Der Ozean am Ende der Straße

  • von Neil Gaiman
  • Übersetzung aus dem Englischen
  • von Hannes Riffel
  • mit Schwarz-weiß-Illustrationen von Jürgen Speh
  • Eichborn Verlag 2014   http://www.eichborn.de
  • gebunden, mit Schutzumschlag
  • 238 Seiten
  • 18,00 € (D), 18,50 € (A)
  • ISBN 978-3-8479-0579-0
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ELASTISCHE  WIRKLICHKEITEN

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Wer undurchsichtige, rätselhafte und leicht schaurige Geschichten mag, ist beim „Ozean am Ende der Straße“ an der richtigen Adresse.

Der Ich-Erzähler, dessen Namen wir nie erfahren, besucht nach langer Abwesenheit den Wohnort seiner Kindheit, im ländlichen England in der Nähe der Stadt Sussex. Er fährt ihm noch vage vertraute Straßen entlang, registriert bauliche Veränderungen sowie Modernisierungen, und eher traumwandlerisch als bewußt folgt er einer alten Land- straße, die noch so aussieht wie in seiner Kindheit. Diese von wilden Hecken gesäumte und nicht asphaltierte Straße führt zu einem alten Backsteingebäude, dem Gehöft der Hempstocks.

Neugierig, ob die Hempstocks noch immer dort leben, klopft er an die Türe und wird von einer älteren Frau freundlich empfangen und tatsächlich als einstiger Spielgefährte ihrer Tochter Lettie wiedererkannt und zum Tee eingeladen.

Der Mann bittet um Erlaubnis, zuvor den Garten und den Ententeich, der hinter dem Haus liegt, besichtigen zu dürfen. Langsam keimen immer mehr Erinnerungen in ihm auf, und als er schließlich am Teichufer steht, fällt ihm wieder ein, daß seine kindliche Spielgefährtin stets behauptet habe, der Teich sei „der Ozean“.

Durch die nun folgende Rückblende erfahren wir, daß der Mann ein einsames, ver- träumtes Kind gewesen ist, mehr vertraut mit Büchern, als mit echten Freunden. Doch das ändert sich, als er Lettie Hempstock von der Hempstock Farm kennenlernt. Lettie ist mit ihren elf Jahren zwar fünf Jahre älter als der Junge, aber sie nimmt sich sehr herzlich seiner an.

In der Familie Hempstock herrscht ein geheimnisvoll-herzhaftes Matriarchat von Großmutter, Mutter und Tochter. Sie verfügen über magische Macht und magisches Wissen und machen dem Jungen gegenüber auch kein Geheimnis aus ihrem mehr- dimensionalen Repertoire. Vordergründig bewirtschaften sie einen Bauernhof, sie kochen und backen vorzüglich, und der Junge futtert sich glücklich an den einfachen, aber köstlichen Speisen, die er bei seinen Besuchen von den Hempstocks serviert bekommt.

Nach einen gefährlichen Ausflug in eine Art Nebenwelt, bei dem Lettie eine dunkle Gefahr zu bannen versucht, begreift der Junge, daß die normalen Grenzen von Raum und Zeit für die Hempstock-Frauen nicht gelten. Als er Lettie fragt, wie lange sie schon elf Jahre alt ist, lächelt sie nur unergründlich.

Im Verlauf der sich schnell dramatisch zuspitzenden, überaus spannenden Handlung erweist sich Lettie als seine größte Beschützerin und sogar Lebensretterin. Aber der Junge muß sich auch selbst tapfer wehren und lernt so manche Lektion über Angst, Mut, Verlust, Vertrauen, Verletzlichkeit und Lebenswillen.

In diesem Roman spielen die unterschiedlichen Wahrnehmungsproportionen von Kindern und Erwachsenen eine große Rolle, aber auch die unwillkürliche Variabilität des Erinnerns und Vergessens.

Die seltsame mehrdimensionale Durchdringung und Vorausschau, über welche die Hempstock-Frauen verfügen, spiegelt sich in der Romanstruktur wider. Man liest gebannt und gespannt. Obwohl die Geschichte endet, bleibt sie offen: Wirklichkeiten verwischen, Erinnerungen werden vergessen, Vergessenes wird wieder erinnert. Aber ist die Erinnerung wirklich wahr oder nur eine weitere Spielart des Vergessens? Manchmal kann das Nichtwissen heilsamer sein als das Wissen.

Wie Mrs. Hempstock zu sagen pflegt: Du kannst nicht alles wissen.(Seite 218)
Aber lesen können Sie alles. Wie Sie es deuten, bleibt Ihnen und Ihrer Phantasie überlassen.

Und wenn ein Ozean in einen Eimer paßt, dann paßt er erst recht in einen Ententeich – nicht wahr?

 
Eine schöne Zugabe zum Text sind die Schwarz-weiß-Illustrationen (Vektorgraphiken) von Jürgen Speh, die an 1960er-Comics erinnern und die Atmosphäre der Geschichte ausdrucksvoll untermalen.

Illustration OZEAN Seite 56

Illustration Jürgen Speh © Eichborn Verlag 2014

 

PS:

Die gebundene Ausgabe ist inzwischen vergriffen!

Hier entlang zum Taschenbuch und zur LESEPROBE auf der Verlagswebseite:
https://www.luebbe.de/bastei-luebbe/buecher/sonstige-belletristik/der-ozean-am-ende-der-strasse/id_5453710

Der Autor:

»Neil Gaiman hat über 20 Bücher geschrieben (darunter American Gods, Sternwanderer und Niemalsland) und ist mit jedem großen Preis ausgezeichnet worden, der in der englischen und amerikanischen Buch- und Comicszene existiert. Geboren und aufgewachsen ist er in England. Inzwischen lebt er in Cambridge, Massachusetts, und träumt von einer unendlichen Bibliothek.
Besuchen Sie den Autor unter: http://www.neilgaiman.com «

Querverweis:

Und hier folgt der Wink mit dem Link zu einem weiteren lesenswerten Werk von
Neil Gaiman: Das Graveyard Buch
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/02/20/das-graveyard-buch/

Im Graveyard Buch“ gibt es übrigens eine zauberhexenhafte Figur namens „Liza Hempstock“ – wahrscheinlich eine Ahnin oder Geistesverwandte  von Lettie Hempstock aus Der Ozean am Ende der Straße“…

 

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16 Kommentare zu “Der Ozean am Ende der Straße

  1. Hallo Ulrike, ist dir die Übersetzung irgendwie aufgefallen? In der Zeit wurde die ziemlich verrissen. Naja, ich lese es dann eh im Original, wobei ich noch andere Gaiman-Bücher auf dem Schirm habe, die wahrscheinlich zuerst dran sein werden 🙂

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    • Liebe Anette,
      die deutschsprachige Fassung war mir stilistisch gut genug. Ob diese Übersetzung dem Original gerecht wird, kann ich nicht beurteilen – ich verfüge zwar über gute Englischkenntnisse, aber ich stelle für eine Buchbesprechung keine Vergleiche zwischen Original und Übersetzung an. Abgesehen von meiner jüngsten Rezension der zweisprachigen Gedichtauswahl Emily Dickinsons (in der Übersetzung von Gunhild Kübler https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/02/18/emily-dickinson-gedichte/) überlasse ich Übersetzungslob- und Tadel lieber bildungsbürgerlichen ZEITungen 😉

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    • Herzlichen DANK für Dein herzliches Lob. Ich freue mich immer, wenn meine Liebesmüh‘ erkannt und wertgeschätzt wird.

      Eine kleine Frage bleibt allerdings noch offen: Was meinst Du denn mit: „warst …“? War dies ein Vertipper angesichts der nachtaktiven Kommentierzeit? 😉

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      • Lieber Nachtschwärmer,
        danke für die vokabulöse Aufklärung. Stehst Du immer so früh morgens auf?
        Ich bin leicht erschüttert, da ich nämlich noch im Winterschlafmodus bin 🙂

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      • Liebe Winterschläferin, derzeit ist das so, warum weiß ich auch nicht so genau…
        Aber wenn es Mutter Allnatur beliebt, dann füge ich mich eben *lächel*
        Vielen herzlichen Dank für dein Herumstöbern in Finbars Fundus *freu*

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      • Lieber Finbar,
        es hat ja durchaus seinen Reiz, den Tag früh zu beginnen – sofern man ausgeschlafen ist.
        Beim Herumstöbern in Deinem Fundus werde ich gewiß Wiederholungstäterin… Außerdem habe ich mich soeben Deiner Gefolgschaft angeschlossen 🙂

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  2. Hallo nochmal,
    erst gestern wurde ich überhaupt erst darauf aufmerksam gemacht, dass ein neuer Gaiman Roman erschienen ist. Allein der Autor ist für mich Grund genug dieses Buch lesen zu wollen, aber deine Rezi hat mich gleich noch mehr beflügelt 😉

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    • Liebe Georgia,
      ich bin erfreut, daß meine Rezension so gut bei Dir angekommen ist. Es ist ein angenehmes Gefühl, ein gutes Buch weitersagen zu dürfen und die passenden Leser und Leserinnen dafür ansprechen zu können 🙂

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  3. Liebe Ulrike

    Herzlichen Dank für die überaus freundlichen Worte und den Wink mit dem Link, dem ich sehr gerne gefolgt bin.

    Dauerhaft, wie du siehst.

    Die optischen Stichproben finden sich in allen Artikeln – mein Kopfkino, das sich beim Lesen und Schreiben abspielt.

    Ich bleibe nun am Ball deines Rezensentenstiftes…

    Herzlichst

    Arndt und die kleine literarische Sternwarte AstroLibrium

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    • Lieber Arndt,
      das nenne ich eine beinahe lichtgeschwinde Resonanz. Herzlichen DANK für die Gefolgsamkeit 😉 , die ich nun meinerseits auch mit Vergnügen erwidern werde.

      Auf Wiederlesen!

      Ulrike von Leselebenszeichen

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      • Lichtgeschwind bin ich nur in bibliophilen Resonanzwelten…. 😉 Gefolgsamkeit ist ein Gut, dem ich mich sehr verschrieben habe – Das einzige Verschreiben, das entschuldbar scheint…

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Sie dürfen gerne ein Wörtchen mitreden, wenn's konveniert!