich muss mir nun bloss noch überlegen, auf welches der beiden dicken Bücher ich mich stürzen soll.
    Vielen Dank für diesen schönen Beitrag und Liebe Grüsse
    Kai

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    • Lieber Kai,
      es freut mich sehr, daß ich Dich zu Emily Dickinsons Lyrik leseverführen konnte.
      Ich hätte die Gedichtbeispiele auch gerne zweisprachig in meine Besprechung eingefügt, aber dann wären Lizenzgebühren (für die Übersetzungen) fällig geworden und dies überschreitet einfach meinen „Haushaltungsplan“.
      Die zweisprachige Lektüre ist noch viel reichhaltiger und daher sehr zu empfehlen!
      Für mich war Emily Dickinson ebenfalls lange eine Lesewissenslücke. Ich bin in einem Roman von Matt Haig: „Ich und die Menschen“ (https://leselebenszeichen.wordpress.com/2014/04/01/ich-und-die-menschen/ ) auf Emily Dickinson aufmerksam geworden. Dort werden zwar nur einige Verse von ihr zitiert – indes war dies genug, um meine Lesefühler nach mehr von solcher Poesie auszustrecken.
      Poetische Grüße
      Ulrike

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