Pandemonium

  • (chaos, wirrnis, tumult)
  • Band 2 der AMOR-Trilogie
  • von Lauren Oliver
  • Übersetzung aus dem Englischen von Katharina Diestelmeier
  • Carlsen Verlag 2012                      http://www.carlsen.de
  • 978-3-551-58284-3
  • 349 Seiten, 17,90 €
  • ab 14  Jahren
    9783551582843.jpg pandemonium

LIEBESWUND

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Eine kurze Rückblende zur Erinnerung an Band 1 ( „Delirium“ ):  Für die restriktive, diktatorische Gesellschaft, in der Lena lebt, ist die Liebe Staatsfeind Nummer 1. Liebe wird als Krankheit definiert, und diese Krankheit trägt den Namen „Deliria“ . Spätestens im Alter von 18 Jahren wird daher jeder durch einen neurologischen  Eingriff gegen „Deliria“ immunisiert. Für die sogenannten noch „ungeheilten“  Kinder und Jugendlichen herrscht strikte Geschlechtertrennung, um einem möglichen Aufkeimen der „Deliria“  keine Gelegenheit zu geben.

Dieser eingezäunten, zwanghaft gefühlskontrollierten städtischen Gesellschaft steht die Wildnis gegenüber. Dort leben die Menschen, die vor der Gesellschaft geflohen sind, weil sie sich ihr Gefühlsleben nicht verbieten und zurechtstutzen lassen wollen. Für die Gesellschaft gelten die Bewohner der Wildnis als „Invalide“.

Die Wilden wollen nicht nur anders leben, sie leisten auch aktiven Widerstand gegen die Gesellschaft. Sie sind Rebellen, organisieren Sabotageakte und verfügen über ein ausgeklügeltes Netzwerk von Sympathisanten sowie über sehr kreative Kommunikatons-  und Versorgungskanäle. Die Gesellschaft ist also bei weitem nicht so gleichgeschaltet und konform, wie sie sich gerne in der Öffentlichkeit darstellt.

Nachdem im ersten Band „Delirium“ das Liebespaar, Lena und Alex, auf der Flucht in die Wildnis äußerst gewaltsam getrennt worden ist und wir nicht wissen, ob Alex überhaupt noch unter den Lebenden weilt, beschreibt der zweite Band „Pandemonium“ fast ausschließlich Lenas weiteren „verwilderten“ Weg.

Lena irrt hilflos und verletzt durch die Wildnis und wird von Raven gefunden und zu einem der geheimen Stützpunkte der Rebellen getragen und dort gesund gepflegt. Der Stützpunkt befindet sich in den Kellergewölben einer  alten Kirche. Es gibt keinen Strom, kein fließendendes Wasser, außer am Fluß, und das Nahrungsmittelangebot ist bescheiden. Nach anfänglichen Anpassungsschwierigkeiten an die zwar freien und ungezwungenen, aber deutlich unbequemeren Lebensbedingungen fügt sie sich recht gut in ihre neue Wahlfamilie ein.

Ihr persönlicher Verlust schmerzt sie zutiefst, aber sie lernt von ihren Gefährten und Gefährtinnen, die Vergangenheit so still wie möglich ruhenzulassen und sich um das Überleben in der Gegenwart zu kümmern. Um mehr Abstand zur ihren jeweiligen alten Biographien zu bekommen, geben sich die meisten Einwohner der Wildnis sogar ganz neue Namen, und sie reden nur sehr selten und sparsam über ihre zurückgelassene Identität. Jeder, der in die Wildnis geflohen ist, hat mit einem sehr radikalen Schnitt sein altes Leben zurückgelassen. Alle haben an ihren ungeweinten Tränen und abschiedslosen Abschieden schwer zu tragen, dennoch oder gerade deshalb wollen sie für die Freiheit der Liebe kämpfen.

Außer den Rebellen und den Gesellschaftskonformen gibt es noch eine dritte Gruppierung, die Schmarotzer: ein anarchistischer, brutaler, krimineller Haufen, der keine neue Gesellschaftsordnung anstrebt, sondern nur den eigenen Vorteil und das eigene Überleben berücksichtigt. Da Solidaritätsprinzipien nicht zu ihren Vorlieben gehören, sind sie jedoch nicht so gut organisiert wie die Rebellen.

Zusammen  mit Raven und  ihrem Gefährten Tack  wird Lena von einem Rebellenstützpunkt in der Nähe von NY aus unter einer Tarnidentität wieder in die zivilisierte Gesellschaft eingeschleust.

Als Agentin des Widerstandes hat Lena den Auftrag, die „VDFA Vereinigung für ein Deliria-freies Amerika“  zu beobachten. Deren Gründer, Thomas Fineman, geht sogar noch einen Schritt weiter als die Regierung, denn er propagiert einen früheren Termin für den neurologischen Eingriff, der die Menschheit vor der Ansteckung durch „Deliria“ schützen soll. Für das Wohl der Mehrheit will er die Minderheit einfach opfern, die durch einen zeitlich vorgezogenen Einsatz des Heilmittels in Lebensgefahr geriete. Die alte Schallplatte vom Überleben der Besten, Gesündesten und Stärksten wird eifrig wiedergekäut.

Fineman ist sogar bereit, seinen eigenen Sohn, Julien, zu opfern. Julien Fineman hat seit seiner Kindheit schon mehrere Tumoroperationen überlebt, deshalb ist gerade für ihn der „Heilmitteleingriff“ ein großes Risiko.

Lena besucht eine öffentliche Versammlung, bei der Fineman seine übliche Propaganda abspult und zu einer Großkundgebung aufruft. Danach hält auch sein Sohn Julien eine mitreißende Rede und kündigt an, sich im Anschluß an die Kundgebung freudig seiner Heilungs-OP  hinzugeben –  als historischer Wegweiser zur Gesundheit der Gesellschaft.

Am Tag der Großdemonstration der VDFA ist es Lenas Aufgabe, Julien zu beschatten. Kaum hat die Kundgebung begonnen, da wimmelt es plötzlich von Schmarotzern. Julien und seine Leibwächter verschwinden in einem nahegelegenen stillgelegten U-Bahntunnel. Lena verfolgt Julien und wird schließlich mit ihm zusammen entführt und eingekerkert.

Die beiden Jugendlichen kommen sich zwangsläufig näher, und obwohl sie eigentlich Feinde füreinander sind, finden sich beide  –  zunächst heimlich und uneingestanden  –  sympathisch. Während der gefährlichen gemeinsamen Flucht und wechselseitigen Lebensrettungen keimt in Lenas Herzen eine neue Liebe auf, und Julien erlebt überhaupt zum ersten Mal das Herzklopfen der „Deliria“.  Julien ist auch gar nicht so angepaßt, wie es anfangs schien; er hat heimlich viele verbotene Bücher gelesen und sehnt sich nach einer anderen Art zu leben.

Im weitverzweigten U-Bahn-Tunnelsystem werden Lena und Julien von einer weiteren ungeahnten „Spezies“ vor ihren Verfolgern gerettet. Diese wortwörtliche Subkultur von ausgesetzten, körperbehinderten oder anderweitig nicht der gesellschaftlichen Gesundheitsnorm entsprechenden Menschen lebt zurückgezogen im Untergrund und folgt ihren eigenen Gesetzen.

Doch der Weg in die Freiheit stellt die Frischverliebten noch vor harte Bewährungsproben, Solidaritätskonflikte und ungeahnte Verstrickungen, bis sie einander in die Arme sinken dürfen.

Und damit wir uns jetzt nicht  –  genüßlich seufzend   –  auf einem Happy End ausruhen und der Spannungsfaden auch schön reißfest gespannt bleibt, erscheint auf der vorläufig letzten Seite der Geschichte  –  na, wer wohl? Dreimal dürfen Sie raten:  Liebesdreiecksdrama, ick hör‘ dir trapsen…

Lauren Olivers Jugendbücher haben einen sympathisch aufklärerischen Zug, der sich darin zeigt, daß die Personen größere gesellschaftliche Zusammenhänge und ihre eigene Mitwirkung daran erkennen. Der Wunsch nach Veränderung oder einer Revolution der Verhältnisse beginnt zwar bei der persönlichen Erfahrung von Unterdrückung und Not, geht aber letztlich weit über das jeweilige Einzelschicksal hinaus.

Auch das Problem aller Revolutionen, für ein idealistisches Zukunftsziel Menschenleben zu riskieren und zu opfern, wird von der Autorin glaubwürdig dargestellt.

Lena durchschaut, daß die Bekämpfung eines Feindes (oder Feindbildes) fast zwangsläufig zu einer gegenseitigen Spiegelung rücksichtsloser und unmenschlicher Verhaltensmuster führt: Es besteht die Gefahr, sich selbst in das zu verwandeln, was man eigentlich bekämpfen will.

Besonders bemerkenswert ist, daß Lena die innere Stärke und Entschlossenheit entwickelt, sich nicht nur von der Normgesellschaft zu emanzipieren, sondern auch von manchen Ansprüchen und Entscheidungen der Rebellen.

„Pandemonium“ ist eine sehr lesenswerte, spannende Fortsetzung von „Delirium“ , und die weibliche Hauptfigur ist ein ausgesprochen mutiges, tapferes und liebesfähiges Mädchen, an dessen Schicksal man gerne und mitbebend Anteil nimmt .

Hier folgt der Link zu meiner Besprechung des ersten Bandes:
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2013/04/03/delirium/

 

Die Autorin:

»Schon als Kind hat Lauren Oliver leidenschaftlich gern Bücher gelesen und dann Fortsetzungen dazu geschrieben. Irgendwann wurden daraus ihre eigenen Geschichten. Sie hat Philosophie und Literatur studiert und kurz bei einem Verlag in New York gearbeitet. Lauren Oliver lebt in Brooklyn.«

2 Kommentare zu “Pandemonium

Sie dürfen gerne ein Wörtchen mitreden, wenn's konveniert!