Alle meine Wünsche

  • von Grégoire Delacourt
  • Übersetzung aus dem Französischen
  • von Claudia Steinitz
  • Hoffmann und Campe, September 2012  http://www.hoffmann-und-campe.de
  • gebunden, mit Schutzumschlag
  • 126 Seiten
  • 978-3-455-40384-8
  •  15,99 € (D), 16,50 € (A), 21,50 sFr.
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H E R Z V E R S A G E N

Buchbesprechung von Ulrike Sokul ©

Meine ehrlich empfundene und wärmste Empfehlung zu diesem Buch: Bloß nicht lesen, sondern als Untersetzer benutzen!

Eine unerträglich liebeskümmerliche Geschichte! Das dem Text vorangestellte, Qualen beschwörende  ∗Zitat∗ hätte mir Warnung genug sein sollen, die Finger von diesem Buch zu lassen, aber ich habe mich vom wunderschönen Titelbild  und den enthusiastischen Lobesausrufezeichen auf dem hinteren Buchdeckel veranlaßt gefühlt, trotz meiner Vorahnung weiterzulesen.

*
»Alle Qualen sind erlaubt,
Alle Qualen sollen sein,
Man muss nur gehen,
Man muss nur lieben «

Le Futur intérieur,
Franςoise Leroy

*

Sprachlicher Feinsinn ist dem Büchlein zwar nicht abzusprechen, aber inhaltlich ist es doch ziemlich dürftig und ausgesprochen pseudotiefsinnig. So dürfte sich etwa schon ausreichend herumgesprochen haben, daß Geld nicht glücklich macht, sondern erst einmal nur reich.

Jocelyne ist 47 Jahre alt und Inhaberin eines nur mäßig florierenden Kurzwarenladens, aber sie mag ihre Arbeit und schreibt seit kurzem ein Blog über ihre alltäglichen Hand- arbeiten, über Stoffe, Spitzenbänder, Knöpfe  –  kurz, über die kleinen Freuden des Selbermachens und die Schönheit kleiner Dinge. Ihr Ehemann arbeitet als Facharbeiter bei Häagen-Dazs, die erwachsenen Kinder, ein Sohn und eine Tochter, führen ihr eigenes Leben in fernen Städten, und ihr Kontakt zu den Eltern ist minimal. Ein drittes Kind ist eine Totgeburt gewesen.

Schon auf den ersten Seiten können wir Joycelynes fadenscheiniges Selbstwertgefühl besichtigen, sie listet ihre angeblichen Schönheitsmängel auf. Bereits auf Seite 20 erzählt sie davon, wie sie nach dem ersten, nicht sehr romantischen Kuß ihres zukünftigen Ehemannes ihre Liebesträume aus ihrem Herzen entlassen hat. Bereits zu diesem Zeitpunkt verrät sie ihr eigenes Herz und belügt sich selbst.

Ihr Mann ist zuverlässig und treu, aber kaum in der Lage, Gefühle zu formulieren, obwohl er durchaus welche hat. Sein destruktiver Umgang mit dem Schmerz über das totgeborene dritte Kind, seine grobe Schuldzuweisung an Joycelyne, sie sei zu dick und hätte das Ungeborene mit ihrem Fett erstickt, illustrieren einen erschreckenden Mangel an Empathie und menschlicher Reife. Doch Joycelynes Opferbereitschaft ist trotz der auch sexuellen Grobheiten ihres Mannes nicht zu erschüttern. Man rauft sich wieder zusammen, es gibt kleine gemeinsame Freuden, aber eine gemeinsame Sprache finden die beiden nicht.

Jocelyne ist mit den Zwillingen vom benachbarten Frisörsalon befreundet; diese spielen seit Jahrzehnten Lotto und überreden Jocelyne, ihr Glück doch auch einmal zu wagen. Sie erwirbt ein Eurolottolos und gewinnt 18 Millionen Euro. Es gelingt ihr zwar, den Gewinn zu verheimlichen sie ist jedoch mit dem Geldsegen völlig überfordert und versucht, sich über ihre Wünsche klarzuwerden und die Konsequenzen des plötzlichen Reichtums zu überdenken.

Sie befürchtet, nicht mehr um ihrer selbst willen geliebt zu werden, und sie befürchtet, ihren Ehemann an das Geld und die damit verbundenen Möglichkeiten zu verlieren. Jocelyne kennt die Träume ihres Mannes: Flachbildschirm, Porsche Cayenne und was das Klischee sonst noch so hergibt.

Nicht daß die Wunschlisten, die sie probehalber selber verfasst, sonderlich origineller wären, sie sind nur bescheidener und beziehungsbezogener. Joycelyne versteckt den Gewinnscheck unter der Einlegesohle eines alten Schuhs und zieht ernsthaft in Erwägung, ihn nicht einzulösen, ja ihn sogar zu verbrennen. Sie bleibt im wahrsten Sinne des Wortes in ihren alten Schuhen stecken: die Angst der kleinen Leute vor dem großen Geld. Eigentlich ist sie doch ganz zufrieden mit ihrem Leben, ihr Blog kommt sehr gut an, ein Zeitungsartikel über ihr Blog bringt ihr viele neue Kundinnen, und von dem Geld, das sie mit der Werbeschaltung verdient, kann sie sich sogar eine Angestellte leisten.

Joycelyne kommt zu der Erkenntnis, daß vertrauensvolle zwischenmenschliche Beziehungen mehr wert sind als Geld. Auch der Ehemann zeigt sich neuerdings von ungewohnt zärtlicher und aufmerksamer Seite. Doch Jocelynes durchaus berechtigte Zweifel an der Liebesbeständigkeit ihres Mannes, ihre Anspruchslosigkeit, die Verheim- lichung des Gewinnes und die fehlende kommunikative Vertrauensbasis führen schließlich zwangsläufig zum Verrat.

Zufällig findet ihr Mann den Gewinnscheck, und eine Weile hofft er darauf, von ihr eingeweiht zu werden. Als dies nicht geschieht, ist er davon überzeugt, daß seine Frau den Scheck eher vernichten als einlösen werde, und das will er nicht zulassen. Er nimmt den Gewinnscheck und verschwindet nach Belgien, verpulvert 3 Millionen Euro, vergeht vor luxuriöser Einsamkeit und ermißt nach und nach, wie kostbar die Liebe seiner Ehefrau für ihn war.

Jocelyne leidet, magert ab und erreicht wieder Kleidergröße 38. Sie findet einen attraktiven Liebhaber, sie belebt den Kontakt zu ihrer Tochter, aber es gelingt ihr nicht, ihre lebenslange Opferhaltung zu überwinden und zu neuer Herzensgröße zu wachsen. Jocelyne bleibt gefangen in den gewohnten Leidensschleifen, sie ist unfähig, ihre Mit- wirkung an ihrer Lebenserfahrung wahrzunehmen. Sie hat sich von Anfang an selbst verraten, da ist der Verrat des Ehemannes nur folgerichtig und die Konsequenz ihrer selbstverleugnenden Duldsamkeit. Auch noch eine Belohnung für Bescheidenheit und Selbstverleugnung zu erwarten ist einfach dumm.

Nach 18 Monaten kommt ein Brief von Jocelynes Ehemann: ein Liebesbrief, eine Bitte um Vergebung und ein Scheck mit den verbliebenen immerhin noch 15 Millionen Euro. Aber es ist zu spät, Jocelynes Herz ist jetzt tiefgefroren.

So endet die Opferheldin Jocelyne mit ihrem kultivierten Liebhaber in einer Villa mit Meerblick, verteilt ein bißchen Geld und hört abends ihre Lieblingsarie aus Mozarts „Hochzeit des Figaro“ : „Dove sono i bei momenti di dolcezza e di piacer…“  Welch eine Leidensveredelung!

Jocelyne hat ihr Herz verschlossen und das Lächeln verlernt; ihre letzten beiden Sätze lauten:  „Ich werde geliebt. Aber ich liebe nicht mehr.“

Da haben wir also wieder eine Millionärin mit verarmtem Herzen. Kann man denn nur einmal im Leben lieben? Was soll die überflüssige Herzensenge? Sich quälen zu lassen und sich selbst zu quälen ist nicht tiefsinnig, sondern anstrengend! Und die Größe der Liebe an der Größe der Leidensbereitschaft zu messen ist ein Zeichen für akute Co-Abhängigkeit. Wieso gibt es keinen Therapeuten in diesem Buch?

Was mich stört, ja ärgert, ist die Bewußtlosigkeit der Personen in dieser Geschichte: die unzureichende Selbstreflexion, die mangelhafte Selbstliebe und der fehlende Weitblick über die eigene Person hinaus auf ein größeres Ganzes. Als gäbe es keine Welt zu retten, kreisen die Figuren nur um sich selbst: weder die maßlose Bescheidenheit der Frau noch die klischeehafte Luxusauslebung des Mannes sind interessant.

Mir hätte es gefallen, von jemandem zu lesen, der den nicht unbeträchtlichen gesell- schaftlichen Einflußfaktor Geld auch für gemeinwohlige Zwecke einsetzt, sich für etwas engagiert, z. B. Baugrundstücke aufkauft, um darauf Wälder zu pflanzen, jemand, der 100 Patenschaften für öffentliche Bücherschränke übernimmt oder jemand, der jedes Jahr täglich 1000 Euro spendet oder jemand, der Landwirten, die auf Bioanbau umstellen möchten, mit einer kräftigen Geldschenkung katalysatorisch unter die Arme greift oder jemand, der eine Stiftung für Permakultur gründet oder sonst etwas Kreatives, ökologisch, kulturell oder sozial Sinnvolles mit dem Geldsegen anfängt.

PS:
Auf Seite 84 steht übrigens geschrieben:  „Wir hatten Hochs und Tiefs wie alle Paare,…“  Falls dies kein Flüchtigkeitsfehler beim Übersetzen war, frage ich mich schon, was diese meteorologische Paarpsychologie mir sagen soll.

Hier entlang zum Buch auf der Verlagswebseite:
https://www.hoffmann-und-campe.de/buch-info/alle-meine-wuensche-buch-2446/

Der Autor:

»Grégoire Delacourt wurde 1960 im nordfranzösischen Valenciennes geboren. Sein Roman „Alle meine Wünsche“ ist in Deutschland und Frankreich ein gefeierter Bestseller und erschien in sechzehn Ländern. Im Frühjahr 2014 erschien im Verlag Hofmann und Campe sein neuer Roman  „ Im ersten Augenblick“.«

Querverweis:

Dieser Verriß ergänzt sich mit meinen Verriß von »Blaue Blumen« Blaue Blumen
sowie mit meinem polemischen Verrriß der »Feuchtgebiete« von Charlotte Roche Feuchtgebiete
und mit der liebesleeren Eiszeitlektüre »Dieses klare Licht in den Bergen«
Dieses klare Licht in den Bergen

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4 Kommentare zu “Alle meine Wünsche

    • Liebe Piri,
      selbstverständlich steht es Dir frei, wie Dir dieses Buch gefällt.
      Jeder hat seine persönliche Lesart!
      Es hat mich genervt, daß die weibliche Hauptfigur keine Entwicklung durchläuft, an den Herausforderungen nicht wächst, nichts dazulernt oder gar irgendetwas in Richtung SELBSTERKENNTNIS und HEILUNG unternimmt.
      Anstatt ihr Leid nach und nach zu verschmerzen, verschließt sie ihr Herz noch mehr, und das ist kein lebensdienliches und kein liebevolles Konzept. Das betäubt den Schmerz, ohne ihn zu erlösen und führt bei der nächsten Verletzung oder Erschütterung zu noch mehr Leiden.
      Das absolute Fehlen von HERZENSWACHSTUM und SELBSTMITGEFÜHL finde ich so überaus liebeskümmerlich an dieser „Liebesgeschichte“.

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  1. Ach herrje, so schlecht gleich? Ich gestehe, auch ich habe mich vom bezaubernden Cover bisher blenden lassen und bin davon ausgegangen, dass sich dahinter eine ebenso bezaubernde Geschichte verbirgt. Weitgefehlt! Ich sollte wohl die Finger davon lassen und es schleunigst von meiner Wunschliste streichen. Für Herzversagen hab ich keine Zeit! 😉

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    • Eine kluge Entscheidung, auch wenn es viele gibt, die dieses Buch mögen. Ich schreibe SELTEN Verrisse, aber wenn, dann richtig SAFTIG. Das dient mir als Blitzableiter für die Lesezeitverschwendung. Noch bissiger und lustiger ist mein Verriss der „Feuchtgebiete“:

      Feuchtgebiete

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